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Pankreaskarzinom“, er machte wieder eine kurze Pause und spielte mit seinem Kugelschreiber, „wenn man wie Sie schon erhebliche Beschwerden hat, ist es schon etwas … spät.“

      Bassler atmete tief ein.

      „Sie meinen, zu spät?“

      Dr. Marquardt ersparte sich die Antwort, die nur Ja hätte lauten können.

      Doris Bassler griff jetzt doch nach dem Wasser und leerte das Glas in einem Zug.

      „Welche Behandlung gibt es und wie erfolgreich sind sie?“

      „Nun, da gibt es durchaus viel Hoffnung …“

      „Die Wahrheit, Herr Doktor! Reden Sie nicht um den heißen Brei herum, sondern sagen Sie mir die Wahrheit. Ich will sie hören und ich kann sie vertragen!“

      Ihre Hände verkrampften sich.

      Marquardt legte den Kugelschreiber weg und kehrte zu seiner Händepyramide zurück, seine Stimme senkte sich.

      „Die erste Option ist eine Operation. Dabei werden das Tumorgewebe und die umgebenden Lymphknoten möglichst weitgehend entfernt. Aber …“, er machte eine kurze Pause und es fiel ihm offensichtlich schwer weiter zusprechen, „das geht bei Ihnen nicht.“

      „Warum nicht?“

      „Der Tumor ist zu groß, und er hat bereits Metastasen in Leber und Lunge gebildet.“

      Bassler nickte. Ihr Mund war trocken geworden und neue Tränen trübten ihre Sicht. Sie fuhr hastig mit einem Taschentuch über ihre Augen. Aber jetzt wollte sie alles wissen.

      „Gar keine Hoffnung mehr?“

      „Doch, doch“, wiegelte der Arzt ab. „Wir werden eine Chemotherapie durchführen und die kann sehr erfolgreich sein.“

      Bei seiner Aussage fühlte er sich äußerst unwohl, denn er wusste genau, dass er nicht die Wahrheit sagte. Bei diesem Stand der Krankheit konnte eine Chemotherapie bestenfalls eine kurzzeitige Lebensverlängerung bringen. Nein, er wusste genau, dass die liebenswerte Patientin, die vor ihm saß, unweigerlich einem baldigen Tod geweiht war.

      „Ich würde Ihnen gerne die Einzelheiten und Folgen dieser Therapie erläutern und …“

      Bassler winkte ab.

      „Nicht jetzt, Herr Doktor, ich werde das in aller Ruhe mit meinem Mann besprechen und dann entscheiden, wie es weitergeht. Vielen Dank!“

      Sie verabschiedete sich und verließ die Praxis.

      Im Treppenhaus brach sie zusammen.

       15. Kapitel

       Meschenich bei Köln

       „Sie mögen in diesem Augenblick ein triumphierendes Machtgefühl empfinden. Aber sie sollen sich nicht täuschen. Der Terrorismus hat auf die Dauer keine Chance. Denn gegen den Terrorismus steht nicht nur der Wille der staatlichen Organe. Gegen den Terrorismus steht der Wille des ganzen Volkes. Dabei müssen wir alle trotz unseres Zorns einen kühlen Kopf behalten.“ (Helmut Schmidt, 1977)

      Im Süden von Köln liegt der Ortsteil Meschenich, ein gutes Stück von der Innenstadt entfernt und dem Städtchen Brühl eigentlich näher als Köln. Das ehemals idyllische Dörfchen hat sich stark verändert – und nicht zu seinem Vorteil.

      Grund ist der 1973 erbaute Hochhauskomplex aus neun Hochhäusern, die bis zu 26 Etagen haben und mehr als dreizehnhundert Wohneinheiten aufweisen. Hier leben mehr als viertausend Menschen aus über sechzig Nationen. Was als hochwertiges Immobilienprojekt mit Schwimmbad, Saunabereich, Tennisplatz, Fußballplatz, Tiefgarage und Kindergarten im Rahmen eines Bauherrenmodells konzipiert worden war, endete als multikulturelle Bausünde, als Ghetto, als Musterbeispiel für städtebauliche Fehlplanung mit erheblichem Kriminalitätspotential.

      Der zunehmende Zuzug finanzschwacher Migranten führte zu eklatanten sozialökonomischen Unterschieden und dazu, dass die ursprünglich vorgesehene Zielgruppe das Gebiet fluchtartig verließ. Dazu kam, dass in der Nähe Prostituierte und ihre Beschützer in erheblicher Zahl ihrem Gewerbe nachgingen mit all den unerfreulichen Begleiterscheinungen, die das Gewerbe mit sich zu bringen pflegt.

