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ihm mit seinem Stab einen Schlag auf den Kopf, um ihn aufzuwecken, und einen anderen über den Rücken, um ihn munter zu machen. Dann befahl er ihm, ihm zu folgen, und führte ihn in ein großes weißgetünchtes Zimmer, in dem acht bis zehn wohlbeleibte Herren um einen Tisch herumsaßen. Oben am Tische saß in einem Armstuhl, der höher war als die übrigen, ein besonders wohlgenährter Herr mit einem sehr runden, roten Gesichte.

      »Mache dem Kollegium eine Verbeugung,« sagte Bumble. Oliver zerdrückte zwei oder drei Tränen in seinen Augen, und da er kein Kollegium, sondern nur den Tisch sah, so machte er vor diesem eine wohlgelungene Verbeugung.

      »Wie heißt du, Junge?« begann der Herr auf dem großen Stuhle.

      Oliver zitterte, denn der Anblick so vieler Herren brachte ihn gänzlich außer Fassung; Bumble suchte ihn durch eine kräftige Berührung mit dem Kirchspieldienerstab zu beleben, und er fing an zu weinen. Er antwortete daher leise und zögernd, worauf ihm ein Herr in weißer Weste zurief, er wäre ein dummer Junge, was ein vortreffliches Mittel war, ihm Mut einzuflößen.

      »Junge,« sagte der Präsident, »höre, was ich dir sage. Du weißt doch, daß du eine Waise bist?«

      »Was ist denn das, Sir?« fragte der unglückliche Oliver.

      »Er ist in der Tat ein dummer Junge – ich sah es gleich,« sagte der Herr mit der weißen Weste sehr bestimmt.

      »Du wirst doch wissen,« nahm der Herr wieder das Wort, der zuerst gesprochen hatte, »daß du weder Vater noch Mutter hast und vom Kirchspiel erzogen wirst?«

      »Ja, Sir,« antwortete Oliver, bitterlich weinend.

      »Was heulst du?« fragte der Herr mit der weißen Weste; und es war in der Tat höchst auffallend, daß Oliver weinte. Was konnte er denn für eine Veranlassung dazu haben?

      »Ich hoffe doch, daß du jeden Abend dein Gebet hersagst,« fiel ein anderer Herr in barschem Tone ein, »und für diejenigen, die dir zu essen geben und für dich sorgen, betest, wie es sich für einen Christenmenschen ziemt.«

      »Ja, Sir,« stotterte Oliver.

      »Wir haben dich hierher bringen lassen,« sagte der Präsident, »damit du erzogen werden und ein nützliches Geschäft lernen sollst. Du wirst also morgen früh um sechs Uhr anfangen, Werg zu zupfen.«

      Für die Vereinigung dieser beiden Wohltaten in der einfachen Beschäftigung des Wergzupfens machte Oliver unter Nachhilfe des Kirchspieldieners eine tiefe Verbeugung und ward dann eiligst in einen großen Saal geführt, wo er sich auf einem rauhen, harten Bette in den Schlaf weinte. Welch ein ehrenvolles Licht fällt hierdurch auf die milden Gesetze Englands! Sie gestatten den Armen, zu schlafen!

      Armer Oliver! Als er so in glücklicher Unbewußtheit seiner ganzen Umgebung schlafend dalag, dachte er nicht daran, daß das Kollegium an ebendemselben Tage zu einer Entscheidung gelangt war, die den größten Einfluß auf seine künftigen Geschicke ausüben sollte. Die Sache verhielt sich nämlich folgendermaßen: Die Mitglieder des Kollegiums waren sehr weise, den Dingen auf den Grund gehende, philosophisch gebildete Männer, und als sie dazu kamen, ihre Aufmerksamkeit dem Armenhause zuzuwenden, fanden sie mit einem Male, was gewöhnliche Sterbliche niemals entdeckt hatten. Den Armen gefiel es darin nur zu gut! Es war ein regelrechter Unterschlupfsort für die ärmeren Klassen, ein Gasthaus, in dem man nichts zu bezahlen hatte – ein Ort, an dem man das ganze Jahr hindurch auf öffentliche Kosten das Frühstück, das Mittagessen, den Tee und das Abendbrot einnehmen konnte – ein Elysium aus Ziegeln und Mörtel, in dem nur gescherzt und gespielt, aber nicht gearbeitet wurde. »Oho,« sagte das Kollegium, »wir sind die richtigen Männer, um hier Ordnung zu schaffen!« So ordneten sie denn an, daß alle Armen die Wahl haben sollten (denn sie wollten um alles in der Welt niemand zwingen), langsam in oder rasch außer dem Hause zu verhungern. In dieser Absicht schlossen sie mit den Wasserwerken einen Vertrag über die Lieferung einer unbegrenzten Menge Wasser und mit einem Getreidehändler einen ebensolchen über die in großen Zwischenräumen erfolgenden Lieferungen von kleinen Mengen Hafermehl ab und gaben täglich drei Portionen eines dünnen Mehlbreis aus; außerdem wurde zweimal wöchentlich eine Zwiebel und des Sonntags eine halbe Semmel gereicht.

