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Kiez, Koks & Kaiserschnitt. Christian U. Märschel
Читать онлайн.Название Kiez, Koks & Kaiserschnitt
Год выпуска 0
isbn 9783847621805
Автор произведения Christian U. Märschel
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
oben ohne, das zeugt von Mut, von Selbstbewusstsein.
So hat mir meine Lebensauffassung, mein Verhalten und mein Selbstbewusstsein, das ich nicht so von Natur aus einfach hatte oder anerzogen bekam, sondern
im Alter von dreißig erst hart erlernen musste, auch schon einige Damen zugetragen, derer ich zumindest äußerlich eigentlich nicht gerecht wurde. Toll aussehend
fand ich mich noch nie, ich bin da keinesfalls von mir überzeugt.
Aber auffallen reicht oft schon aus, für den ersten Kontakt. Und dann nett sein, volles Rohr nett sein. Sich für die Dame interessieren, nicht die Dame für mich
interessieren. So toll bin ich nicht. Ich habe eigentlich auch nichts, für das ich die Damen interessieren könnte. Also interessiere ich mich für sie. Ich bin immer
nett, höflich und wiege sie vom ersten Gespräch an in Sicherheit.
„Zu mir kannste auch abends in Auto steigen, ich tu Dir bestimmt nichts! Ich fahre Dich nur nach Hause, keine Angst, ich will auch nicht mit hoch kommen auf
einen Kaffee.“
Das entsprach sogar der Wahrheit.
Dass hinter meinem freundlichen aber festen und bestimmten Blick, mit dem ich so gut Kontakt suchen und finden kann und meinen Komplimenten ohne Umweg
„…darf ich Dir mal sagen, das Du ein ganz tolles Gesicht hast! Ich will Dich nicht angraben, ich will das nur sagen, das meine ich ernst!“- (lächeln, umdrehen und
weggehen!, sonst wirkt es nicht !) - wahrscheinlich eine sexuelle Verklemmtheit steckt, bemerkte ich erst vor ein paar Jahren, seit ich angefangen habe, darüber
nachzudenken, wieso ich an all die tollen, halbwüchsigen Mädchen komme, um die mich manch einer, dem sie optisch besser zu Gesicht gestanden hätten,
beneidet hatte.
Ich kann ohne Probleme mit Frauen über ihre Lieblingsstellungen reden ohne dabei auch nur ein Tröpfchen Erregung in der Hose zu verspüren; auch der Kiez,
auf dem ich jahrelang im Nacht- und Nackt-Gewerbe gearbeitet habe, hat mir in dieser Beziehung total nichts ausgemacht.
Durch mein bemerkenswertes Auftreten habe ich wahrscheinlich auch diesen Job hier in Amsterdam bekommen. Auf den Chef und auf Linda, seine Assistentin,
habe ich wohl einen auffallend guten Eindruck gemacht, und letztere hat, wie mein Chef einmal sagte, nicht wenig zu meiner Adaption beigetragen.
Ich mache immer einen guten Eindruck. Auf Nachbarn, auf Eltern von Mädchen, auf Chefs... Nur lange halten kann ich diese Eindrücke meist nicht. Spätestens
wenn es darum geht, Qualifikation zu beweisen, muss ich anfangen, zu kneifen. Für jeden Fehler, den ich mache, kann ich mir fantastische Storys ausdenken, die
zumeist sogar funktionieren und ihren Sinn nicht verfehlen.
Bei den meisten Leuten habe ich Steine für fünf im Brett, fast alle davon sind erlogen und erschlichen.
Aber ich bin recht schlau, das muss ich sagen, zumindest wenn ich mal einen Augenblick lang selbstverliebt bin, was in letzter Zeit immer weniger vorkommt. Die
einzige wirklich Einbildung, die ich habe, und die ich mir auch nicht gern nehmen lasse. Was ich nicht weiß, erfrage ich oder lese es nach. Mich interessiert eigentlich alles, deshalb weiß ich auch von dem meisten zumindest etwas. Ich freue mich zum Beispiel immer, wenn ich Frauen ihren Eisprung erklären kann oder weiß, wann eine Eileiterschwangerschaft stattgefunden hat und warum das nicht gut ist. Wofür man das braucht? Das wirst Du später feststellen…
Man muss nur immer wissen und abwägen, wem man was erzählt, wenn man sich seiner Sache nicht ganz sicher ist. Immer erst testen, was die Gesprächspartner
von dem Thema wissen, ehe man Unsinn erzählt.
