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in das Haus da drüben, das früher das Kasino von Sewastopol war und auf dessen Vortreppe jetzt Soldaten mit Tragbahren stehen, – dort werdet ihr die Verteidiger Sewastopols finden, dort werden sich euren Augen entsetzliche und traurige, erhabene und unterhaltende, immer aber Erstaunen erregende, die Seele erhebende Szenen bieten.

      Ihr betretet den großen Versammlungssaal. Gleich beim Öffnen der Tür erschreckt euch der Anblick und der Geruch von vierzig bis fünfzig amputierten und auf das schwerste verwundeten Kranken, von denen einige auf Pritschen, die meisten aber auf dem Fußboden liegen. Gebt dem Gefühl nicht nach, das euch auf der Schwelle zurückhalten möchte, – es ist ein häßliches Gefühl; geht nur weiter, schämt euch nicht, daß ihr gekommen seid, gleichsam um die Leidenden »anzuschauen«, schämt euch nicht, zu ihnen zu treten und mit ihnen zu sprechen: die Unglücklichen sehen gern ein teilnehmendes Menschenantlitz, erzählen gern von ihren Leiden und hören gern Worte der Liebe und des Mitgefühls. Geht zwischen den Lagerstätten hindurch und sucht ein Antlitz, das weniger streng und von Schmerzen gequält aussieht und das euch den Mut gibt, näherzutreten, um mit dem Kranken zu sprechen.

      »Wo bist du verwundet?« fragt ihr unsicher und zaghaft einen alten, abgemagerten Soldaten, der, auf seiner Pritsche sitzend, euch mit gutmütigem Blicke folgt und euch aufzufordern scheint, zu ihm zu kommen. Ich sage: »unsicher und zaghaft«, denn Leiden flößen nicht nur tiefes Mitgefühl ein, sondern auch eine gewisse Angst vor der Möglichkeit zu beleidigen und eine hohe Achtung vor dem, der sie erduldet.

      »Am Bein,« antwortete der Soldat, und im selben Augenblick bemerkt ihr selbst an den Falten der Decke, daß ihm das eine Bein bis über das Knie fehlt. »Gottlob,« fügt er hinzu, »jetzt werd' ich aus dem Lazarett entlassen.«

      »Und ist's schon lange, daß du verwundet wurdest?«

      »Die sechste Woche ist's jetzt, Euer Wohlgeboren!«

      »Was schmerzt dich denn jetzt?«

      »Jetzt schmerzt gar nichts, nein; nur bei schlechtem Wetter ist mir's, als wenn's in der Wade bohren tät', – sonst nichts.«

      »Wie wurdest du denn verwundet?«

      »Auf der fünften Bastion war's, Euer Wohlgeboren, als das erste Bombardement war: ich hatte die Kanone gerichtet, wollte weitergehen, so auf diese Art, wollte zur nächsten Schießscharte, da traf er mich ins Bein; es war, als ob ich in ein Loch getreten wäre, – ich schau hin, und das Bein ist fort.«

      »Hat es denn in diesem ersten Moment gar nicht weh getan?«

      »Nein; es war nur, als ob etwas Heißes an mein Bein stoße.«

      »Nun und dann?«

      »Auch dann war weiter nichts; nur als man die Haut straff zu ziehen anfing, da war's, als sei alles wund. Die Hauptsache, Euer Wohlgeboren, ist: an nichts denken; wenn man nicht denkt, fehlt einem nichts. Es kommt alles nur daher, daß der Mensch denkt.«

      Da tritt eine Frau in grauem, gestreiftem Kleide und mit einem schwarzen Tuch um den Kopf heran; sie mischt sich ins Gespräch und beginnt von dem Matrosen zu erzählen, von seinen Leiden, von dem verzweifelten Zustande, in dem er sich vier Wochen hindurch befunden, und wie er, schwerverwundet, die Tragbahre hatte halten lassen, um die Salve unserer Batterie zu beobachten, wie die Großfürsten mit ihm gesprochen und ihm fünfundzwanzig Rubel geschenkt, und wie er ihnen gesagt, daß er auf die Bastion zurück wolle, um wenigstens die Jungen zu unterweisen, wenn er auch selbst nicht mehr arbeiten könne. Während die Frau das alles in einem Atem hervorsprudelt, blickt sie bald auf euch, bald auf den Matrosen, der – abgewandt und als ob er gar nicht zuhöre – auf seinem Kopfkissen Charpie zupft, und ihre Augen leuchten in eigenartiger Begeisterung.

      »Es ist meine Hausfrau, Euer Wohlgeboren!« bemerkt der Matrose mit einem Ausdruck, als wollte er sagen: »Sie müssen schon entschuldigen. Man weiß ja – dummes Zeug zu schwätzen ist nun einmal Weibersache!«

      Ihr fangt an, die Verteidiger Sewastopols zu verstehen, euch ist, als müßtet ihr euch vor diesem Manne schämen. Ihr möchtet ihm gar vieles sagen, um ihm euer Mitgefühl und euere Bewunderung auszudrücken; aber ihr findet keine Worte oder seid nicht zufrieden mit denen, die euch einfallen, und ihr beugt euch stumm vor dieser verschwiegenen, uneingestandenen Größe und Geistesstärke, vor dieser verschämten Würde.

