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wieder bei Christines Vorwurf wären, ich würde die Leute „verarschen“ – auch das ein Wort aus ihrem Mund –, dies auch eigentlich nicht gut finden, aber des Geldes wegen damit weitermachen. Mit anderen Worten: ich würde mich verkaufen, weswegen sie sich auch dazu berechtigt fühlte, von meiner Arbeit als einem „Hurenjob“ zu sprechen. Dass auch sie jahrelang von meinem Hurenlohn lebte, weil sie mit ihren tatsächlich in keinerlei Hinsicht zu beanstandenden Literaturübersetzungen einfach nicht genug verdiente, um ohne Magenknurren die Zeit zwischen einer Honorarzahlung und der nächsten zu überstehen – von anderen Annehmlichkeiten wie Auto, gut gestalteten Möbeln oder Urlaubsreisen ganz zu schweigen – schien sie dagegen kaum anzufechten. Als sie mich eines Tages in Zusammenhang mit meiner Arbeit als Werbetexter mit dem guten alten Satz konfrontierte, es gebe kein richtiges Leben im falschen, gab ich ihr genau dies zu bedenken: dass, wer sein eigenes Leben auf dasjenige von jemandem stütze, der seines „falsch“ – was auch immer das bedeuten möge – führe oder organisiere oder gestalte, dass dieser Mensch auch selbst kaum als jemand bezeichnet werden könne, der seinerseits ein „richtiges“ Leben führe, ganz gleich, wie gut und schön und tadellos – natürlich alles Begriffe, die hinterfragt und definiert werden müssten – dieses Leben auch aussehe oder letztlich sogar tatsächlich „sei“. Erstens. Und zweitens – denn schließlich lag es nicht in meiner Absicht, sie von meiner Seite oder gar aus meinem Leben zu vertreiben, und schon von daher musste es diesen zweiten Punkt geben, aber natürlich auch und zuallererst aus Gründen der Logik – zweitens also könne man den Satz auch noch ein bisschen erweitern und sagen, es gebe kein richtiges Leben in der falschen Gesellschaft, und dann werde es wirklich problematisch. Denn einerseits müsse man wohl nicht lange erläutern, dass unsere Gesellschaft der Konsumgeilheit – „für die du mitverantwortlich bist!“, warf Christine sofort ein, was ich in diesem Moment keine große Lust hatte zu bestätigen, weshalb ich einfach mit meiner Aufzählung fortfuhr –, der Kinderpornos, der Berge von Verkehrstoten und der gnadenlosen Verdummung durch die Medien nicht die „richtige“ sein könne. Doch andererseits: Solle man deswegen weggehen und wenn ja, wohin bitte? Wo hielten wir es denn überhaupt aus, so, wie wir zu leben gewohnt seien? In welcher ganz anderen Umgebung – und ganz anders müsse sie schon sein, wenn sie nicht ganz so falsch sein solle wie diejenige, in der wir lebten – in welcher ganz anders gearteten und organisierten Umgebung würden wir denn nicht sofort zugrunde gehen oder jedenfalls binnen kürzester Zeit? Und „nicht ganz so falsch“ sei ja noch nicht einmal ausreichend – „richtig“ müsse sie sein! Wo gebe es sie denn, diese Gesellschaft? Wo? Wir einigten uns schließlich auf das, was wir ohnehin schon gewusst hatten, nämlich dass ein solches Gemeinwesen nicht existiere und man daher genauso gut hier bleiben könne, um sich hier schuldig zu machen. Wir einigten uns weiterhin darauf, dass alles relativ sei – was uns ebenfalls schon bekannt gewesen war -, dass man also auch nur ein relativ richtiges Leben führen könne, was Christine auch tue, dass ich hingegen ein relativ falsches Leben führte, aber immerhin kein ganz falsches, da ich ihr ja mit meinem relativ falschen Leben ihr relativ richtiges ermöglichte. „Du bist also kein ganz großes Schwein, sondern nur ein mittleres“, schloss Christine unsere Diskussion ab, und da ich spürte, dass mehr für mich an diesem Tag nicht drin war, ließ ich den Satz so stehen. Erschöpft von den Auseinandersetzungen begaben wir uns ins Schlafzimmer, wo wir uns jedoch schon bald wieder auf der neuen Umgebung angemessene Art gegenseitig provozierten, gemeinsam außer Atem kamen und endlich ermattet und befriedigt den Tag beschlossen.

      Schon seit längerer Zeit diskutierten wir nicht mehr so oft, in den letzten Monaten sogar fast gar nicht mehr. Vielleicht lag es daran, dass Harry und Theo, meine Chefs, unbedingt in die Top 100 der deutschen Agenturen vorstoßen wollten und ich öfter als in den vorangegangenen Jahren bis spät abends blieb und manchmal sogar – aber selten, wirklich nur in Ausnahmefällen –, wie auch in der vorangegangenen Nacht geschehen, bis in die ersten Stunden des nächsten Tages hinein.

      „Wie viele Liter Kaffee hast du heute Nacht getrunken?“, hatte mich Christine vor etwa einem viertel Jahr einmal gefragt, kurz nachdem ich morgens um halb sechs vorsichtig das Schlafzimmer betreten hatte und nach einem prüfenden Blick auf ihre Seite des Bettes davon überzeugt gewesen war, dass sie noch tief und fest schlafe, und ich hatte gesagt, ich wisse es nicht.

