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der dritten Ebene der Interpretation kommt der/die Einzelne ins Spiel, der mit anderen nicht vergleichbar ist. Dies hat auch die Medizin bereits erkannt. Wie erwähnt spricht man von individueller und personalisierter Medizin. Als individuelle Medizin sollte man jenen naturwissenschaftlichen Zugang bezeichnen, der das je einmalige Genom des Menschen betrachtet. Die personalisierte Medizin betrachtet den/die Einzelne:n in seiner Umgebung, in der Familie, in der Arbeitswelt, aber auch mit seiner/ihrer ganz individuellen Innenwelt. Hier geht es um die psychische Ebene des Menschen, aber auch um seine geistig-spirituelle Dimension.

      Der Mensch kann in seinem Innenleben und damit auch leiblich erfahren, in welche Richtung er unterwegs ist. Er wird innerlich bewegt und bewegt sich äußerlich in eine bestimmte Richtung. Im Zentrum christlicher Spiritualität steht der Satz des Vater Unser: „Dein Wille geschehe.“ Das klingt nach Fremdbestimmung. Den Willen eines anderen Menschen zu tun, ist Fremdbestimmung. Bei Gott ist es umgekehrt: Den Willen Gottes zu erfüllen, führt zum innersten Kern des Menschen. Der Mensch, der diesen Willen sucht und erfüllt, kann schrittweise von falschen innerweltlichen Abhängigkeiten frei werden hin zum Finden der eigenen Berufung, Identität, inneren Stimmigkeit, Einmaligkeit.

      Der Mensch, der in diesem dynamischen Prozess fortschreitet, findet je neu seinen inneren Frieden und tiefe Freude. Ignatius nennt diesen inneren Seelenzustand „Trost“: „Ich rede von Trost, wenn in der Seele eine innere Bewegung [Hervorhebung M. B.] sich verursacht, bei welcher die Seele in Liebe zu ihrem Schöpfer und Herrn zu entbrennen beginnt […] und endlich nenne ich Trost jede Zunahme von Hoffnung, Glaube, Liebe, und jede innere Freudigkeit, die ihn zu den himmlischen Dingen ruft und zieht und zum eigenen Heil seiner Seele, indem sie ihn besänftigt und befriedet in seinem Schöpfer und Herrn“ (EB 316). Das Herausfallen aus dieser inneren Einheit nennt er „Trostlosigkeit“: „Ich nenne Trostlosigkeit alles, was zur dritten Regel in Gegensatz steht, als da ist: Verfinsterung der Seele, Verwirrung in ihr, Hinneigung zu den niedrigen und erdhaften Dingen, Unruhe verschiedener Getriebenheiten und Anfechtungen, die zum Mangel an Glauben, an Hoffnung, an Liebe bewegen, wobei sich die Seele ganz träg, lau, traurig findet und wie getrennt von ihrem Schöpfer und Herrn“ (EB 317).

      Nimmt man diese Aussagen von Frieden und innerer Freude auf der einen Seite und von Zerrissenheit, Getriebensein, Unruhe auf der anderen Seite mit den Aussagen der Psychoneuroimmunologie über innere Zerrissenheiten, Konflikte, Disstress zusammen, kann man durchaus schließen, dass auch diese existenziell-spirituelle Dimension des Menschen Auswirkungen auf Genetik, Epigenetik und das Immunsystem haben und somit auf Krankheit und Gesundheit. Bei einer solchen Interpretation geht es nicht um Schuld, sondern um Erkenntnis, Reflexion, Bedeutung oder Sinn einer Erkrankung.

      Allerdings gibt es hier keine hundertprozentige Relation. Es kann jemand „richtig“ leben und die geschilderten Zusammenhänge erkennen und doch erkranken. Das hängt mit Umwelteinflüssen zusammen oder mit der möglichen Ausgesetztheit einer krankmachenden Umgebung (z. B. schlechte Hygienemaßnahmen in ärmeren Ländern). Es kann auch sein, dass jemand krank bleibt und doch den Sinn einer solchen Erkrankung entdeckt. So ist es Paulus ergangen. Er bittet Gott mehrfach, ihm seine Krankheit zu nehmen (womöglich eine Epilepsie), aber dieser Wunsch wird abgelehnt und stattdessen gesagt: Meine Gnade soll dir genug sein. Und dann erkennt Paulus den Sinn dieser Erkrankung, dass ihm ein Stachel ins Fleisch getrieben ist, damit er sich nicht überhebt.

      5 Zusammenfassung

      Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Gesundheit und Krankheit sind je neu herzustellende Gleichgewichtssysteme. Sie sind einerseits ein naturwissenschaftliches Geschehen und haben zum anderen mit dem Innenleben und Entscheidungen des Menschen zu tun. Im Inneren des Menschen finden Interaktionen zwischen psychischen und existenziell-spirituellen Seelenbewegungen statt. Aus christlich-spiritueller Sicht führt die Kongruenz mit dem göttlichen Wollen je neu zu innerer Stimmigkeit, Frieden, Freude. Wie sich auf der naturwissenschaftlichen Ebene immer neu ein Gleichgewicht einstellen muss, kann auch auf der geistigen Ebene durch gute Entscheidungen je neu ein inneres Gleichgewicht hergestellt werden. Die anima forma corporis-Lehre des Thomas von Aquin kann zusammengedacht werden mit den Vorstellungen der In-forma-tion des Organismus durch Genetik und Epigenetik. Die Perspektive von innen nach außen kann sich mit jener von außen nach innen komplementär ergänzen. Der alte Satz mens sana in corpore sano – ein gesunder Geist in einem gesunden Körper – kann erweitert werden mit: ein gesunder geordneter Geist ist eine gute Voraussetzung (keine Garantie) für einen gesunden Körper und Leib.

      Der Autor: Prof. Dr. med. Dr. theol. Mag. pharm. Matthias Beck, abgeschlossene Studien in Pharmazie, Medizin, Philosophie und Theologie; Promotion in Medizin

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