      »Nun, gebe Gott, daß du dich bald erholst,« sprecht ihr und bleibt dann vor einem anderen Kranken stehen, der auf dem Fußboden liegt und in unerträglichen Leiden den Tod zu erwarten scheint.

      Es ist ein blonder Mann mit aufgeschwollenem, blassem Gesicht. Er liegt auf dem Rücken, den linken Arm zurückgeworfen, in einer Stellung, die bittere Qualen verrät. Der trockene, geöffnete Mund stößt nur mühsam den röchelnden Atem aus; die blauen, matten Augen sind nach oben gedreht, und unter der verschobenen Decke ragt der verbandagierte Stumpf des rechten Armes hervor. Der schwere Totengeruch fällt euch noch stärker auf als vorhin, und die verzehrende innerliche Glut, die alle Glieder des Dulders durchdringt, scheint sich euch mitzuteilen.

      »Ist er bewußtlos?« fragt ihr die Frau, welche euch folgt und euch freundlich, wie Verwandte, anblickt.

      »Nein, er hört noch, aber er ist sehr schlecht dran,« fügt sie flüsternd hinzu; »ich hab' ihm heute Tee zu trinken gegeben, – na ja, wenn er mir auch fremd ist, man muß doch Mitleid haben! – er hat aber fast gar nichts getrunken.«

      »Wie geht es dir?« fragt ihr ihn.

      Der Verwundete bewegt auf diese Frage die Pupillen, aber er sieht und versteht euch nicht.

      Etwas weiter seht ihr einen alten Soldaten, der eben die Wäsche wechselt. Sein Gesicht und sein Körper sind fast ziegelfarben und zum Skelett abgemagert. Der eine Arm fehlt ihm gänzlich: er ist ihm an der Schulter abgenommen worden. Der Alte sitzt aufrecht da, er befindet sich auf dem Wege der Besserung, aber der tote, glanzlose Blick, die entsetzliche Magerkeit und die Furchen im Gesicht lasten erkennen, daß ihr einen Menschen vor euch habt, der die größere Hälfte seines Lebens schon durchlitten hat.

      Auf der andern Seite seht ihr auf einer Pritsche das bleiche und zarte Dulderantlitz einer Frau, auf deren Wangen die Fieberröte spielt.

      »Unsere Matrosenfrau, – am fünften ist ihr eine Bombe ans Bein geflogen,« erklärt eure Führerin, »sie brachte ihrem Manne das Mittagessen auf die Bastion.«

      »Hat man das Bein amputiert?«

      »Ja, überm Knie.«

      Und nun, wenn eure Nerven stark sind, geht durch die Tür links: in jenem Zimmer werden die Verwundeten verbunden und operiert. Ihr werdet dort Ärzte sehen mit bis zu den Ellbogen mit Blut befleckten Armen und blassen, finsteren Gesichtern; sie machen sich an einer Pritsche zu schaffen, auf welcher mit offenen Augen und wie im Fieber sinnlose, bisweilen einfache und rührende Worte sprechend, ein Verwundeter im Chloroformschlafe liegt. Die Ärzte sind mit der widerwärtigen, aber wohltätigen Arbeit des Amputierens beschäftigt. Ihr werdet sehen, wie ein scharfes, gebogenes Messer in das weiße, gesunde Fleisch dringt, werdet sehen, wie der Verwundete plötzlich mit einem entsetzlichen, herzzerreißenden Schrei und mit Verwünschungen zu sich kommt, und wie der Feldscher den abgeschnittenen Arm in eine Ecke wirft; ihr werdet sehen, wie in demselben Zimmer ein anderer Verwundeter auf einer Tragbahre liegt und, der Operation des Kameraden zuschauend, sich windet und stöhnt, nicht so sehr wegen des physischen Schmerzes als in der Qual der Erwartung; ihr werdet schreckliche, die Seele erschütternde Szenen sehen, – nicht den Krieg in regelmäßigen, schönen und glänzenden Reihen mit Musik und Trommelklang, mit wehenden Fahnen und umhergaloppierenden Reitergenerälen, sondern den Krieg in seiner wahren Gestalt, – in Blut, in Leid und Tod ...

      Wenn ihr dieses Haus der Qualen verlasset, werdet ihr jedenfalls mit Wonne die frische Luft voll einatmen, werdet euch mit Freuden der eigenen Gesundheit bewußt werden, aber ihr werdet aus dem Anblick dieser Leiden auch das Bewusstsein eurer Nichtigkeit geschöpft haben und nun ruhig, ohne Wanken, auf die Bastionen gehen.

      »Was sind Tod und Leiden eines so nichtigen Wurmes, wie ich es bin, im Vergleich zu den Leiden und dem Tode so vieler!« Aber der Anblick des klaren Himmels, der leuchtenden Sonne, der hübschen

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