Bis jetzt hat noch keiner an meiner intellektuellen Grundlage gezweifelt.
Mein letztes „ordentliches“ Anstellungsverhältnis war bei der Firma C., im Verzollungsbüro an der deutsch - niederländischen Grenze, drei Jahre lang.
Ich erinnere mich gern an Lothar M. und Susi v.B., meine Kollegen.
Lothar, ein Vater aus Halberstadt im Osten gebürtig, dessen Sohn auch in der Firma arbeite. Ein gütiger, ruhiger Mann Mitte fünfzig, gutaussehend, wie ich finde,
ohne auf Männer zu stehen. Aber er hatte was. Und man konnte ihn alles fragen ohne je eine dumme Antwort zu bekommen. Er hatte Humor, war ein kumpliger
Typ.
Susi war eine nette Maus, keine tolle Figur aber ein hübsches Gesicht und auch sehr kumpelig. Stundenweise war ich sogar in sie verliebt. Sie arbeitet jetzt bei
einer Versicherung. Lothar ist wahrscheinlich im wohlverdienten Ruhestand.
Das Büro war in einer langen Reihe von gleichen Büros, die auf dem Zollplatz direkt an der Grenze standen. Jedes ungefähr so groß wie eine Doppelgarage, nur
ein einziger Raum mit drei oder vier Schreibtischen drin und einem Klo.
Im Sommer hatten wir immer die Tür offen, es roch nach Diesel, Abgasen von den Fernlastern, dazwischen der Geruch von Heu von den Feldern hinter dem
Haus, staubiger Luft und dem Summen von Insekten.
Romantisch, nicht? Wenn die Hütte dann voller wurde kam auch noch der Schweißgeruch der Fernfahrer aus Bulgarien und Rumänien dazu. Das alles kotzte
mich irgendwann an. Ich wollte weg. Weit weg. Was erleben. Aber was erleben?
Bald nach meinem Job bei C. kamen Elli und Hamburg.
Nachdem sie weg war, fiel mir ein halbes Jahr lang die Decke auf den Kopf.
Warum all dies? Damit Du Dir ungefähr ein Bild von mir machen und mit meinen Augen versuchen kannst nachzuvollziehen, was und warum danach alles so
geschah, wie es geschah…
Die Sonne geht niemals aus
Ich: Einssechsundachtzig groß, immer irgendwo zwischen siebzig und fünfundsiebzig Kilo. Wird nicht mehr, war nie mehr. Auch wenn Ela manchmal sagt: „Du hast ganz schön abgenommen.“ Oder: „…früher hattest Du mal mehr drauf.“ Stimmt nicht. Ich war immer schon so. Ein selbst eingestandenes, nie an die Öffentlichkeit getragenes Problem habe ich immer mit meinem Bauch. Schon als ich klein war, war er immer etwas rund, hervortretend. Nicht richtig ein kleiner Bierbauch. Eher bedingt durch mein Hohlkreuz und durch untrainierte Muskulatur hervorgerufen. Sport habe ich immer schon gehasst. Ich bemühe mich um einen aufrechten Gang, immer den Bauch ein bisschen einziehen, wenigstens dann, wenn es drauf ankommt. Ich versuche, meine Figur durch Kleidung zu kaschieren. Klappt meistens auch. In letzter Zeit habe ich nicht mehr so viel Lust dazu. Wofür auch? Ich kenne niemanden hier in Holland, von dem ich wollte, das er einen anderen Eindruck von mir hat, als ich ihn wirklich vermittle.
Immer schon habe ich auf den Fingern rumgekaut. Wenn Du das als kleines Kind nicht sofort wieder lässt oder am besten gar nicht damit anfängst, hörst Du nie wieder damit auf. Ralf, der Nachbarsjunge, hat das früher immer gemacht. Da waren wir so sechs Jahre alt. Da hab ich mir das abgeguckt. Und es nie wieder gelassen. Nicht richtig heftig. Nur ständig ein bisschen. Hilft bei der Konzentration. Ist wohl eigentlich auch der Versuch, etwas an sich selbst zu verändern. Die abschwächte Variante von dem, was manche Leute mit Rasierklingen und ihren Unterarmen tun.
In der Grundschule: "Mama, die Lehrerin schreibt so undeutlich, ich kann nicht lesen, was an der Tafel steht!"
Ich saß in der ersten Reihe.
Erste Brille mit sechs Jahren, dann, mit siebzehn