      Wer dort lebt, kann nicht anders und lebt nach der Devise: Wenn ich nicht haben kann, was mir gefällt, muss mir eben das gefallen, was ich habe!

      In einem dieser Hochhäuser, einem ziemlich verwahrlosten Zimmer des 18. Stocks mit zugegeben interessanter Fernsicht bis auf den Dom saßen Samira Darashi und Anne Mundorf, die sich jetzt Aabidah nannte, zusammen und überlegten das weitere Vorgehen.

      Samira war einen Kopf kleiner als ihre Freundin, ihre langen schwarzen Haare verbarg sie unter einem gemusterten Kopftuch. Ihre Gesichtszüge waren kaum hübsch zu nennen, eher herb und bestimmend und ihre kleinen Augen weckten kein Vertrauen. Über der Jeans trug sie einen schwarzen Umhang, der bis zum Knöchel reichte.

      Das Zimmer wies außer drei Matratzen, einem Tisch mit vier verschlissenen, mit Brokat bezogenen Sesseln und einem Schrank, dem sämtliche Türen fehlten, keine Möbel auf und hatte den Charme einer verlassenen Turnhalle in Aleppo. Auf dem Tisch standen noch die Reste eines kargen Frühstücks.

      „Du hast das richtig gemacht, Aabidah“, sagte Samira bestimmt und legte den Arm um ihre Freundin, „zu Hause hattest du die Hölle, jetzt wartet das Paradies auf dich.“

      Aabidah nickte ohne rechte Überzeugung. Sie hätte heulen können. Auf einmal war ihr die Tragweite ihres Tuns bewusst worden. Sie hatte einen völligen Bruch mit der Familie vollzogen, liebe Menschen wie Mutter und Bruder zurückgelassen und war in eine ferne, völlig unsichere Zukunft aufgebrochen. Eine Zukunft, die ihr, wie sie wusste, nicht Liebe und Hoffnung, sondern Tod und Zerstörung bringen konnte. All die markigen Worte, die sie noch im Gespräch mit Pfarrer Bassler im heimischen Wohnzimmer voller Begeisterung von sich gegeben hatte, waren verflogen. Und wenn nicht Samira wäre, würde sie vielleicht …

      „Schau mich an!“

      Samiras Stimme holte sie aus ihren trübseligen Gedanken abrupt heraus.

      „Ich war früher auch so verzagt wie du. Jetzt habe ich den richtigen Weg gefunden, Allah, sein Name sei gepriesen, hat mir geholfen und jetzt fühle ich mich glücklich. Er hat Großes mit uns vor und wir dürfen uns glücklich preisen. Wir werden gemeinsam mit unseren Brüdern und Schwestern in den Kampf ziehen, und wir werden siegen!“

      „Ja“, sagte Aabidah lahm, „und wie geht es jetzt weiter?“

      Ihre Stimme klang schüchtern und verzagt.

      „Wir müssen mit Ahmed sprechen, er wird gleich hier sein.“

      Sie goss der Freundin ein weiteres Glas Tee ein und gemeinsam kauten sie an dem trockenen Keks, der auf dem Tisch lag. Minuten lang hingen sie ihren Gedanken nach, die eine voller Zweifel, die andere in fanatischer Vorfreude.

      Dann öffnete sich die Tür.

      Ein Mann trat ein, um die Dreißig, mit langem, schwarzem Vollbart. Sein gebräuntes Gesicht wies ebenmäßige, sympathische Züge auf, weiße Zähne glänzten zu einem freundlichen Lächeln. Er trug einen arabischen Kaftan, eine Djellaba in dunklem Grau, auf dem Kopf eine Mütze, eine Taguia in gleicher Farbe. Mit erhobenen Händen ging er auf die beiden Mädchen zu, die sofort aufgestanden waren.

      Er schlug gegen seine Brust und umarmte sie.

      „Samira! Aabidah! Salem aleikum! Mein Herz freut sich, euch zu sehen.

      Besonders dich, Aabidah, weil ich weiß, dass du nun dem Ruf Gottes gefolgt bist und aus einer Kāfirah eine wahre Tochter Allahs geworden ist. Wir wollen uns verbeugen und Allah danken.“

      Sie begaben sich auf die Knie und dankten Gott in stiller Andacht, wobei Aabidah keine Ahnung hatte, was sie sagen sollte. In ihrem Herz tobten immer noch die Stürme der Ungewissheit.

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