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      Heinrich Mann

      Kaiserreich Trilogie

      2. Band: Die Armen

      Texte: © Copyright by Heinrich Mann

      Umschlag: © Copyright by Gunter Pirntke

      Verlag:

      Das historische Buch, Dresden / Brokatbookverlag

      Gunter Pirntke

      Mühlsdorfer Weg 25

      01257 Dresden

      [email protected]

      Inhalt

       Impressum

       I. Hassende, Liebende

       II. Der Arbeiter und das Bürschlein

       III. Mit Euch, Herr Doktor, zu spazieren

       IV. Die sittlichen Faktoren

       V. Das Richtfest

       VI. Geh' nicht fort!

       VII. Ultima ratio

      Die Kinder schrien tosend vor dem großen Arbeiterhaus von Gausenfeld; hunderte von Kindern, hervorgequollen aus dem überfüllten Haus, worin sie alle geboren waren, rannten, zappelten, prügelten sich auf der grauen Wiese. Alte Männer, die nicht mehr arbeiteten, standen, wenn sie besonnt war, an der Mauer und sahen ihnen zu. Die Kleinsten fielen unaufhörlich in den Graben, der die Wiese von der Landstraße trennte, immer eilten Mütter oder Schwestern zum Retten herbei. Die Größeren sprangen hinüber, am liebsten auf der Seite, wo der Graben neben dem Weg zum Friedhof lief; und drüben warfen sie einander gegen den wackligen Zaun der Villa Klinkorum. Brach ein Brett heraus, dann rasch hinein und Äpfel holen. Der Besitzer hörte mit Zorn und Entsetzen das Knacken der Zweige, die sie mitrissen, aber auf seinen steifen Beinen kam er immer zu spät, sie waren schon draußen und zeigten ihm aus einiger Entfernung das unreife Obst, es sei auf der Straße gelegen. Dann hielt er ihnen eine Rede über das Eigentum und die Bildung, immer dieselbe Rede, denn niemals merkte er, daß er es mit denselben Jungen zu tun hatte. Klinkorum war Schullehrer gewesen, aber einer für die Reichen; und weil ihm schon die Zähne ausgefallen waren, wollte er nun hier sich mausig machen. Kaum war er fort, polterten alle gegen seinen Zaun, und irgendeiner kroch hinein und setzte ihm etwas auf den Gartenweg. Der alte Malermeister, der unten im Haus wohnte, durfte es sehen, er lachte, wenn er auch schalt. Nur den kleinen Mädchen war es von ihren Müttern streng verboten, ihm zu nahe zu kommen.

      Dies war nicht alles, was Professor Klinkorum zu erdulden hatte. Kehrte er aus der Stadt heim, zuweilen schon ganz nahe bei seinem Grundstück überholte ihn, wie er auch hastete, das Heßlingsche Automobil und bedeckte ihn mit Staub oder Schmutz. Generaldirektor Geheimer Kommerzienrat Dr. Heßling in seinem Staubmantel blickte unerbittlich geradeaus, und Klinkorum, von außen gegen seinen eigenen Zaun gedrängt, äugte mit ohnmächtigem Haß, bis er, ganz in einer stinkenden Wolke befangen, die Augen schloß. Innerlich hielt er in solchen Minuten seine zweite Rede über das Eigentum, die Rede dagegen, – wenn es nämlich schrankenlos und überheblich war. Die Bildung war das Erste und mußte es bleiben.

      Damit ging er hinauf in sein Studierzimmer. Von hier übersah er ganz Gausenfeld, hinter den Arbeiterhäusern das wüste Gelände, bis zum Wald, bis zur Fabrik. Es ward Nacht, an der Friedhofsmauer die Lampe leuchtete nahe, und weit dorthinten die gereihten Lichter der Fabrik.