      „Und wie viele Zigaretten hast du geraucht?“

      Das wusste ich natürlich genauso wenig, und auch auf ihre letzte Frage: „Was glaubst du, wie lange du noch lebst, wenn du so weitermachst?“ konnte ich ihr keine zufriedenstellende Antwort geben.

      Sie hatte sich inzwischen in ihrem Bett aufgesetzt und machte einen sehr wachen und sehr unzufriedenen Eindruck. Sie sagte, dass sie es als Zumutung ansehe, mit jemandem zusammenleben zu sollen, der nicht nur jeden Moment tot umfallen könne, sondern auch noch Lust an diesem „Spiel“, wie sie es nannte, empfinde. Sie sagte, meine Lebensführung sei nichts anderes als Russisches Roulette, und irgendwann werde mein Herz stehen bleiben, irgendwann nachts um halb drei oder um halb vier, während ich gerade einen idiotischen Slogan für eine neue idiotische Dauerwurst oder ein beschissenes Abführmittel formulierte. Ich sagte nicht, dass für idiotische Slogans Günter und Robert zuständig seien, und ich wies sie auch nicht darauf hin, dass sie gerade „beschissenes Abführmittel“ gesagt hatte – man muss sich diese Formulierung einmal auf der Zunge zergehen lassen! – und dass man so schnell nun auch wieder nicht tot umfalle. Aber ich hätte sie gerne gefragt, ob es ihr vielleicht lieber wäre, wenn ich, statt zu nächtlicher Stunde am Schreibtisch, morgens beim gemeinsamen Frühstück mit einem letzten Röcheln vom Stuhl sänke oder mich vielleicht sogar am Steuer meines Alfa von der Welt und von ihr verabschiedete – denn sie müsste natürlich dabei sein! –, sagen wir einmal, irgendwo auf der Küstenstraße zwischen Collioure und Port Bou, wo man stellenweise nicht allzu weit von der Fahrbahn abkommen muss, um sich einige Momente später und achtzig oder auch hundertzwanzig Meter tiefer im blauen Mittelmeer wiederzufinden.

      Nach dem Wetterbericht machte ich das Weckerradio aus. Ich blieb noch einige Momente liegen, und dann hörte ich im Flur die Dielen knarren. Christine war also wieder da! Ich spürte die Freude darüber in mir hochsteigen und wollte schon aufstehen, um sie zu begrüßen, als mich der Gedanke daran, dass sie mich mit ihrer Abwesenheit und dem Zettel hatte ärgern wollen, zurückhielt. Sie sollte nicht sehen, dass ihr Nachhausekommen mir gute Gefühle machte! Ich wartete also noch einige Momente, bis ich glaubte, mich so weit beherrschen zu können, dass meine zur Schau gestellte coolness überzeugend sein würde, dann stand ich endgültig auf. Da nichts mehr zu hören war, nahm ich an, dass sie in ihrem Arbeitszimmer saß. Wenn sie hören würde, dass die Schlafzimmertür sich öffnete, würde sie sicher erwarten, dass ich gleich zu ihr hereinkäme. Sollte sie! Ich ging in die Küche, setzte Kaffeewasser auf, holte mehr oder weniger geräuschvoll Geschirr und Besteck aus dem Schrank und wartete meinerseits auf ihr Erscheinen. Aber auch sie tat mir den Gefallen nicht. Was sollte ich tun? Ich entschloss mich zu einem Kompromiss. Ich machte Kaffee für uns beide, und so könnte sie sich, wenn sie käme, gleich mit an den Tisch setzen und hätte gleichzeitig ein Zeichen dafür, dass ich an sie gedacht hatte, und ich könnte ja auch noch, je nachdem, wie ihr Gesichtsausdruck sein würde, sagen, dass ich sie nicht hätte stören wollen.

      Sie ließ sich aber nicht blicken.

      Ich aß eine Scheibe Toast mit Schinken, eine weitere mit Käse, schenkte mir Kaffee nach, rauchte zum Abschluss eine Zigarette und hatte schließlich keinen Grund mehr, noch länger in der Küche zu bleiben. Also gut. Ende des Spiels. Ich ging zu ihrem Arbeitszimmer, klopfte und trat, ohne ihre Antwort abzuwarten, ein.

      Sie war nicht da.

      Ich hatte in der Küche gehockt und auf sie gewartet, und sie war überhaupt nicht da! Ich kam mir vor wie ein Idiot. Trotzdem machte ich noch einen Schritt ins Zimmer und schaute hinter die Tür. Dabei kam ich mir noch mehr vor wie ein Idiot. Ich wusste, dass sie nicht dahinter stehen würde. Aber ich musste schauen. Natürlich stand sie nicht dahinter. Ich ging zu ihrem Schreibtisch. Der Computer war ausgeschaltet und der Monitor vollkommen kalt. Ich ließ ein letztes Mal meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Es gab keinen Gegenstand, hinter dem sie sich hätte verbergen können. Ich ging wieder hinaus.

      Ich schaute im Wohnzimmer nach, in meinem Arbeitszimmer, im Bad und in der Gästetoilette.

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