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des Bruchs mit den christlichen Traditionen des Abendlandes beinhalteten diese Forderungen das Streben nach persönlicher Autonomie (Johann Gottlieb Fichte, in Auseinandersetzung mit Kant), insbesondere des künstlerischen Genies und künstlerisch tätiger Frauen. Mit der Rezeption Shakespeares und Cervantes stand bei Schriftstellern die Verteidigung des Prinzips der Stilmischung in Bezug auf den Roman, die Tragikkomödie und das romantische Schauspiel im Mittelpunkt. Stilmischungen schufen Bewegungsspielräume für den komplexen Ausdrucksreichtum subjektiver Erfahrungen in Werken der bildenden Kunst (William Turner, Caspar David Friedrich), Musik (Ludwig van Beethoven, Giuseppe Verdi) und Literatur. In das Zentrum künstlerischen Schaffens trat die Theodizeefrage, die in der Darstellung des Bösen und Satanischen Handlungsspielräume des modernen Subjekts erprobte und zur Spiegelung des Weltschmerzes machte.12 Als Kehrseite der Verweltlichung und des erweiterten, vertieften Naturverständnisses zeitigte sich die Gefahr des Selbstverlustes, die als transitorische Erfahrung in den Ausdrucksformen von Empfindsamkeit und der englischen Krankheit Melancholie (James Macpherson, d.i. Ossian und auch Lord Byron) die Schaffenskraft der Künstler anregte. Sie wurde zum Lebensgefühl der nachnapoleonischen Epoche. Die komplexe Beziehung zwischen Dichtung und Leben, die kultursemiotisch erschließbar ist, lässt sich an europäischen Romanen anhand des in ihnen zur Geltung kommenden gebrochenen modernen Subjekts studieren. In der Suche nach sinnbezogenen Lebensformen erkunden Romane die Bedeutung des Subjekts in einer komplexen modernen Welt. Sie scheuen nicht zurück vor einer Verwirrungsästhetik der Kontingenzen und des Häßlichen und und verlieren dennoch nicht die Autonomieansprüche des Subjekts und das Ideal der Humanität aus dem Auge. Wie alle Romane der Weltliteratur erzählen sie Geschichten von Menschen und Umständen, lassen im Möglichkeitsraum der Fiktion Menschen „aus dem Gegebenen heraus und ihm gegenüber treten“13, gestalten eine eigene, sprachlich geformte Welt, die durch Selektion und Verdichtung Wirklichkeit zentriert und deshalb zwischen Schein und Realität oszilliert:

      Dichtung verdichtet (…). Sie tut es, indem sie am menschlichen Leben, das in der Masse so gleichgültig zu werden vermag, Wert und Wichtigkeit aufleuchten lässt. Deshalb ist sie eine so menschliche Art der Weltbegegnung und übersteigt damit auch die Geschichtsschreibung, selbst die Psychohistorie und Mentalitätsgeschichte, denen sie als Quelle dienen kann. Sie gewinnt ihre Überlegenheit daraus, daß sie den einzelnen (…) zu seiner Würde bringt.14

      Da es eine Vielzahl von Romanen des Viktorianischen Zeitalters und der Epoche der klassischen Moderne gibt, macht der hier vorgestellte kultursemiotische Ansatz eine Auswahl von Romanen dieser beiden Epochen, zwischen denen Umbruchszeiten liegen, erforderlich. Ausgewählt wurden Romane, die

       im Zeitraum zwischen beginnendem 19. und beginnendem 20. Jahrhundert in Großbritannien entstanden,

       eine narrative Kontingenzästhetik durch Kontrastkopplungen und autoreferenzielle Bezüge gestalten und Verwirrungsästhetiken15 generieren,

       die Problematik der transitorischen Identität der Moderne als narrative und kulturhistorische Herausforderung in ihrer Ambivalenzstruktur verdichten,

       Aspekte des Humanitätsideals in Gestalt der conditio humana anklingen lassen und als Metaphysik des Schwebens16 zum Ausdruck bringen,

       in der ambivalenten Transzendierung ihrer Inhalte in die jeweilige Form, offene und komplexe Erzählwelten der ersten und zweiten Phase der Moderne gestalten,

       Imagination und Reflexion der Leser/innen anregen.

      Die Kriterien ergeben sich aus einer kultursemiotischen Theorie, die das Verstehen moderner Romane verknüpft mit dem Erschließen ihrer epochalen Situierung.

      Die ausgewählten Romane erfüllen die genannten Kriterien. Sie entwerfen die Unbehaustheit des modernen Menschen als Paradoxon: Im Versuch, sich seiner habhaft zu werden, entgleitet sich das moderne Subjekt.17 Die Protagonisten der ausgewählten Romane befinden sich auf der anderen Seite der Geschichte. Sie sind – wie Don Quijote –, in der Grenzsituation zwischen Leben und Tod, ganz auf sich selbst gestellt, bewegen sich in einer Welt von geradezu absurden Korrespondenzen und Kontrasten, sind haltlos. Als Resultat entstehen „fruchtbare Hybride“18, die ihren Fokus auf Bedingungen moderner Subjektivität richten, sich auf die Suche nach einem Bild des modernen Menschen im Sinnvakuum der Moderne konzentrieren und Erzählen als je differente Sinnsuche, als je unterschiedlich komplexen Prozess, entwerfen.

