Скачать книгу

benommen.

      "Botterbluhm sagt, du bist sonst nicht schüchtern." Die Madam schien an Arturs Verlegenheit Spaß zu haben. Sie holte eine Kristallschale voller Pralinen, zog einen der goldbeinigen Hocker, mit Seidenblumen auf dem Sitz, näher und sagte: "Setz dich hin und greif zu."

      Artur ließ sich auf der Kante des Hockers nieder und nahm gehorsam eines dieser märchenhaften Stücke. Um etwas zu sagen, erklärte er: "Schmeckt wunderbar."

      Die Madam lachte, dass die Rüschen ins Zittern kamen.

      "Dann lass es dir schmecken." Artur griff noch einmal zu und schaute dann unentwegt in die Luft. Weit weg wünschte er sich, und im nächsten Augenblick, dass er noch lange hier sitzen könne.

      "Warum isst du nichts?", fragte sie.

      "Ich - äh - würde gern - wenn Sie - kann ich meinen Schwestern 'n paar mitnehmen?"

      Erstaunt sah sie ihn an. "Bist ja ein väterlicher Bruder."

      Sie kramte eine leere Bonbonniere hervor und schüttete den Inhalt der Schale hinein. "Nimm es mit. Und wenn du wieder hier zu tun hast, melde dich bei mir. Für anstellige Jungen habe ich immer was."

      Artur stotterte seinen Dank. Als er wieder in der rauen Winterluft stand, kam ihm als Erstes der Gedanke: Die hat es gut. Sie gehört zu denen, über die sich Vater immer erbost, die das Leben genießen und die andern arbeiten lassen. Deshalb hätte Artur die Madam gern verachtet. Warum gelang es ihm nicht? Weil Frau Botterbluhms Freundlichkeit ihm wohlgetan hatte? Weil sie gut zu ihm gewesen war?

      Artur war in der Markthalle bald eine gesuchte Kraft. Häufig half er Frau Klementowski. An ihrem Fischstand verkaufte sie Stinte und andern Kram, der vor dem Krieg an Schweine verfüttert worden war. Salzheringe waren schon etwas Seltenes, und es gab sie nur auf Karten. Für jede Arbeit packte Frau Klementowski Artur etwas ein. So ein Stück Dörrfisch oder ein paar Schellfischköpfe ergaben immer eine schmackhafte Suppe. Da konnte man sogar angefrorene Kartoffeln ranquetschen, das Süßliche schmeckte kaum durch. Als Albertine Klementowski sechzig Jahre alt wurde, gratulierte ihr Artur mit einem Blumenstrauß. Den gab ihm Frau Pumpert vom Blumenstand, der er das Tannengrün für Kränze zurechtschnitt. Albertine war so gerührt, dass sie Artur einen Karpfen schenkte, den sie eigentlich für sich reserviert hatte. Er war zwar nicht sehr groß, doch Artur war entzückt, als hätte er einen Wal erobert. Selig, den Fang in grauem Packpapier unter dem Arm, zog Artur ab. Er malte sich schon die Freudenrufe der Mutter aus, als plötzlich der Blaue, der immer in der Halle für Ordnung sorgte, vor ihm stand. Mit geübtem Griff hatte er das Paket in der Hand und wickelte es auf. "Wo hast du den her?" erkundigte er sich barsch.

      Vorerst war Artur sprachlos. Er hätte nur die Spenderin zu nennen brauchen. Doch sollte er die gute Frau hineinziehen? Karpfen hatte es in den letzten Wochen überhaupt nicht gegeben. Weiß der Teufel, auf welchem Weg Albertine ihn ergattert hatte. Artur begann eine Antwort hervorzustottern, doch der Blaue ließ ihn nicht ausreden. "Jaja, mein Freundchen, geklaut! Jetzt kommst du mit, und ab geht's ins Zuchthaus."

      Artur sah rote Kreise, und in seinem Kopf brauste es. Er wäre dem Blauen an die Kehle gegangen, wenn der ihn nicht derb gepackt hätte. Widerwillig erst, dann apathisch, ging Artur mit. Ein Stück von der Markthalle weg sagte der Blaue: "Gib es zu, dass du ihn geklaut hast."

      "Nein", schrie Artur, "und außerdem können Sie mich mal, im Zuchthaus hänge ich mich sowieso auf!"

      Der Blaue blieb stehen und ließ Artur los. Tief betrübt sah er ihn an. "Ein Menschenleben werde ich nicht auf mein Gewissen laden. Mach, dass du nach Hause kommst."

      Schwupp, war der Karpfen unter seiner Pelerine verschwunden.

      Zu Hause schimpfte sich Artur das Herz frei. Die Mutter hörte ihm zu und dachte: wie der Alte. Nun wird es wohl aus sein mit der nahrhaften Markthallenbeschäftigung. "Ich kann dich schon verstehen", sagte sie und seufzte.

      Artur fuhr auf. "Ich gehe nicht mehr in die Halle arbeiten, lieber verrecke ich vor Hunger!" Dann lief er in die Kammer.