      Die ersten sechs Monate nach der Aufnahme Oliver Twists war das System in vollem Gange. Das Gemach, in welchem die Knaben gespeist wurden, war eine Art Küche, und der Speisemeister, unterstützt von ein paar Frauen, teilte ihnen aus einem kupfernen Kessel am unteren Ende ihre Haferbreiportionen zu, einen Napf voll und nicht mehr, ausgenommen an Sonn- und Feiertagen, wo sie auch noch ein nicht eben zu großes Stück Brot bekamen. Die Näpfe brauchten nicht gewaschen zu werden, denn sie wurden mit den Löffeln der Knaben so lange poliert, bis sie wieder vollkommen blank waren; und auch an den Löffeln und Fingern blieben Speisereste niemals hängen. Kinder pflegen eine vortreffliche Eßlust zu besitzen. Oliver und seine Kameraden hatten drei Monate die Hungerdiät ausgehalten, vermochten sie nun aber nicht länger mehr zu ertragen. Ein für sein Alter sehr großer Knabe, dessen Vater ein Garkoch gewesen, erklärte den übrigen, daß er, wenn er nicht täglich zwei Näpfe Haferbrei bekomme, fürchten müsse, über kurz oder lang seinen Bettkameraden, einen kleinen, schwächlichen Knaben, aufzuessen. Seine Augen waren verstört und rollten wild. Die halbverhungerte Schar glaubte ihm, hielt einen Rat, loste darum, wer nach dem Abendessen zum Speisemeister gehen und um mehr bitten solle, und das Los traf Oliver Twist.

      Der Abend kam, der Speisemeister stellte sich an den Kessel, der Haferbrei wurde ausgefüllt und ein breites Gebet über der schmalen Kost gesprochen. Die letztere war verschwunden, die Knaben flüsterten untereinander, winkten Oliver, und die zunächst Sitzenden stießen ihn an. Der Hunger ließ ihn alle Bedenklichkeiten und Rücksichten vergessen. Er stand auf, trat mit Napf und Löffel vor den Speisemeister hin und sagte, freilich mit ziemlichem Beben: »Bitt' um Vergebung, Sir, ich möchte noch ein wenig.«

      Der wohlgenährte, rotwangige Speisemeister erblaßte, starrte den kleinen Rebellen wie betäubt vor Entsetzen an und mußte sich am Kessel festhalten. Die Frauen waren vor Erstaunen, die Knaben vor Schreck sprachlos. »Was willst du?« fragte der Speisemeister endlich mit schwacher Stimme. Oliver wiederholte unter Furcht und Zittern seine Worte, und nunmehr ermannte sich der Speisemeister, schlug ihn mit dem Löffel auf den Kopf und rief laut nach dem Kirchspieldiener.

      Das Armenkollegium war eben versammelt, als Mr. Bumble in großer Erregung hereinstürzte und, zu dem Herrn auf dem hohen Stuhle gewandt, sagte: »Mr. Limbkins, ich bitte um Verzeihung, Sir! Oliver Twist hat mehr gefordert.«

      Das Kollegium war starr. Entsetzen über eine solche Frechheit malte sich auf allen Gesichtern.

      »Mehr!« erwiderte Mr. Limbkins. »Fassen Sie sich, Bumble, und antworten Sie mir klar und deutlich. Verstehe ich recht, daß er mehr gefordert hat, nachdem er die von dem Direktorium festgesetzte Portion verzehrt hatte?«

      »Jawohl, Sir,« entgegnete Bumble.

      »Denken Sie an mich, Gentlemen,« sagte der Herr mit der weißen Weste, »der Knabe wird dereinst gehängt werden.«

      Niemand widersprach dieser Prophezeiung. Es entspann sich eine lebhafte Diskussion. Oliver wurde auf Befehl des Kollegiums sofort eingesperrt und am nächsten Morgen wurde ein Anschlag an die Außenseite des Tores geklebt, in dem jedermann, der Oliver Twist zu sich nehmen wollte, die Summe von fünf Pfund zugesprochen wurde – mit anderen Worten, man bot Oliver Twist um fünf Pfund an jedermann aus, sei es Mann oder Frau, der einen Lehrling oder Laufburschen brauchte, gleichviel wer und in welchem Handwerke oder Geschäfte.

      Kapitel 3

      Berichtet, wie Oliver Twist nahe dran war, eine Anstellung zu bekommen, welche keine Sinekure gewesen wäre

      Wenn es Oliver darum zu tun gewesen wäre, die Prophezeiungen des Herrn mit der weißen Weste selbst wahr zu machen, so hätte er zum wenigsten Zeit genug dazu gehabt; denn er blieb acht Tage lang eingesperrt. Allein um sich im Gefängnis zu erhängen, fehlte ihm erstlich ein Taschentuch – denn Taschentücher waren als Luxusartikel verpönt – und zweitens war er noch zu sehr Kind. Er weinte daher nur den langen Tag über, und wenn die lange, grausige Nacht kam, so deckte er seine Händchen

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