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den verbleibenden sechzig Stunden komme ich kaum mehr zum Schlafen.

      Auf meiner Arbeitsstelle, zu der ich nach meiner Haftentlassung zwangsverpflichtet wurde, sind sie erstaunt. Es hatte immer so ausgesehen, als würde ich nie eingezogen.

      Man zahlt mir meinen Akkordrest aus, ich verabschiede mich. Das übliche Händeschütteln. Übliche Segenswünsche. Die meisten verhehlen ihr Mitleid nicht und ihre Freude, dass es sie nicht erwischt hat. Es ist gut, dass ich so wenig Zeit habe. So kann ich die Abschiedszeremonien auf ein Mindestmaß herabschrauben.

      Bei Bella geht das natürlich nicht. Sie bleibt die ganze Nacht. Und was bei ihr Abschiedskummer und Leid zu einem großen lodernden Gefühl zusammendrängt, bewirkt bei mir das Gegenteil. Ich möchte schlafen. Schlafen und vergessen. Noch ein einziges Mal als Zivilist in einem richtigen Bett träumen dürfen. Bella ist traurig darüber. Sie versteht mich nicht. Ich verstehe sie sehr gut. Gerade das macht mich nervös. Es ist ein gespanntes letztes Zusammensein. Gute Bella, verzeih mir, ich höre schon platzende Granaten, rieche Phosphor und sehe Menschenfleischfetzen in Stacheldraht hängen. Ich kann mich keiner Liebesstunde mehr hingeben.

      Nun ist es soweit.

      Ich stelle den Koffer vor die Tür und gehe noch einmal zurück in die Stube. Vor einem halben Jahr kam ich aus der Haft. Heimlos und einsam stand ich damals auf der Straße. Jetzt gerade ist meine Junggesellenbude fertig geworden. Eine Titanenarbeit in Zeiten des totalen Krieges bei zehn- und zwölfstündiger Arbeitszeit. Traulich schauen mich alle Dinge an, schon deswegen so traut und kostbar, weil sie so schwer zu beschaffen waren.

      Ich werfe mich noch einmal auf die selbst gezimmerte Couch und starre gegen die Decke. Komische Gedanken fluten in solchen Momenten. Alles schaut so seltsam klar und kristallscharf aus. Wie in Gelee konserviert und unter eine Glasglocke getan. Wirst du wohl jemals wieder diesen Raum betreten? Oder wird er von Fliegerbomben zerstört sein? Jetzt kommt eine Zeit der großgeschriebenen Wenns.

      Ich springe hoch. Die Zeit rast, ich muss mich beeilen. Der Abschied von meiner Bude war der längste.

      Am Alexanderplatz steige ich in die Bahn. Ich ziehe noch einmal die bewusste Karte aus der Brieftasche. Wohl zum zehnten Male vergewissere ich mich über Stellungszeit und -ort. Mir gegenüber sitzen drei Landser. Sie grinsen verständnisinnig. Der Koffer und mein Studieren der Karte verraten ihnen alles.

      "Ham wa allet hinta uns!" sagt der eine.

      "Mal muss et ja sein", bestätigt der andere und spricht vom Soldat werden wie von einem unabwendbaren Kismet.

      Die Soldaten von anno Tobak haben's schöner gehabt. Mit klingendem Spiel sind sie zum Bestimmungsort gebracht worden, und die ganze Heimat half tüchtig mit, ihre Stimmung hochzuheben. Ein Verurteilter, fahre ich einsam und still durch meine Vaterstadt Berlin, meinem Kriegsschicksal entgegen.

      Am Kottbusser Tor steige ich hinauf zur Hochbahn. In meinem Abteil sind noch vier Personen, zwei junge Männer in meinem Alter und deren Mütter. Offenbar haben sie das gleiche Ziel wie ich. Die Mütter sind besorgt, als brächten sie Sechsjährige zum ersten Schultag. Die jungen Männer lassen stoisch ihre Ermahnungen über sich ergehen. "Ja, ja", ist ihre stereotype Antwort. Ihre Gedanken sind schon weit weg von der sorgenden Mutter. Sie steigen aus, und ich halte mich hinter ihnen.

      An der Ecke Großbeerenstraße wartet Walter auf mich. Das stimmt mich froh. Ein vernünftiger Freund ist das Beste in solcher Situation.

      Auf dem Schulhof stehen sie gruppenweise nach Buchstaben.

      Nachdem ich meine Gruppe gefunden habe, melde ich mich bei einem unwirschen Herrn in Uniform mit vielen Zetteln in der Hand. Ein heiserer Bass blökt mich an: "Dass Sie überhaupt kommen, ist viel wert, Herr Volksgenosse!" Ich werfe einen Blick auf die Armbanduhr: "Es ist gerade 14 Uhr 30", sage ich.

      "Egal", beharrt er, "ein Soldat hat fünf Minuten früher zu kommen, um pünktlich zu sein."

