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Die schönsten Weihnachtsgeschichten II. Charles Dickens
Читать онлайн.Название Die schönsten Weihnachtsgeschichten II
Год выпуска 0
isbn 9783753127866
Автор произведения Charles Dickens
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Das blinde Mädchen erfuhr nie, daß die Decke verblichen, die Wände schwarz und stellenweise vom Mörtel entblößt waren; daß große Risse sich gebildet hatten und mit jedem Tag sich erweiterten; daß die Balken vermoderten und sich senkten. Das blinde Mädchen erfuhr nie, daß auf den Wandborden nur die häßlichen Gestalten von Töpferwaren standen; daß Sorge und Mutlosigkeit im Hause waren; daß Kalebs spärliche Haare vor ihren erloschenen Augen grauer und immer grauer wurden. Das blinde Mädchen erfuhr nie, daß sie einen kalten, anspruchsvollen, gefühllosen Herrn hatte, kurz, daß Tackleton Tackleton war, sondern lebte in dem Glauben an einen gutmütigen Kerl, der gern seinen Spaß mit ihnen trieb, und der, während er der Schutzengel ihres Daseins war, es verschmähte, ein Wort der Dankbarkeit von ihnen zu hören.
Und das alles war Kalebs Werk, das Werk ihres schlichten Vaters! Aber auch er hatte ein Heimchen an seinem Herde; und als er einst, da das mutterlose blinde Kind noch sehr jung war, mit schwerem Herzen auf sein Zirpen lauschte, da hatte ihm dieser Schutzgeist den Gedanken eingeflößt, daß selbst ihr großes Unglück fast in einen Segen verwandelt und das Mädchen mit diesem traurigen Mittel glücklich gemacht werden könne. Denn das ganze Heimchengeschlecht besteht aus mächtigen Geistern, wenn auch die Menschen, die mit ihnen verkehren, es fast nie wissen (und dies ist häufig der Fall); und es gibt in der unsichtbaren Welt keine lieblicheren und wahreren Stimmen, denen man bedingungsloser vertrauen könnte, und die so sicher nur den liebevollsten Rat erteilen, als die Stimmen, deren sich die Schutzengel des häuslichen Herdes in ihrem Verkehr mit dem Menschengeschlecht bedienen.
Kaleb und seine Tochter waren zusammen bei der Arbeit in ihrer gewöhnlichen Arbeitsstube, die ihnen auch als Wohnstube diente. Und ein merkwürdiger Ort war es. Da standen Häuser, fertige und halbfertige, für Puppen jeden Ranges. Vorstadthäuser für Puppen von beschränkten Mitteln; Küchen und einzelne Zimmer für Puppen der niederen Klassen; großstädtische Paläste für Puppen aus vornehmen Kreisen. Einige dieser Wohnungen waren bereits möbliert, je nach den Verhältnissen und dem Geschmack von Puppen von beschränktem Einkommen; andere konnten in kürzester Frist auf das kostspieligste eingerichtet werden; man brauchte nur von den Gestellen Stühle, Tische, Sofas, Bettstellen, und was sonst zu einer fein möblierten Wohnung gehört, herunterzunehmen. Der hohe und niedere Adel und das große Publikum, für die diese Wohnungen bestimmt waren, lagen da und dort, die Augen starr nach der Decke gerichtet, in Körben herum; aber je nachdem die Verfertiger dieser Puppen ihnen die verschiedenen Stufen auf der gesellschaftlichen Leiter anwiesen und jeden auf seinen entsprechenden Platz stellten – was, wie die Erfahrung lehrt, im wirklichen Leben beklagenswert schwierig ist – waren sie weit geschickter gewesen, als die Natur, die oft so launisch und verderbt ist; denn statt sich mit so willkürlichen Unterscheidungen wie Atlas, Kattun und Lumpen zu begnügen, hatten sie auffällig persönliche Unterscheidungen, bei denen ein Irrtum ausgeschlossen war, hinzugefügt. So hatte die Puppendame von vornehmer Herkunft Wachsglieder von vollendetem Ebenmaß – ein Vorzug, wie er nur ihr und ihren Adelsgenossen gebührte. Der nächste Grad auf der gesellschaftlichen Leiter war von Leder, und wieder der nächste von grober Leinwand. Was das gemeine Volk betraf, so war das Material zu ihren Armen und Beinen aus Streichholzbüchsen genommen – und so stand es nun da, von Anbeginn in die ihm zukommende Sphäre gewiesen, ohne die Möglichkeit, je aus derselben herauszukommen.
