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Spätvorstellung. Reinhold Zobel
Читать онлайн.Название Spätvorstellung
Год выпуска 0
isbn 9783752932348
Автор произведения Reinhold Zobel
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Im Café stapeln sich, in Bodennähe, vereinzelt Nebelbänke. Seit der Zweiten respektive Dritten Völkerwanderung, so könnte man mutmaßen, ist nicht mehr so massiv geraucht worden. Jedoch der Eigner der Einrichtung stellt baldige Besserung in Aussicht, obschon kein Gast sich bislang beschwert hat. Die hauseigene Klimaanlage, so erfährt man über Lautsprecher, stünde unmittelbar vor ihrer Inbetriebnahme.
“Weißt du, Lux, ich kann mich nicht dazu verstehen, Beilagen dieser Prägung wertzuschätzen. Das sind keine Durstlöscher für Geist und Seele, noch taugen sie als Mörtel für das Mauerwerk einer nichtkollektiven Gedächtnislade. ”
“Obwohl ich nur eine vage Ahnung habe, welche Botschaft sich hinter deinen Worten verbirgt, erscheint mir manches daran doch hypertroph. Ja, ich möchte fast soweit gehen zu sagen, dass du Ähnlichkeiten zu erkennen meinst, wo keine sind.”
“Wünschen die Herren noch etwas zu trinken?”
“Bringen Sie uns bitte noch eine Flasche von diesem fränkischen Rotwein, Sie wissen schon.”
“Kehren wir doch noch einmal zurück zu den späten 80ziger Jahren. Das war nun aber, wie ich finde, in jedem Fall ein in mehrfacher Hinsicht zur Übertreibung neigendes Jahrzehnt.”
“Das finde ich nicht, Tony. Außerdem, für mich war es das Dezennium, in dem mein heutiges Selbst geboren wurde. Vorher war ich nicht mehr als das Abziehbild eines Abziehbilds.”
“Nun bist du es aber, der übertreibt, mein Lieber.”
“Mag sein…mich deinem Verdikt aus, sagen wir, purer Höflichkeit vorübergehend beugend.”
“Was hat dich an diesem Jahrzehnt denn nur so gefesselt?”
“Es hat in vielen Bereichen Zeichen gesetzt, es war bunt, es war neugierig, es war schöpferisch. Und für mich galt, obwohl nicht selten einsam - ich war verliebt in die Gegenwart.”
“Liebe macht bekanntlich blind.”
“Blinde sehen bekanntlich anders.”
“Na schön, Lux. Belassen wir es dabei. Man muss dir ja nicht in allem und überallhin folgen…
Drehst du mir noch eine Zigarette?”
“Natürlich. Jetzt fällt mir gerade wieder ein, wozu ich vorhin meine Brille aufgesetzt hatte… ich wollte meine Augen gegen den Tabakrauch schützen. Sie sind in letzter Zeit so empfindlich.”
“Ich weiß etwas, was dagegen hilft.”
“Und das wäre?”
“Una siesta, amigo.”
Nicht lange, nachdem die klimaanlagenbezogene Ansage über die Lautsprecher erfolgt ist, ertönt aus denselben Musik; dem allgemeinen Verständnis nach - populäre Musik.
“Kennst du ja ohne Frage… das Stück, meine ich, das gerade gespielt wird.“
“The Thrill is Gone… aber gewiss doch. Wir haben früher schließlich untereinander so manches Vinyl vom King getauscht. Du erinnerst dich?”
“Ich erinnere mich.”
Im Café Pluto geht als nächstes der Song “9” von Drake auf Sendung. Und dessen Bässe bohren sich kraftvoll bis in die untere Lithosphäre - Neutrinos kennen keinen Schmerz. Tony Thadeus kratzt sich gedankensatt an seinem schlohweißen Backenbart. Lux schaut zu. Er ist bartlos, aber unrasiert. Und er muss - er weiß nicht weshalb - daran denken, irgendwo gelesen zu haben, dass man mit unbewaffnetem Auge etwa 6000 Sterne am Nachthimmel erkennen kann (oder waren es 5000?).
