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auch diese Schreibarbeit hatte sie vor Jahren aufgegeben. Denn wer war sie schon, dass sie über die Hoffnungen und Chancen anderer Menschen zu urteilen hatte? Ihre Entscheidungen beeinflussen durfte? Nur weil sie selbst in der Schweiz hoffnungslos gestrandet und doch nie angekommen war?

      Zu ihrer fehlenden Integration und ihrem schwindenden Lebenssinn kam noch ein großes, ständiges Unbehagen hinzu. Denn die Äthiopierin wurde seit Jahren von den Justiz-Behörden beobachtet und immer wieder verfolgt. Alles begann mit der illegalen Beschaffung des experimentellen Medikaments gegen den Gehirntumor ihres Gatten. Das hatte die Staatsgewalt das erste Mal gegen sie auf den Plan gerufen. Die Aufklärung eines Mordes an einem ewigen Studenten in Lausanne, der für kurze Zeit ihr Liebhaber gewesen war, hatte Alabima dann aber eine ganz besondere Gegnerschaft eingetragen. Denn ein Staatsanwalt mit Namen Valentin Snyder träumte von einer politischen Karriere, hatte seine Bekanntheit und Beliebtheit in der Bevölkerung mit Hilfe dieses Mordfalls steigern wollen. Für Monate ließ der Staatsanwalt die Äthiopierin in Untersuchungshaft setzen, versuchte gar, mit allerlei psychologischem Druck und bösartigen Finten, ein falsches Geständnis von der Unschuldigen zu erpressen. Doch Snyder scheiterte kurz vor der Ziellinie. Seitdem sann er auf Rache.

      Einer seiner Mitstreiter war ein verklemmter Kriminal-Kommissar mit Namen Augustin Muffong. Der schien alles zu hassen, was den Namen Lederer trug, zumindest seitdem er mit Jules aneinandergeraten war. Und auch wenn alle diese Geschichten bereits ein paar Jahre zurücklagen, so schwebten sie trotzdem immer noch wie ein Damokles-Schwert über dem Haupt der Frau aus Äthiopien, als eine der dunklen Wolken, die ihr die eigene Zukunft noch kräftig verregnen konnten.

      Nach der Rückkehr von Jules aus Indien vor einigen Monaten waren sie zusammen mit Tochter Alina für drei Wochen in ihre alte, verlorene Heimat Äthiopien zurückgekehrt, hatten dort die Verwandtschaft besucht und alte Freundschaften erneuert. Es war eine sehr schöne und glückliche Zeit für das Ehepaar gewesen. Beide versuchten während diesen Tagen gewissenhaft, ihre Lebenspartnerschaft zu erneuern. Seither wussten sie zumindest, wie sehr sie einander immer noch liebten und auch brauchten. Und so glaubte Alabima fest an einen echten Wandel ihres Jules zum Besseren.

      Wollte es zumindest.

      Durfte es wahrscheinlich auch.

      Denn nichts war bei ihrem Gatten von seiner früheren Überheblichkeit noch zu erkennen oder zu spüren. Auf einmal ging er auf andere Menschen offen zu, so als wäre die ganze Welt zu seinem Freund geworden. Er sprach mit Nachbarn und Anwohnern, quatschte selbst beim Einkauf unverbindlich mit irgendwelchen Kunden, war stets charmant und jovial und gewann ganz nebenbei mit Sicherheit das Herz von so mancher Frau.

      Denn der Schweizer sah immer noch blendend aus. Jules war zwar nie ein ausgesprochen schöner Mann gewesen. Zu scharf und asketisch seine Gesichtszüge, eher einem Wolf ähnlich als einem gemütlichen Bernhardiner. Aber der Schweizer hatte sich seinen sportlichen Körper über die Jahrzehnte weitgehend erhalten, zeigte immer noch weder Bauchansatz noch Buckel, schritt federnd und leicht, schien zumindest fünfzehn Jahre jünger zu sein als sein eigenes Ich.

      Ja, Jules war seit Indien vom Eigenbrötler und Einzelgänger innerhalb kürzester Zeit zu einem freundlichen Nachbarn und geselligen Mitmenschen geworden, hatte seine bisherige Haltung wie eine alte Haut abgestreift und eine neue übergezogen.

      Seine Wandlung war perfekt.

      Zu perfekt?

      Konnte ein Mensch seine inneren Schalter einfach so umlegen? Von hüst zu hott?

      Ein Schauspieler tat das. Ein guter Schauspieler sogar ausgesprochen glaubwürdig. Doch danach schlüpfte er stets wieder aus seiner Rolle heraus, wurde wieder zu demjenigen, der er immer schon gewesen war.

      Alabima fragte sich in diesen Tagen so manches Mal und voller Bangen, ob auch Jules ihnen allen bloß Theater vorspielte. Sie betrachtete und erforschte ihn, wenn er sich unbeobachtet fühlte, versuchte sich in ihn hinein zu versetzen, sich in seine Gedanken einzufühlen. Zurück blieb ihr meist eine vage Ahnung. Oder zumindest ein unbestimmtes Unbehagen. Ähnlich einem Schmutzfleck im Stoff einer Baumwollbluse. Nach mehrmaligem Waschen war er zwar gänzlich verschwunden. Und trotzdem sah man ihn noch, weil man sehr genau wusste, wo man ihn zu suchen hatte.