Außer den Puppen enthielt Kalebs Zimmer noch verschiedene andre Proben seiner Kunstfertigkeit. Da waren Archen Noahs, in denen Vögel und Tiere ungewöhnlich eng untergebracht waren, das kann ich euch versichern; obwohl sie durch ein Loch im Dach hineingestopft waren, so konnten sie doch auf einen beliebig kleinen Raum zusammengeschüttelt und gerüttelt werden. Vermöge einer erfinderischen poetischen Freiheit hatten die meisten dieser Noahsarchen Klopfer an den Türen – wenig passende Anhängsel vielleicht, da sie an Morgenbesuche und Briefträger erinnerten; indes gaben sie in netter Weise dem Äußeren des Gebäudes die Schlußzierde. Da waren ganze Schocke melancholischer kleiner Karren, die, wenn die Räder sich drehten, eine höchst klägliche Musik machten. Viele kleine Geigen, Trommeln und andere Folterwerkzeuge, auch eine unzählige Masse von Kanonen, Schilden, Schwertern, Lanzen und Flinten. Da waren kleine Purzelmännchen in roten Hosen, die unaufhörlich an hohen aufgespannten roten Bändern hinaufkletterten und auf der anderen Seite kopfüber wieder herunterkamen; da waren auch unzählige alte Herren von hochachtbarem, um nicht zu sagen ehrwürdigem Äußeren, die sich wie toll um wagerechte Pflöcke herumschwangen, die einzig zu diesem Zwecke mitten in ihrer Haustüre angebracht waren. Da waren Tiere jeder Gattung, besonders Pferde jeder Rasse, von gefleckten Zylindern auf vier Pflöckchen, mit einem kleinen Streifchen als Mähne, bis zu Vollblutswiegenpferden von feurigstem Temperament. Es wäre schwer gewesen, die Dutzende und Aberdutzende seltsamer Figuren zu zählen, die allezeit bereit waren, bei dem Drehen eines Griffes alle möglichen Albernheiten zu begehen; auch würde es keine leichte Aufgabe gewesen sein, eine menschliche Torheit, Untugend oder Schwäche zu nennen, die in Kaleb Plummers Zimmer nicht ihren mehr oder weniger treuen Typus gefunden hätte. Und alles das durchaus nicht in übertriebener Form; denn es bedarf ja keiner sehr künstlichen Handhabe, um uns alle, Männer wie Frauen, zu nicht weniger seltsamen Streichen zu bewegen, als die, die je von einem Spielzeug ausgeführt wurden.
Inmitten all dieser Gegenstände saßen Kaleb und seine Tochter bei der Arbeit. Das blinde Mädchen, beschäftigt als Puppenschneiderin, Kaleb die vierfenstrige Front eines ansehnlichen Bürgerhauses bemalend und mit Glas versehend.
Die Sorge, deren Spuren Kalebs Gesichtszügen aufgedrückt war, sein zerstreutes und träumerisches Wesen, das einem Alchimisten oder einem Jünger der dunklen Wissenschaft sehr gut gestanden hätte, bildeten auf den ersten Blick einen merkwürdigen Kontrast zu seiner Beschäftigung und den Nichtigkeiten um ihn her. Aber so alltäglich die Dinge auch an sich sein mögen, wenn man sie erfindet und anfertigt, um sich sein tägliches Brot damit zu verdienen, dann werden sie etwas sehr Ernsthaftes; und ganz abgesehen von dieser Betrachtung, kann ich durchaus nicht sagen, ob Kaleb, wenn er Minister oder Parlamentsmitglied oder Advokat oder gar ein großer Spekulant gewesen, sich mit weniger launischen Spielereien beschäftigt hätte, während ich gar sehr bezweifle, ob sie ebenso harmlos gewesen wären.
»Du warst also gestern Abend draußen im Regen, Vater, in deinem schönen neuen Überzieher?« fragte Kalebs Tochter.
»Mit meinem schönen neuen Überzieher«, antwortete Kaleb, indem er einen Blick nach der Wäscheleine warf, auf der das vorhin beschriebene Gewand von Packleinewand sorgfältig zum Trocknen aufgehängt war.
»Wie froh bin ich, Vater, daß du ihn dir gekauft hast!«
»Und obendrein von einem so tüchtigen Schneider«, sagte Kaleb. »Ein vollendeter Modenschneider. Er ist zu gut für mich.«
Das blinde Mädchen unterbrach ihre Arbeit und fing an fröhlich zu lachen.
»Zu gut, Vater! Könnte denn etwas zu gut für dich sein?«
»Aber ich schäme mich fast, ihn zu tragen«, sagte Kaleb, die Wirkung seiner Worte auf ihrem freudestrahlenden Gesicht beobachtend. »Auf mein Wort, wenn ich die Jungen und die Leute hinter mir sagen höre: ›Hallo, seht mal den Gecken an!‹, dann weiß ich nicht, wo ich meine Augen lassen soll. Und als gestern Abend der Bettler gar nicht fortgehen wollte, und ich ihm sagte, ich sei ein ganz gewöhnlicher Mann, da antwortete er: ›Aber nein, Euer Gnaden! Das glaube ich Euer Gnaden nicht.‹ Mir war, als hätte ich kein Recht, ihn zu tragen.«
Glückliches blindes Mädchen! Wie fröhlich sie war in ihrem Entzücken.
»Ich sehe dich, Vater«, sagte sie, in die Hände klatschend, »so deutlich, als wenn ich die Augen hätte, die ich nie vermisse, wenn du bei mir bist. Ein blauer Rock . . .«
»Hellblau«, sagte Kaleb.
»Ja, ja, hellblau!« rief das Mädchen, ihr freudestrahlendes Gesicht emporrichtend: »ganz die Farbe, deren ich mich noch von dem lieben Himmel her erinnere! Du sagtest mir früher, er sei blau! Also ein hellblauer Rock . . .«
»Und halb anschließend«, setzte Kaleb hinzu.
»Halb anschließend!« rief das blinde Mädchen mit herzlichem Lachen;