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schaffen. Ob das wirklich gelungen ist, wagt sie zu bezweifeln. Ihr als Kleingärtnerkind fehlt natürlich der Maßstab, moderne Architektur zu beurteilen. Ihr Urteil zählt nicht, wenn sie zugibt, dass es für ihr Wohlgefühl hier zu viel Beton gibt. Dabei gibt es Grün: Bepflanzungen zwischen den Häusern, Kletterpflanzen an den Fassaden, transportables Grün in Kübeln, Hochbeete. Der dominierende Eindruck der Betonstadt entsteht durch eine zusammenhängende Ebene, die für Autos da ist. Sie sind mit Zubringerstraßen zur Sonnenallee verbunden, die nahe den Häusern zu über-dachten Autostellplätzen führen. Die Straßenzüge haben in Abständen Über-gänge, die die eine Seite der Häuserfront mit der anderen verbinden. Sicherlich wollten die Planer, dass die Leute gefahrlos die Straße überqueren können. Aber sie sieht dort oben niemanden. Bäume stehen mit den Wurzeln im kleinen Erdgeviert inmitten von Beton. Ihre Stämme dürfen nicht dicker werden, sonst müssten sie die Mauern sprengen, die sie umgeben. Die Kronen können sie erst auf den hoch gelegenen Übergängen ins Licht recken, alles andere bleibt im Dunkel. Auch hoch über der Sonnenallee führt ein Übergang von der einen Seite der breiten Straße zur anderen. Er ist zugebaut, besitzt Fenster. Die Autos und Busse fahren durch diese Straßenüberbrückung. Als sie das erste Mal nach der Grenzöffnung mit dem Bus darauf losfuhr, zog sie unwillkürlich den Kopf ein.

      Sie war nicht überrascht, als sie in der Berliner Abendschau erfuhr, dass diese Wohnsiedlung als Notstandsgebiet gilt. Viele Wohnungen stehen leer, auch war längst der erste Glanz von den Fassaden.

      Sie vermisst den weiten Blick über die Gärten, den sie auf ihrem Schulweg hier hatte. Dort, wo die Sonnenallee vom Schwarzen Weg gekreuzt wurde, gab es damals einen aus Brettern gezimmerten Laden, der ein Kioskfenster zur Straßenseite hin offenhielt. Dort hingen bunte Zeitungen, Kaugummis und Bonbons gab es dort. Manchmal konnte sie sich einen Schokoladenriegel kaufen. Die zehn Pfennige (West) hatte sie, wer weiß woher, bekommen.

      Aber die Sonnenallee war jetzt wirklich eine andere geworden, Betonallee fand Gisela passender. Nur am Heidekampgraben entlang, der die Grenze bildete und die beiden Wohnareale Ost und West voneinander trennt, hat sich auf der westlichen Seite am trüben Wasser des schmalen Grabens ein Streifen breiten Buschwerks erhalten, das den Spazierweg wie eine Kuppel überwölbt. Auf der östlichen Seite gibt es die übliche Busch- und Goldrutenvegetation, die den ehemaligen Mauerstreifen inzwischen begrünt hat. Dahinter beginnen die DDR-Plattenbauten in ihrer schlichten Monotonie. Die Blöcke stehen so zueinander, dass sie offene und geschlossene Quadrate bilden. Sie stehen großzügig im Gelände, lassen viel Raum für Grün, die herangewachsenen Bäume und Sträucher geben ihnen menschliche Maße. Sie sind jetzt, nachdem sie, großzügig durch Senatsfördermittel unterstützt, saniert und modernisiert sind, kein schlechtes Quartier. Aber natürlich nur für solche Modernitätsverweigerer wie diese Spaziergängerin hier. Die das westliche Wohnareal nicht nur der Straßennamen wegen operettenhaft findet.

      Dagegen hatte man die schnurgeraden Straßen auf der gegenüberliegenden Seite der Neuköllnischen Allee zum Teltower Stichkanal hin, wo sie ihren Schulweg heimwärts fortsetzen musste, nach Wissenschaftlern und Industriellen benannt. Das Laubenareal auf dieser Seite war hier Industrie- und Gewerbeansiedlungen gewichen. Bosch hat hier seine Straße, Haber, auch Alfred Nobel, der den Sprengstoff entwickelt hat, mit dem man ihre Brücke am Ende des Krieges in die Luft sprengte. Sie saßen auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals wie in einer Falle. Alle Brücken waren kaputt.

      Sie sitzt in ihrer Q3A-Wohnung, sortiert die Erinnerungen an die Brücken ihrer Kindheit. Aber eigentlich will sie den Zumutungen nachfragen, zu denen sie sich bereitgefunden hat in ihrem Staat, der DDR. Dem Zusammenhang nachgehen, der zwischen beidem besteht, oder gibt es ihn nicht?

      Und wieder gibt es neue Zumutungen, die sie erträgt, fraglos.

