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offiziell geeicht, deren Inhalt ich so im Kopfe hatte, daß ich alle Daten in bezug auf brandenburgisch-preußische Fürsten, berühmte Generale, Schlachttage usw. am Schnürchen hersagen konnte. Schmerzlich wartete ich auf das Ende der Lehrzeit, ich hatte Sehnsucht, die ganze Welt zu durchstürmen. Aber so schnell, wie ich wünschte, ging es nicht. An demselben Tage, an dem meine Lehrzeit beendet war, starb mein Meister, und zwar ebenfalls an der Schwindsucht, die damals in Wetzlar förmlich grassierte. So kam ich in die seltsame Lage, an demselben Tage, an dem ich Geselle geworden war, auch Geschäftsführer zu werden. Ein anderer Geselle war nicht vorhanden, ein Sohn, der das Geschäft hätte fortführen können, fehlte; so entschloß sich die Meisterin, allmählich auszuverkaufen und das Geschäft aufzugeben. Für die Meisterin, die eine auffallend hübsche und für ihr Alter ungewöhnlich rüstige Frau war, die mich stets gut behandelte, wäre ich durchs Feuer gegangen. Ich zeigte ihr jetzt meine Hingabe dadurch, daß ich über meine Kräfte arbeitete. Von Mai bis in den August stand ich mit der Sonne auf und arbeitete bis abends 9 Uhr und später. Ende Januar 1858 war das Geschäft liquidiert, und ich rüstete mich zur Wanderschaft. Als ich mich von der Meisterin verabschiedete, gab sie mir außer dem fälligen Lohn noch einen Taler Reisegeld. Am 1. Februar trat ich die Reise zu Fuß bei heftigem Schneetreiben an. Mein Bruder, der das Tischlerhandwerk erlernte, begleitete mich ungefähr eine Stunde Weges. Als wir uns verabschiedeten, brach er in heftiges Weinen aus, eine Gefühlsregung, die ich nie an ihm beobachtet hatte. Ich sollte ihn zum letzten Male gesehen haben. Im Sommer 1859 erhielt ich die Nachricht, daß er binnen drei Tagen einem heftigen Gelenkrheumatismus erlegen sei. So war ich der Letzte von der Familie.

      Mein nächstes Ziel war Frankfurt a.M. Von Langgöns aus benutzte ich die Bahn und kam so noch an demselben Tage den Abend in Frankfurt an, wo ich in der Herberge zum Prinz Karl einkehrte. Arbeit wollte ich noch nicht nehmen, so fuhr ich zwei Tage später mit der Bahn nach Heidelberg. Der Zug, auf dem ich fuhr, hatte statt Glasfenster Vorhänge aus Barchent, die zugezogen werden konnten. Damals bestand noch der Paßzwang, das heißt es bestand für die Handwerksburschen die Verpflichtung, ein Wanderbuch zu führen, in das die Strecken, die sie durchwandern wollten, polizeilich eingetragen – visiert – wurden. Wer kein Visum hatte, wurde bestraft. In vielen Städten, darunter auch in Heidelberg, bestand weiter zu jener Zeit die Vorschrift, daß die Handwerksburschen morgens zwischen 8 und 9 Uhr auf das Polizeiamt kommen mußten, um sich ärztlich, namentlich auf ansteckende Hautkrankheiten, untersuchen zu lassen. Wer die Stunde für diese Visitation übersah, mußte mit der Abreise bis zum nächsten Tage warten, er bekam kein Visum. So erging es mir, weil ich die Vorschrift nicht kannte und auf das Polizeiamt zu spät kam. Von Heidelberg wanderte ich zu Fuß nach Mannheim und von dort nach Speier, woselbst ich Arbeit fand. Die Behandlung war gut und das Essen ebenfalls und reichlich, schlafen mußte ich dagegen in der Werkstatt, in der in einer Ecke ein Bett aufgeschlagen war. Das geschah mir später auch in Freiburg i.B. In jener Zeit bestand im Handwerk noch allgemein die Sitte, daß die Gesellen beim Meister in Kost und Wohnung waren, und diese letztere war häufig erbärmlich. Der Lohn war auch niedrig, er betrug in Speier pro Woche 1 Gulden 6 Kreuzer, etwa 2 Mark. Als ich mich darüber beklagte, meinte der Meister: er habe in seiner ersten Arbeitsstelle in der Fremde auch nicht mehr erhalten. Das mochte fünfzehn Jahre früher gewesen sein. Sobald das Frühjahr kam, litt es mich nicht mehr in der Werkstätte. Anfang April ging ich wieder auf die Walze, wie der Kunstausdruck für das Wandern lautet. Ich marschierte durch die Pfalz über Landau nach Germersheim und über den Rhein zurück nach Karlsruhe und landaufwärts über Baden-Baden, Offenburg, Lahr nach Freiburg i.B., woselbst ich wieder Arbeit nahm. In jenem Frühjahr war die Nachfrage nach Schneidergehilfen ungemein stark; und da ich sehr flott marschierte und im Aeußern der Vorstellung, die man sich von einem Schneidergesellen machte, durchaus entsprach, wurde ich auf dieser Reise öfter schon vor den Toren der Städte von Schneidermeistern angesprochen, die in mir ein Objekt für ihre Ausbeutung zu sehen glaubten. Mehrere wollten nicht glauben, daß ich kein Schneider sei, andere wieder entschuldigten sich, daß sie mich für einen solchen gehalten, »weil ich ganz wie ein Schneider aussähe«.