      Ich zucke mit den Achseln und gehe.

      "Kommse mal her!" ruft er, "wenn man sich von einem Vorgesetzten wegwendet, macht man das mit einer zackigen Kehrtwendung! Verstanden?"

      "Ja", sage ich.

      "Jawoll heißt es", grollt er, "haunse ab."

      Ich trolle mich zu meiner Gruppe. Walter steht dort schon und lacht schadenfroh, "siehst du, deinen ersten Anschiss hast du weg."

      "Wenn schon", sage ich wenig bewegt, "solche Lappalien sind wir vom Knast her gewohnt."

      "Großer Vorteil für dich", antwortet er.

      In meiner Gruppe wird "gerüchtet". Das Wort Afrika huscht immer wieder in meine aufnahmegierigen Ohren.

      Laufend kommen noch Leute mit Pappkartons und billigen Koffern.

      "Angehörige, Abstand nehmen!" ruft der Barsche, und ich bin froh, dass es nun losgehen soll. Doch jetzt kommt erst zu jeder Gruppe ein Unteroffizier, um die Einladungskarten einzusammeln und die Vollzähligkeit der Gruppe festzustellen. Das dauert wieder eine halbe Stunde. Gut, dass Walter noch da ist. Wir können Stichworte wechseln. Sonst wäre das hier eine langweilige Angelegenheit. Ich bin dem Burschen gram.

      Mich fährt er an, weil ich auf die Minute pünktlich gekommen bin. Jetzt ist es eine Stunde später, und wir stehen noch immer auf dem öden Schulhof.

      "Hat jemand noch eine ernsthafte Angelegenheit, über die er im Zweifel ist?", fragt laut mein Anranzer.

      Stichwort für mich, den Arm zu heben.

      "Herkommen!" befiehlt er.

      Ich zücke das Attest meines Zahnarztes und erkläre, dass ich in Zahnbehandlung stehe wegen einer neuen Zahnbrücke.

      "Zeigense mal." Ich sperre meinen Mund weit auf.

      "Hahaha", sein Lachen ist mit sardonisch noch zu flau bezeichnet.

      "Junger Mann, den Krieg gewinnen wir auch ohne die Brücke. Zurück ins Glied, marsch, marsch."

      Warum ist der Mann bloß so hämisch? In Wahrheit läuft seine Rederei darauf hinaus, dass wir den Krieg verlieren, wenn ich vierzehn Tage später eingezogen werde. Der Befehl kommt: "Alle Angehörigen den Schulhof verlassen!" Walter gibt mir die Hand. Wir sehen uns an und sprechen nichts. Er dreht sich kurz um und geht.

      Wir müssen zu dreien antreten und zum Anhalter Güterbahnhof marschieren. Vor dem Schulgebäude schließt sich uns wieder der Tross der Frauen, Mütter und Bräute an. Kein Offiziersverbot und kein Güterbahnhofsgitter kann sie abhalten, neben ihrem Mann, Sohn oder Bräutigam herzu trippeln.

      Personenwagen dritter Klasse werden uns angewiesen.

      "Ick seh schwarz", sagt einer im Abteil, "wenn jetzt noch keene Lokomotive da is, stehn wa hier noch ne jute Weile." Mehrere teilen seine Befürchtungen. Orakeleien und Gerüchte schwirren durch den Wagen. Keiner kann mit Bestimmtheit sagen, wo der Truppenübungsplatz Heuberg liegt.

      "Wenn wa Schwein ham, sind wa morgen früh da", hofft einer, und Frau Grosser und Frau Schulbein sind auch der Meinung. Diese beiden Frauen zweier Kameraden sind noch in unserem Abteil. Gute Ehekameradinnen, die jetzt tapfer in Zweckoptimismus machen. Für jeden von uns haben sie ein Fünkchen Anteilnahme, die ehrlich ist und von Herzen kommt. Die feine Haltung der Frauen tut wohl und strahlt wieder zurück. Im Abteil ist ein Scherzen, das im krassen Widerspruch zur Tatsache des Abschieds steht.

      Endlich geht ein Rucken durch die Wagenreihen. Die Frauen verabschieden sich hastig und verlassen uns. Der Zug holpert langsam über Weichen, rollt aus und steht. Ein wenig später rumpeln wir wieder zurück. Wir werden rangiert. Das marternde Spiel des Hin- und Herrollens setzt sich fort bis in den späten Abend. Am anderen Morgen um drei Uhr fangen wir an zu fahren. Jetzt beginnt der Fahrwind wirksam zu werden. Es wird ungemütlich kalt. Ich opfere meine Decke, die einzige im Coupé, und wir bringen sie vor den Fenstern der Windseite an. Es wird viel gefroren, viel geraucht und wenig geschlafen. Am Nachmittag ist das erste Mal offizieller Halt. Es gibt eine Wassergraupensuppe in Pappbechern.

      Die Stimmung ist nullpunktmäßig über

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