      Aus der Fabrik kehrten die Arbeiter heim; ihr Massenschritt dröhnte, von ferne fühlbar, bis in das Studierzimmer; und Klinkorum dachte nicht ohne Achtung an den Herrn der Massen, ihn, Heßling, Besitzer Gansenfelds, großen Reichtums und mancher Würden. Wie hatte er es dahin gebracht, als Chemiker und Papierfabrikant? Durch Machenschaften und Kunstgriffe geschäftlicher wie politischer Art, über die es auch nach sechzehn Jahren in der Stadt noch nicht still war. Der selbstgemachte Mann freilich blieb zu achten. Er wieder aber achte noch höhere Rechte! Klinkorum hatte gespart, bis er weit draußen an der Landstraße dies einsame kleine Haus erstehen konnte, die Freude seines letzten Lebensdrittels. Gepflegt und lauschig, ein Sitz der Muse, ruhte es im Grünen, unaufgestört von Weihelosen; denn nur langsame Bauernwagen zogen, mit Ochsen, breitstirnigen, schwerausschreitenden bespannt, vorüber, und Gausenfeld, das einzige größere Anwesen in der Weite, diese Stätte der Papierfabrikation lag jenseits von Feldern und Wald, man sah, hörte und roch sie nicht. Da aber, was geschah? Der neue Herr von Gausenfeld vergrößerte seine Fabrikanlagen. Er legte den Wald so weit nieder, als er jene unedlen Baulichkeiten dem Blick entzogen hatte. Die Arbeiter-Familienhäuser wuchsen über das Feld heran, immer nach Westen, immer auf Klinkorum zu. Auch kam es dahin, daß gleich hinter seinem Zaun dies Volk sich begraben ließ. Und dem Friedhof, als vorletztem Streich, folgten die Kasernen der Proletarier, Ungeheuer von Häusern, hinschattend über Klinkorum und seinen bescheidenen Ruhesitz, ihn mit Gerüchen bedrängend, in Ruß verschüttend so Garten wie Haus und um es her eine Zone breitend des Gestampfes, Geschreis, Totschlages und der bildungsfeindlichen Roheit!

      Nun waren die Lichter ausgelöscht in der Fabrik und entzündet in den Kasernen, in der Kantine an ihrem Flügel. Dorther kam Lärm. Der Arbeiter Karl Balrich aber, still in seinem Zimmer 101 des Arbeiterhauses B, stand am Fenster, sah vor sich dasselbe wie der Besitzer der Villa Klinkorum und dachte nach, auch er, über die Welt, die ihn umgab. Freilich, die vielen Geräusche des Hauses selbst, von rechts, links, oben, unten übertönten bei weitem seine Gedanken an das Fernere. Er hörte um sich her, des Sonntags wenn er ruhte und jetzt am Abend bevor er schlief, Streit, Küsse, Gespräche über Geld und Essen, die Prügel für die Kinder, hörte durch das hallende und zitternde Haus alles was vorging, was das Leben der Menschen war und was es schon nicht mehr war: ihr letztes Wimmern, ihr Abschiedsgestöhn. Aber öfter als Sterben hörte er Gebären. Er sagte sich dann, je nachdem ihm an dem Abend zu Sinn war: »Wieder ein Mann für die Arbeiterbataillone« oder: »Heßling kann lachen; wieder ein Dummer.«

      Denn der Arbeiter Balrich sah, wie die Dinge lagen, in der Person des Generaldirektors Heßling den höchsten Zweck und das letzte Ergebnis des ihn umgebenden Lebens, aller dieser Mühen, Aufregungen und Schmerzen – und nicht nur dieser hier. Von Gausenfeld zu schweigen, die Stadt, wie sie war, arbeitete für den Reichen und fristete sich nur durch ihn. Das Land selbst drehte sich wahrscheinlich nur um seinesgleichen. Ihm zuliebe das Militär; und der König sogar eigentlich sein Narr. Den hielt er sich aus, er aber verdiente. Auf das Geld kam es an.

      »Wenn es auf das Geld ankäme,« sagte an seinem Fenster der Professor, »dann würde dieser Heßling mit Recht die Umstände meines Lebens auf jene Stufe hinabdrücken, wo seine Lohnsklaven schmachten, – indes er selbst –.« Hinter dem Wald wohnte er selbst. Über dem von ihm bebauten Tal der Armut und des Unrates, aber bewahrt vor seinem Duft und Anblick, hinter eigenem Wald auf grünem Hügel, in seiner hellen und blumenumleuchteten »Villa Höhe« hauste leichten Herzens mit den hochgemuten Seinen der Eigentümer, Anstifter und Nutznießer dieser ganzen sozialen Schmutzerei. Das Wort fiel. Zwei Freunde traten ein bei Klinkorum, und sowohl der Arzt Dr. Heuteufel wie der Konsistorialrat Zillich wiederholten das Wort. Je höher die Bildung, um so entwickelter der soziale Sinn – und mit ihm das Feingefühl für die Herausforderungen des Kapitals, dies Hinbreiten des ausschweifendsten Luxus gleich neben dem Schauspiel des Elends, dieses Autojagen an den Enterbten vorbei, dies Hupengeheul.

      Die Schwester des Arbeiters Balrich bekam droben von Dinkl, ihrem Mann, eine Ohrfeige, die bis her schallte, und sie selbst hieb

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