      In Freiburg i.B. verlebte ich einen sehr angenehmen Sommer. Freiburg ist nach seiner Lage eine der schönsten Städte Deutschlands; seine Wälder sind bezaubernd, der Schloßberg ist ein herrliches Stückchen Erde, und zu Ausflügen in die Umgegend locken Dutzende prächtig gelegener Orte. Aber was mir fehlte, war entsprechender Anschluß an gleichgesinnte junge Leute. Ein Zusammenhang mit Fachgenossen bestand zu jener Zeit nicht. Die Zunft war aufgehoben, und neue Gewerksorganisationen gab es noch nicht. Politische Vereine, denen man als Arbeiter hätte beitreten können, existierten ebenfalls nicht. Noch herrschte überall in Deutschland die Reaktion. Für reine Vergnügungsvereine hatte ich aber keinen Sinn und auch kein Geld. Da hörte ich von der Existenz des katholischen Gesellenvereins, der am Karlsplatz sein eigenes Vereinshaus hatte. Nachdem ich mich vergewissert, daß auch Andersgläubige Aufnahme fänden, trat ich, obgleich ich damals Protestant war, demselben bei.

      Ich habe nachmals, solange ich in Süddeutschland und Oesterreich zubrachte, in Freiburg und Salzburg dem katholischen Gesellenverein als Mitglied angehört und habe es nicht bereut. Der Kulturkampf bestand zum Glück zu jener Zeit noch nicht. In diesen Vereinen herrschte daher auch damals gegen Andersgläubige volle Toleranz. Der Präses des Vereins war stets ein Pfarrer. Der Präses des Freiburger Vereins war der später im Kulturkampf sehr bekannt gewordene Professor Alban Stolz. Die Mitgliedschaft wurde durch den von den Mitgliedern gewählten Altgesellen repräsentiert, der nach dem Präses die wichtigste Person war. Es wurden zeitweilig Vorträge gehalten und Unterricht in verschiedenen Fächern erteilt, so zum Beispiel im Französischen. Die Vereine waren also eine Art Bildungsvereine; wie diese Gesellenvereine später sich gestaltet haben, darüber vermag ich nichts zu sagen. In dem Vereinszimmer fand man eine Anzahl allerdings nur katholischer Zeitungen, aus denen man aber doch erfahren konnte, was in der Welt vorging. Das war für mich, der schon am Ende der Schuljahre und nachher in den Lehrjahren, als der Krimkrieg entbrannt war, sich lebhaft um Politik bekümmerte, eine Hauptsache.

      Auch das Bedürfnis nach Umgang mit gleichaltrigen und strebsamen jungen Leuten fand hier seine Befriedigung. Ein eigenartiges Element im Verein waren die Kapläne, die, jung und lebenslustig, froh waren, daß sie gleichaltrigen Elementen sich anschließen konnten. Ich habe einige Male mit solchen jungen Kaplänen die vergnügtesten Abende verlebt. Einen solchen Abend verlebte ich unter anderen in München, indem ich das Gesellenvereinshaus auf der Rückreise von Salzburg besuchte und darin wohnte, und zwar Anfang März 1860. Verließ das Gesellenvereinsmitglied den Ort, so bekam er ein Wanderbuch mit, das ihn in den Gesellenvereinen und bei den Pfarrherren, falls er bei diesen um Unterstützung vorsprechen wollte, legitimierte. Ich bin noch heute Besitzer eines solchen Buches, in dem auf der ersten Seite der heilige Josef mit dem Christkindlein auf dem Arme abgebildet ist. Der heilige Josef ist der Schutzpatron der Gesellenvereine. Den Gründer derselben, Pfarrer Kolping, damals in Köln, der, irre ich nicht, selbst in seiner Jugend Schuhmachergeselle war, lernte ich in Freiburg im Breisgau kennen, woselbst er eines Tages einen Vortrag hielt.

      Im September drängte es mich, weiterzuwandern. Ich verließ Freiburg und marschierte bei herrlichstem Wetter durch das Höllental über den Schwarzwald nach Neustadt, Donaueschingen und Schaffhausen. Ein wunderbarer Anblick war es in jenen Tagen, schon am Nachmittag am Firmament einen gewaltigen Kometen – den Donatischen – zu beobachten, der in seltenem Glanze strahlte und einen Schweif von ungewöhnlicher Länge besaß. Zu jener Zeit stand der Schwarzwald noch in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit. Jahrzehnte später haben die Axt und die Säge große Strecken des prächtigsten Waldes gefällt und gelichtet. Die moderne Entwicklung forderte es. In der Schweiz durfte ich nicht bleiben. Der Aufenthalt in der Schweiz war damals den preußischen Handwerksburschen von ihrer Regierung verboten. War doch der Neuenburger Streit das Jahr zuvor erst zuungunsten der preußischen Regierung beendet worden. Außerdem hätten die Handwerksburschen republikanische Ideen in sich aufnehmen können, und das mußte im Interesse der staatlichen Ordnung verhütet werden. Als ich im Frühjahr 1858 auf der preußischen Gesandtschaft in Karlsruhe um die Erlaubnis zum Aufenthalt in der Schweiz anfragte, wurde mir diese mit Hinweis auf das bestehende Verbot verweigert.

      So wanderte ich auf der Schweizer Seite nach Konstanz, fuhr zu Schiff über den Bodensee nach Friedrichshafen, wobei ich infolge eines Sturmes seekrank wurde. Von Friedrichshafen ging der Marsch zu Fuß über Ravensburg, Biberach, Ulm, Augsburg

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