“Es existieren eben manchmal kaum Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, oder?”
“Nicht für dich.”
“Und nicht für dich.”
“Nicht für uns alle.”
“Das meine ich.”
“Eine Frage, der man im Beichtstuhl der Zeit öfter begegnen wird.”
“Ja. Und man mag das, zu geeigneter Stunde, als imaginativen Malkasten betrachten, sowie - jetzt bitte nicht erschrecken - als zuweilen lockeres Stelldichein zeitweiliger Zeitlosigkeit.”
“Ein Stelldichein, liebe Mitreisende, im Grenzgebiet des Nirgendwo.”
“Das meine ich.”
“Die Droge Alkohol beginnt langsam zu wirken, nicht wahr, Lux?”
“Bei mir nicht.”
“Egal. Jetzt fehlt, um das Glücksmaß des Tages voll zu machen, im Grunde nur noch die - ich benenne es an dieser Stelle freimütig - beidseitige Befüllung einer knackfrischen Jungfrau.”
“Es müsste, denke ich, nicht zwingend eine Jungfrau sein.”
“Ich habe das lediglich gesagt, mein Alter, um dich ein bisschen aus der Reserve zu locken.”
“Was dir um ein Schamhaar geglückt wäre.”
Lux schickt ein Räuspern auf Wanderschaft. Auch sein Blick wandert, manövriert, bahnt sich so tapfer wie ungeschickt über alle echten und vermeintlichen Hindernisse hinweg einen Weg zu einem der anderen Tische. In Fensternähe sitzen drei Männer, drei Frauen, mutmaßlich einander in Ehe- oder eheähnlichen Verhältnissen verbunden.
“Lebt dein Vater eigentlich noch?”
“Er ist vor vier Jahren gestorben, kurz vor seinen sechsundneunzigsten Geburtstag.”
“Er war ein recht bedeutender Kapellmeister.”
“Fabelhaft, das du dieses Wort gebrauchst. Mein Vater gebrauchte es selber gern, wenn es um seine Berufsbezeichnung ging.”
“Woran denkst du, wenn du an ihn denkst.”
“Er war warmherzig. Er hatte Humor. Er nannte sich gelegentlich einen musikalischen Kobold und Narren, mit Betonung auf letzterem. Ein Satz von ihm ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Humor sei Aspirin gegen den Kopfschmerz der Vergänglichkeit. “
“War er nicht auch ein Bruckner Spezialist?”
“Stimmt. Und er hatte, noch in seinen späten Jahren, eine glühende Verehrerschaft. Er sah das allerdings mit einer gewissen Wehmut. Ich erinnere mich, wie er eines Tages sagte, von sich in der dritten Person sprechend, in seinem Alter werde man nicht verehrt für das, was man ist, sondern für das, was man einmal war.”
“Ich habe gelesen, er habe sich lange geweigert, seine Aufführungen auf Tonträgern konservieren zu lassen. Warum eigentlich?”
“Ich weiß es nicht. Er hatte diese Verweigerung mit einem anderen sehr bedeutenden Vertreter seines Fachs gemeinsam. Mein Vater meinte übrigens einmal: so man das Leben als Raum sieht, gelte es, diesen mit der eigenen Musik aufzufüllen; er war ferner der Auffassung, Musik werde weniger erfunden, als vielmehr entdeckt.”
“Ein Hoffnungsschimmer für alle schöpferisch minderbegabten Geschöpfe.”
“Lux, wie bist du jetzt eigentlich darauf gekommen, mich nach meinem Vater zu fragen?”
“Weil dort hinten jemand sitzt, der ihm, wie ich finde, ein bisschen ähnlich sieht.”
“Hm, die Wahrnehmungen sind ja doch unterschiedlich.”
“Ich hätte an dieser Stelle darauf verwiesen, dass das Gleiche im Unterschiedlichen wohnt.”
“Okay, mein Lieber, das sei dir unbenommen. Und jetzt verlasse ich dich für eine kleine Weile.