      Von dort holte ihn der Vater. "Komm essen, Artur." Er packte seinen Zweiten beim Kopf, und sie schauten sich in die Augen. "Es muss auch so gehen, Junge. Deine Markthallenarbeit hat mir nie recht gefallen. Glaub mir, der Kladderadatsch kommt bald. Bis dahin müssen wir die Ohren steifhalten. Hast wieder was gelernt."

      In der Stube holte der Vater den Schuhkarton mit den Familienpapieren. "Bist verständig genug, wirst nichts ausquatschen", sagte er zu Artur. Aus dem Stammbuch schüttelte er einen zusammengefalteten Zettel. "Hier, ist weidlich rumgegangen in unserer Werkstatt. Morgen geb' ich ihn weiter an die zweite Schicht."

      Begierig überflog Artur den Text. Es war ein abgeschriebenes Flugblatt der Spartakusgruppe. In eindringlichen Worten wurden die Arbeiter zum Kampf gegen die Feinde im eigenen Land aufgerufen, gegen die imperialistischen Kriegsmacher und ihre Helfer, die sozialdemokratischen Durchhaltepolitiker. Da waren Wörter, deren Bedeutung Artur nicht begriff, doch der Sinn des Ganzen ging ihm ein.

      Bruno hatte Artur nicht verstehen können, der ihm in der Schule doch stets über war. Wer hatte Artur denn den Tipp mit der Markthalle gegeben? Enttäuscht schimpfte Bruno: "Ehrgefühl! Was 'n Quatsch! Hast doch den Karpfen nicht geklaut."

      Aber Artur brachte es nicht über sich, wieder in die Markthalle zu gehen. Um so eifriger stimmte er zu, als ihn die Mutter fragte, ob er mitkommen wolle über Land, Kartoffeln, Möhren oder Kohl aufzutreiben, irgendetwas Essbares.

      Samstagmittag traf sich vor dem Bahnhof eine Gruppe Frauen, einige hatten ihre größeren Kinder mitgebracht. Auch die junge Frau Borbach war dabei und Erika. Artur und das Mädchen freuten sich mehr, als sie es zeigten. Die Bahnfahrt wurde ihnen recht kurzweilig. Der Zug war gedrängt voll, wie die Stopplerzüge im Herbst. Jetzt, im Februar des Jahres achtzehn, war die hart gefrorene Erde mit schmutzig-fleckigem Schnee bedeckt, und die goldenen Stoppeltage lagen fern wie ein verlorenes Paradies. Die im Zug nannten sich 'Hamsterer'. Artur gefiel das Wort nicht. Wir wollen, doch keine Vorräte anlegen wie der Hamster, dachte er, sondern nur unsere Hungerrationen aufbessern.

      Die Reinshagener Gruppe strebte von der Bahn weg, quer ins Land hinein; überlaufene Dörfer an der Bahnlinie abzuklappern wäre vertane Zeit gewesen. Ein tüchtiger Fußmarsch brachte sie in ein einsames Dorf. Trotzdem gelang es keinem, Brot, Mehl, Eier oder Käse zu bekommen, nicht einmal Kartoffeln. Unter Wehklagen rückten die Bäuerinnen nur ein paar Kohlköpfe heraus, Mohrrüben und rote Rüben. Artur dachte an Nepomuk und dessen Bittgang. Jetzt ging er selbst von Tür zu Tür, um etwas zu kaufen, und es war doch wie eine Bettelfahrt.

      Am Ende des Dorfes kam Artur mit einem gleichaltrigen Häuslerjungen ins Gespräch. Hubert beteuerte, sie hätten selbst nur so viel, um nicht hungern zu müssen und Schwein und Ziege über den Winter zu bringen. Dass Artur ihm das glaubte; gefiel ihm so, dass er verschwand und mit einem Maß voll Roggen und zwei rotbäckigen Äpfeln wiederkam: Während er den Roggen in Arturs Joppentasche kippte, meinte er verlegen: "'n bisschen was zu kauen in der Bahn." Artur verstaute die Äpfel in der Hosentasche und sagte seufzend: "Ihr habt's gut."

      "Trotzdem würde ich tauschen", antwortete Hubert.

      "Höchstens acht Tage würdest du unsern Kohldampf aushalten."

      "Und du würdest es hier höchstens acht Tage aushalten, mit 'nem Haufen Langeweile und viel Prügel in der Schule. Wenn ich vierzehn bin, kratze ich aus."

      "Besorg dir aber vorher 'ne Lehrstelle. Der Scheißkrieg wird bald aus sein, sagt mein Vater. Dann brauchen sie Arbeiter, weil so viele gefallen sind."

      "Mein Bruder ist auch gefallen. - Vater sagt genauso: Scheißkrieg."

      "Schreib dir meine Adresse auf. Wenn du mal nach Remscheid kommst, weißt du einen, den du kennst."

      "Mann", sagte Hubert, "wir müssten Freunde werden."

      Sein Gekrakel auf einer Tüte ging sehr langsam. "Wenn du mich nicht verrätst, verrate ich dir was."

      Artur gab ihm die Hand darauf, und Hubert flüsterte: "Ihr müsst raus zum Gutsvorwerk, da sanieren sie Kartoffeln. Sie fahren auch bei Frost ab. Sie sagen, die Städter

Скачать книгу