      Längst schon hat sich herausgestellt, dass die DDR Bevölkerung nicht nur aus Tätern und Opfern bestand. Auch sie ist weder noch, jedenfalls scheint es ihr so. Um als Täter in Frage zu kommen, war ihre Reichweite wohl zu gering. Sie hatte meistens mit den Kindern zu tun, wenn es um Wesentliches ging in ihrem Land. Da sie auf Harmonie aus war, unterließ sie Widerspruch. Als Opfer kommt sie deshalb auch nicht in Frage. Sie will jetzt keine nachgetragene Dissidenz liefern, auch bloße Mitläuferschaft wollte sie für sich nicht veranschlagen. Sie kennt solche Mitläufer zur Genüge, die jetzt angeben, sich nur aus Angst oder Anpassungszwang ins Unrechtsregime geschickt zu haben. Manche hatten die Faust des Widerstands in der Tasche geballt. Prominente Leute unter ihnen heute, einige hat sie sogar in ihrer unmittelbaren Umgebung erlebt. Natürlich blieb deren Opposition damals verborgen. Aber auch zu diesen Leuten will sie sich nicht gesellen. Sie kann schwer ausmachen, wozu und wohin sie gehört und wem sie sich zugesellen möchte. Mitläuferin nicht, eher Mitmacherin mit beschränkter Befugnis. Sie besaß durchaus eine Vorstellung von Verantwortung mit der sie in ihrem Staatswesen gelebt hat. Sie will die jetzt nicht auf die Führung abwälzen. Gisela wollte und wusste, was sie dachte und tat. Großenteils jedenfalls. Spät erst nahm sie an sich selbst die Beschwichtigungen wahr, mit denen sie sich erträglich gemacht hatte, was sie eigentlich nicht hätte ertragen wollen. Der Sozialismus, eine durch die Praxis für lange Zeit diskreditierte Idee. Daran hatte sie ihren Anteil. Dabei standen nun all die Widersprüche wieder dringend im Raum, um derentwillen nicht nur der Vater auf die Idee einer anderen Gesellschaft verfallen war.

      Die Gegend zwischen Teltower Stichkanal und Spree, zwischen Plänterwald und Späthsfelde war nicht die einzige Ortschaft ihres Lebens. Ihre Werktage hat sie im Zentrum Berlins verbracht. Adressen in bester Lage, wie es heute heißt, zwischen Gendarmenmarkt, Hausvogteiplatz, Jägerstraße, Tauben-straße und der Staatsbibliothek Unter den Linden. Hier, wo heute wieder Bankhäuser, Galerien, Akademien ihr Domizil haben, ging sie ein und aus. Jetzt hat sie dort nichts mehr zu suchen. Das verbucht sie unter die Wechsel-fälle des Lebens, von denen sie sich damals freilich nichts hatte träumen las-sen.

       I. UNGEHEURE ERWARTUNG

       Etwas fängt an

      Sie wusste nicht, worauf sie sich einließ, als sie am zweiten Tag des Jahres 1959 den Weg zu ihrer ersten Arbeitsstelle suchte. Gisela Anders war zwanzig Jahre alt und voller Neugierde, während sie sich noch bei Dunkelheit auf den Weg machte, um pünktlich die Bibliothek zu erreichen, in der sie fortan arbeiten sollte. Eine ganze Stunde war sie unterwegs, da sie gegen sieben Uhr dreißig am Bahnhof Friedrichstraße die S-Bahn in Richtung Falkensee verließ. Der Zug war von Baumschulenweg an voll besetzt und wurde auch mit ihrem Ausstieg nicht leerer. Als sie die Friedrichstraße in Richtung Lindenallee ging, atmete sie tief, weil ihr im Abteil die Luft so knapp geworden war, unter den vielen Menschen. Es war kalt und feucht an diesem Januarmorgen, sie überquerte rasch die Linden und lief schnellen Schrittes die Charlottenstraße entlang, bis zur Taubenstraße. Sie war das erste Mal hier in dieser Gegend. Bisher war sie nur bis zur Staatsbibliothek gekommen, in der ihre Fachschule untergebracht war. Die Gegend rund um die Universität kannte sie, die hatte sie mit ihren Mitschülerinnen mittags umrundet. Nach Feierabend zog es die in Richtung Bahnhof Zoo, Gisela war nur selten dabei. Die Taubenstraße hatte sie sich auf dem Stadtplan suchen müssen. Herr Kobus, der Leiter der Bibliothek, hatte ihr den Ort ihres zukünftigen Wirkens beschrieben. Er liege zwischen Hausvogteiplatz und Gendarmenmarkt. Den überquerte sie jetzt, sah die Ruinen des Schauspielhauses, des Französischen und des Deutschen Domes. Die zerstörten Gebäude waren befestigt, der Platz aufgeräumt, er hinterließ keinen besonderen Eindruck bei ihr. Trümmer gab es in Berlin an vielen Ecken, wenn sie nicht inzwischen freien Flächen gewichen waren. Sie brauchte die zehn Jahre, die sie dort arbeiten sollte, um diesen Platz sehen zu lernen. An diesem Morgen hatte sie jedenfalls keinen Blick dafür. Sie schaute auf die Zählung, fand die Nummer 19/23, die man ihr genannt hatte. Das war nicht schwer, weil es das einzige Haus an der Tauben-, Ecke Markgrafenstraße war. Sie blickte auf das Schild, das auf dunklem Marmorgrund die goldene Aufschrift trug „Institut für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“. Sie ahnte nicht, dass das zu diesem Zeitpunkt schon eine wichtige Adresse war, aber der Parteiname, bei deren Zentralkomitee ihre zukünftige Arbeitsstelle liegen sollte, war ihr nicht unvertraut. Ihr Vater war Mitglied dieser Partei und alles, was von ihm kam, hielt sie für einsehbar und richtig. Das Abzeichen mit den

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