      Diese Suche gestalten die vorgestellten Romane, wie auch der europäische Roman, parallel und kontrastiv als unabschließbar. Nach dem Verlust metaphysischer Gewissheiten suchen die Protagonisten nach Sinn und Erfüllung. Sie gehen in der Konfrontation mit der Fremdheit gesellschaftlicher Beziehungen über sich hinaus. Das Offene und Unabgeschlossene dieser Sinnsuche affiziert die narrative Form. Erzählen wird zum transgressiven Akt, in dem Identitätserfahrungen unheinholbar als Aspirationen erscheinen. Das Erzählen dieser Erfahrungen bringt den narrativen Prozess selbst zum Vorschein. Die Romane sind widersprüchliche Universen, die in ihrer Unabgeschlossenheit und Mehrdeutigkeit, ihrem grotesken Humor (Charles Dickens), ihrer Hintergründigkeit und ihrem Witz (Emily und Charlotte Brontë, Virginia Woolf) Rezipient/innen des dritten Lebensalters zur Reflexion und zu Sinnfragen herausfordern, die sie – die Romane – verwirrungsästhetisch als „Desintegration (ihres) Systemraumes“19 entwerfen. Durch Erzählbrüche, plötzliche Wendungen, Anachronismen, multiple Perspektiven, entstehen kontingent strukturierte Erzählwelten, die sich mit zunehmender Komplexität der modernen Welt nicht mehr zu einem widerspruchsfreien Ganzen zusammenfügen lassen.

      Die weltverwandelnde und -verdichtende Auflösung aller Phänomene, auch der menschlichen Subjektivität, findet im modernen Roman, seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ihren Ausdruck in oben definierten eigenen „Verwirrungsästhetiken“20, die auf weiter unten dargelegte gerotranszendente Vermögen der Rezipien/innen stoßen. Verwirrungsästhetiken finden als kulturelle Parallelvorgänge auf dem Weg der bildenden, der erzählenden und der musik-kompositorischen Kunst vom 18. bis ins 20. Jahrhundert statt, zuvor bereits bei Shakespeare oder dann, beispielsweise, bei Giovanni Battista Piranesi, bei Johann Sebastian Bach und seinen für seine Epoche originellen und ungewöhnlichen Kompositionstechniken, bei William Hogarth, bei William Blake, bei Ludwig van Beethoven, dessen 5. Sinfonie (c-moll, Opus 67) bei zeitgenössischen Kritikern, aufgrund ihrer ungewöhnlichen Komposition, auf Ablehnung stieß. Erich von Kahler sieht in der Entwicklung der modernen Erzählkunst einen „unendlichen Weg ins Unbewußte“21, der in drei Etappen verläuft: seit Mitte des 18. Jahrhunderts individualpsychologisch, gegen Ende des 19. Jahrhunderts existenzialistisch, seit Beginn des 20. Jahrhunderts in einer innerweltlichen Transzendenz, die „das Jenseits im Irdischen“22 hervorhebt. Diese Etappen folgen nicht chronologisch aufeinander, sondern bedingen sich in fortschreitender Wechselwirkung.23 Diese Wechselwirkung wird durch die Abwendung der Moderne von der traditionellen Metaphysik bedingt. In der Moderne unterscheidet sich menschliche Existenz von jedem bedingendem, übergreifendem Ganzen. Erich von Kahler siedelt die existenzialistische Etappe der Entwicklung der modernen Erzählkunst zu Ende des 19. Jahrhunderts, in Unterscheidung von der existenzialistischen Philosophie, zwischen der individualpsychologischen und der innerweltlich transzendenten Etappe der modernen Erzählkunst an. Er begründet diese Entwicklung damit, dass das „existenzialistische Erlebnis“24 als Gegenerfahrung zur instrumentellen Vernunft der Moderne zu verstehen und im Sinne Kierkegaards als „Sinnmüdigkeit“25 zu deuten sei. Nach von Kahler entsteht eine neue Sensibilität, die die Haltlosigkeit des modernen Ich antizipiert, Individualität als mögliche Existenz im Angesicht innerweltlicher Transzendenz positioniert. Das existenzialistische Erlebnis rührt an den Daseinsgrund der Dinge, nähert sich der Unaussprechlichkeit eines präexistenten Ich.26 In dieser Perspektive entsteht in der modernen Erzählkunst eine Sicht auf die Welt, die die Befremdung der Dinge und die Auflösung des Erscheinenden in Richtung innerweltlicher Transzendenz vorbereitet.27

      Dieser Prozess narrativer Desintegration der täglichen Weltoberfläche lässt sich von Laurence Sternes erzählerischem Kosmos bis zu Virginia Woolfs und James Joyces erzählerischem Werk beobachten. Wie die europäische Erzählkunst des frühen 20. Jahrhunderts, dringen Joyces und Woolfs Werke „in das Reich einer inneren, innerweltlichen Transzendenz“28 vor. Erich von Kahler versteht unter diesem Reich Tiefenbereiche des Ich, die die Schichten

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