      Was Alabima allerdings nicht bemerkte, während sie ihren Jules auszuforschen begann, war ihre zehnjährige Tochter Alina. Die beobachtete nämlich ihrerseits ihre Mutter und wunderte sich sehr über das Verhalten von Maman.

      Selbstverständlich hatte die kleine Alina schon viel früher mitbekommen, dass gewisse Dinge bei ihrem Vater Jules nicht richtig funktionierten. In der Schule sprach damals auch eine Kinderpsychologin mit ihr, erklärte die Krankheit Depression. So fand die Kleine eine gesunde Einstellung zum kranken Papa, hatte sich selbstverständlich sehr um ihn gesorgt, aber ohne jemals ins Jammern über sein Schicksal zu geraten.

      Ja, eine gewisse Härte war wohl allen Lederers nicht abzusprechen, egal, in welchem Alter.

      Die so positiven Veränderungen der letzten Wochen und Monate hatte auch Alina an ihrem Vater wahrgenommen, verspürte große Zuversicht und ehrliche Hoffnung. Nie zuvor hatte sie mit ihrem Papa ähnlich offen und irgendwie sogar auf gleicher Ebene sprechen können, wie in letzter Zeit. Doch Alabima, ihre Maman, schien weiterhin skeptisch zu bleiben, auch wenn Papa sich doch ganz anderes gab und verhielt als früher.

      Und so spionierte die Zehnjährige ihrer Mutter nach, sah sie beispielsweise, wenn Vater außer Haus war, in seinem Arbeitszimmer verschwinden, hörte hinter der verschlossenen Tür, wie der Laptop gestartet und wie die Tasten des Keyboards und der Maus hastig geklickt wurden. Oder aber sie sah Maman an der Tür horchen, wenn ihr Vater ein Telefongespräch führte. Einmal ließ sich das Mädchen probeweise bei der Mutter blicken, so als wäre sie zufällig in den Flur getreten. Alabima war heftig zusammengezuckt, zeigte die Scham einer auf frischer Tat Ertappten, hatte ihre Tochter rasch zurück ins Wohnzimmer geführt und ihr dort irgendeine Notlüge aufgetischt, die ihr Lauschen harmlos erklären sollen.

      Alina wusste also, wie sehr sich ihre Maman immer noch um ihren Papa sorgte. Nein, für die Zehnjährige war das, was ihre Mutter tat, kein eigentlicher Vertrauensbruch. Zu viel hatte selbst Alina schon als Kleinkind von den großen Risiken und lebensbedrohlichen Gefahren im Leben der Lederers mitbekommen. Doch die andauernden Zweifel ihrer Mutter an ihrem Vater schienen der Tochter völlig übertrieben.

      Denn warum sollte sich ein Mensch nicht ändern und wandeln können? Vor allem eine derart starke Persönlichkeit wie ihr Papa? Musste sie sich stattdessen nicht eher Sorgen um ihre Maman machen? Dass sie mit ihrem anhaltenden Misstrauen gegenüber ihrem Gatten ihre Beziehung, ihre Ehe und Partnerschaft aufs Spiel setzte? Wie so viele Töchter in ihrem Alter nahm auch Alina eher die Seite ihres Vaters ein und nicht diejenige der Mutter. So war die Natur nun einmal programmiert. So spulte sie sich in der Regel auch ab.

      *

       »Mãmã!«

      Sihena Ling schreckte in ihrem Bett hoch, keuchte stockend, spürte ihr Herz heftig pochen, erkannte erst nach und nach, dass sie in ihrem Schlafzimmer in ihrer Villa in Rio de Janeiro mehr saß als lag und dass alles so war wie immer und wie es auch sein musste. Durch die offene Tür zum Balkon strich ein leichter und doch erfrischender Luftzug hinein, hielt die dünnen Gardinen in sanfter Bewegung. Das Schlafzimmer lag im Mondlicht. Sihena Ling blickte sich um, suchte nach einem Grund für ihr Erwachen, stellte keinen fest. So lauschte die Sechzigjährige nach draußen und in den Garten, wie auch auf den Flur vor der Schlafzimmertür. Doch sie vernahm nichts außer dem leisen Rascheln der Blätter an den Bäumen vor dem Haus.

      Was hatte sie beim Hochschrecken gerufen?

       »Mãmã!«

      Da war sich die chinesisch stämmige Brasilianerin ziemlich sicher.

      Doch was hatte ihre längst verstorbene Mutter Lien in einem ihrer Träume zu suchen? Und erst recht in einer Situation, die wohl derart bedrohlich war, dass sie derart erschrocken aufwachte? Nein, Sihena Ling konnte sich beim besten Willen nicht an ihren Traum erinnern. Doch furchteinflößend musste er gewesen sein. Denn ihr Puls war immer noch erhöht und auch das Atmen noch

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