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verpflichtet. Bei diesen Leuten existiert eine Ehe, bei uns jedoch nicht. Bei uns heiraten die Leute, ohne in der Ehe etwas anderes zu sehen als eine Paarung, und das Ende vom Liede ist Betrug oder Gewalttat. Der Betrug wird noch einigermaßen leicht ertragen. Mann und Frau lügen den Leuten vor, daß sie in der Einehe leben, in Wirklichkeit jedoch leben sie in Vielweiberei und Vielmännerei; das ist widerwärtig, aber es geht noch an; doch wenn, wie es zumeist der Fall ist, Mann und Frau die äußerliche Verpflichtung übernommen haben, ihr ganzes Leben lang gemeinsam zu leben und schon vom zweiten Monat an einander hassen und den Wunsch hegen, sich zu trennen, und dennoch zusammen weiterleben, dann entsteht jene fürchterliche Hölle, in welcher Trunksucht, Revolver und Gift, Mord und Selbstmord ihre verhängnisvolle Rolle spielen.« Er hatte das alles ganz rasch gesagt, ließ niemanden zu Worte kommen und war mehr und mehr in Hitze geraten.

      Eine peinliche Stimmung herrschte unter uns.

      »Gewiß, ohne Zweifel gibt es kritische Episoden im Eheleben«, sagte der Advokat, der dem anstößigen, hitzigen Tone des Gespräches ein Ende machen wollte.

      »Sie haben mich erkannt, wie ich sehe?« sagte der grauhaarige Herr leise und scheinbar ruhig.

      »Nein, ich habe nicht das Vergnügen, Sie zu kennen.«

      »Das Vergnügen wäre nicht allzu groß. Ich bin Posdnyschew, der Mann, dem jene kritische Episode passiert ist, auf die Sie angespielt haben – der Mann, der seine Frau getötet hat«, sagte er und ließ seinen Blick rasch über uns alle hingleiten.

      Niemand faßte sich schnell genug, um ihm etwas zu erwidern, und alles schwieg.

      »Nun, gleichviel«, sagte er und stieß wieder seinen Laut aus. »Verzeihen Sie übrigens … äh! Ich will nicht weiter stören.«

      »Oh, nicht doch, bitte recht sehr«, sagte der Advokat, ohne selbst zu wissen, um was er eigentlich »bitten« sollte. Posdnyschew hörte jedoch nicht auf ihn, wandte sich rasch um und ging auf seinen Platz. Der Advokat flüsterte mit der Dame. Ich saß jetzt neben Posdnyschew und wußte nicht, was ich sagen sollte. Zum Lesen war es zu dunkel, so schloss ich die Augen und stellte mich, als wollte ich einschlafen. Schweigend fuhren wir bis zur nächsten Station.

      Auf dieser Station stiegen der Advokat und die Dame in einen andern Wagen, sie hatten das schon vorher mit dem Schaffner verabredet. Der Handlungsgehilfe hatte sich auf der Sitzbank ausgestreckt und war eingeschlafen, Posdnyschew rauchte und trank seinen Tee, den er sich schon auf der vorhergehenden Station bereitet hatte.

      Als ich die Augen öffnete und ihn ansah, wandte er sich plötzlich in erregtem, heftigem Tone an mich:

      »Es ist Ihnen vielleicht unangenehm, neben mir zu sitzen, nachdem Sie wissen, wer ich bin? Dann will ich hinausgehen.«

      »O nein, ich bitte Sie!«

      »Nun, dann erlaube ich mir, Ihnen ein Glas Tee anzubieten. Er ist aber sehr stark.«

      Er schenkte mir ein Glas Tee ein.

      »Da machen sie nun schöne Worte… . Und alles ist Lüge… .« sagte er.

      »Wovon reden Sie?« fragte ich.

      »Immer noch von derselben Sache: von der sogenannten Liebe und was so drum und dran ist. Sie wollen vielleicht schlafen?«

      »Nein, ich bin nicht müde.«

      »Dann will ich Ihnen, wenn Sie gestatten, erzählen, wie ich durch eben diese Liebe zu alledem gekommen bin, was ich erlebt habe.«

      »Ja, wenn es Ihnen nicht schwer fällt.«

      »Nein, eher fällt mir das Schweigen schwer. Trinken Sie, bitte – oder ist Ihnen der Tee zu stark?«

      Der Tee war in der Tat so dunkel wie Bier, doch ich trank mein Glas aus. In diesem Augenblick ging der Schaffner durch das Coupé. Posdnyschew folgte ihm mit finsterem Blick und begann erst, als er fort war.

      3

      Nun, so will ich Ihnen also erzählen … Es ist Ihnen doch recht?«

      Ich versicherte nochmals, daß es mir sehr recht sei. Er schwieg eine Weile, fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und begann:

      »Wenn ich schon davon erzähle, so muß ich alles von Anfang an erzählen: ich muß erzählen, wie und weshalb ich heiratete und wes Geistes Kind ich vor meiner Heirat gewesen bin.

      »Ich lebte vor meiner Heirat so, wie alle – das heißt alle, die zu unserem Gesellschaftskreise gehören – zu leben pflegen. Ich bin Gutsbesitzer, Kandidat der Universität und war Adelsmarschall. Ich lebte bis zu meiner Heirat wie alle leben, das heißt ich gab mich Ausschweifungen hin und war überzeugt, daß ich ein ganz normales Leben führe. Ich hielt mich für einen lieben Jungen und einen durchaus moralischen Menschen. Ich war kein Verführer, hatte keine unnatürlichen Neigungen und machte den Sinnengenuss nicht zum Hauptziel meines Lebens, wie das so viele meiner Altersgenossen taten, sondern gab mich der Ausschweifung mit Maß, auf anständige Art, um der Gesundheit willen hin. Ich ging solchen Frauen aus dem Wege, die mich durch die Geburt eines Kindes oder durch allzu große Anhänglichkeit an meine Person hätten fesseln können.

      »Übrigens, vielleicht waren Kinder da, und vielleicht war auch gelegentlich eine größere Anhänglichkeit vorhanden, doch ist stellte mich so, als ob nichts davon da wäre. Und das hielt ich nicht nur für moralisch, sondern ich bildete mir gar etwas darauf ein …«

      Er hielt inne und gab seinen Laut von sich, wie er immer zu tun pflegte, wenn ihm offenbar ein neuer Gedanke durch den Kopf ging.

      »Darin liegt ja gerade die Hauptgemeinheit«, schrie er auf. »Die Ausschweifung beruht nicht auf irgend etwas Physischem – physische Unanständigkeit ist bei weitem noch keine Ausschweifung; die Ausschweifung besteht gerade darin, daß der Mann sich von jeglicher moralischen Beziehung zu der Frau, mit der er in physischen Verkehr tritt, für frei hält. Und eben diese Selbstbefreiung rechnete ich mir sogar zum Verdienst an. Ich erinnere mich, welche Qual es mir bereitete, als ich einstmals einer Frau, die sich mir wahrscheinlich aus Liebe hingegeben hatte, kein Geld hatte geben können und wie ich mich erst beruhigte, als ich ihr eine gewisse Summe übersandt und damit zu verstehen gegeben hatte, daß ich mich nunmehr ihr gegenüber in keiner Weise für moralisch gebunden erachte … Nicken Sie nicht mit dem Kopfe, als wenn Sie mir beistimmten!« schrie er mich plötzlich an. »Ich kenne diese Mätzchen. Wir alle, und auch Sie, wenn Sie nicht eine seltene Ausnahme bilden, haben bestenfalls dieselben Ansichten, die auch ich damals hatte. Nun, gleichviel, nehmen Sie es mir nicht übel«, fuhr er fort, »aber die Sache ist eben die, daß das alles so entsetzlich, entsetzlich, entsetzlich ist!«

      »Was ist so entsetzlich?« fragte ich.

      »Dieser Abgrund der Verirrung, worin wir hinsichtlich der Frauen und der Beziehungen zu ihnen dahinleben. Nein, ich vermag davon nicht ruhig zu sprechen – nicht darum, weil mir diese ›Episode‹, wie jener Herr sich ausdrückte, zugestoßen ist, sondern weil mir seit der bewußten Episode die Augen aufgegangen sind und ich alles in einem völlig neuen Lichte sehe. Alles umgekehrt, alles umgekehrt!«

      Er zündete sich eine Zigarette an, stützte die Ellbogen auf die Knie und begann aufs neue.

      In der Dunkelheit konnte ich sein Gesicht nicht sehen, sondern hörte nur durch das Rütteln des Wagens seine eindringliche, wohlklingende Stimme.

      4

      Ja, nur dank den Leiden, die ich erduldete, nur durch sie habe ich die Wurzel alles Übels erkannt, und begriffen, wie alles sein sollte, und darum die ganze Entsetzlichkeit des Bestehenden durchschaut.

      »Wollen Sie nun gefälligst aufmerken, wie und wann das seinen Anfang nahm, was schließlich zu meiner Episode führte. Es begann zu einer Zeit, da ich noch nicht volle sechzehn Jahre zählte. Ich war damals noch auf dem Gymnasium und mein älterer Bruder stand als Student im ersten Semester. Ich kannte die Frauen noch nicht, doch war ich, wie all die unglücklichen Kinder unserer Gesellschaftskreise, kein unschuldiger Knabe mehr; seit

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