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hat Queneau selbst über mehrere Neueditionen der Exercices hinweg konsequent auf jede Art von erläuternder Anmerkung verzichtet, ja „nicht im Traum daran gedacht, sich selbst zu kommentieren“ (Enzensberger 1961: unpag.). Und auch die Übersetzer Heibert und Schmidt-Henkel hätten an dieser Stelle auf einen Kommentar verzichten können: Darf der Leser nicht auch selbst bemerken, welche heimliche Regel neben der „olfaktorischen“ sich noch in dieser Stilübung verbirgt? Bei der wievielten Lektüre auch immer.

      2 Neuübersetzung als Aktualisierung

      Ein zentrales Movens von Neuübersetzungen liegt neben dem oben diskutierten Fortschreiben des Ausgangstexts darin, einen literarischen Klassiker für die zielsprachliche Leserschaft neu zu erschließen und eine individuell konturierte Lesart anzubieten, die – auch im Rückgriff auf die literaturwissenschaftliche Forschung der vergangenen Jahre – bislang verborgen gebliebene Bedeutungsschichten des Originals freilegt. Dementsprechend grenzen sich Neuübersetzungen meist dezidiert von früheren Fassungen ab und gehen im besten Fall über sie hinaus. Neben der Umsetzung eines erweiterten und vertieften Textverständnisses bieten Neuübersetzungen aber auch die Gelegenheit zu Aktualisierung und Modernisierung im Hinblick auf gesellschaftliche Verhältnisse, die sich in der sprachlichen Gestaltung von Übersetzungen spiegeln. Übersetzerentscheidungen fallen nie im luftleeren Raum, sondern sind stets das Ergebnis einer Interaktion der ÜbersetzerInnen sowohl mit dem Ausgangstext, mit eigenen Lektüreerfahrungen, als auch mit dem gesellschaftlichen Umfeld, in dem sie sich bewegen. Im Fall der beiden vorliegenden Exercices-Übersetzungen liegen die Entstehungskontexte über fünfzig Jahre auseinander, entsprechend groß ist an einigen Stellen auch die Kluft, die sich in der Wortwahl, in der Atmosphäre und in der Bewertung einzelner Motive und Elemente auftut.1

      Ein frappierendes Beispiel dafür, dass es nicht nur ästhetische, sondern auch handfeste ethische und politische Gründe für Neuübersetzungen geben kann, bietet Queneaus Stilübung Sonnet. In der zweiten Strophe werden die Passagiere auf der Plattform des Autobusses S beschrieben:

      L’un vint, c’était un dix ou bien peut-être un S.

      La plate-forme, hochet adjoint au véhicule,

      Trimbalait une foule en son sein minuscule

      Où des richards pervers allumaient des londrès.

      (Queneau 2012: 103)

      Bei Harig und Helmlé heißt es:

      Schon war ein zehn, ein S vielleicht, zur Stelle.

      Die Plattform, Spielzeug des Vehikels, trug

      die Menschenmeng in ihrem winzgen Bug

      und rauchend reiche Homosexuelle.

      (Harig/Helmlé 1961/2007: 87)

      Offenbar ist es bei Erscheinen der Übersetzung Anfang der sechziger Jahre nicht als problematisch empfunden worden, dass Queneaus Zigarre rauchende „richards pervers“ (dt.: „reiche Perverslinge“) im Deutschen als „reiche Homosexuelle“ auftreten. Spätestens die Neuauflagen der Stilübungen von 1990/2007 hätten jedoch dem Verlag und den Übersetzern die Gelegenheit geboten, diese homophobe Formulierung zu revidieren. So war es nun an Frank Heibert und Schmidt-Henkel, eine neue kreative Lösung für den umarmenden Reim der Sonettstrophe zu finden:

      Dann kam einer, war es ein 10er, ein S?,

      die Plattform hing wie eine Rassel daran,

      ein kleines Geviert, rappelvoller Altan,

      mit Reichen in krassem Zigarren-Exzess.

      (Heibert/Schmidt-Henkel 2016a: 68)

      Ein weiteres Beispiel dafür, wie unterschiedlich die Atmosphäre gesellschaftlicher Szenerien in Übersetzungen gezeichnet wird, bietet die Stilübung Paréchèses, in der ähnlich oder gleich klingende Wörter – bereits existierende oder neu kreierte – miteinander kombiniert werden, ausgehend von der Silbe „bu“ wie „Bus“ (vgl. Heibert/Schmidt-Henkel 2016b: 181).

       Paréchèses

      Sur la tribune bustérieure d’un bus qui transhabutait vers un but peu bucolique des bureaucrates abutis, un burlesque funambule à la buccule loin du buste et au gibus sans buran, fit brusquement du grabuge contre un burgrave qui le bousculait : « Butor ! y a de l’abus ! » S’attribuant un taburet, il s’y culbuta tel un obus dans une cambuse.

      Bultérieurement, en un conciliabule, il butinait cette stibulation : « Buse ! ce globuleux buton buche mal ton burnous ! »

      (Queneau 2012: 90)

      Passend zum spielerisch-improvisatorischen Gestus seiner Stilübung kontrastiert Queneau das Motiv des burlesken Seiltänzers („burlesque funambule“) mit dem der Bürokraten („bureaucrates“), die auf der Plattform des Autobusses S aufeinandertreffen. In der Erstübersetzung von 1961 liest sich die Stilübung wie folgt:

       Parechesis

      Auf dem bunten Bug eines Busses, der bucklige Bürokraten zu ihren Bunkern bugsierte, burrte ein wenig bukolischer Bursche mit burleskem Schlund und Bund um die Butterblume, und buirschikos bullerte er einen Bourgeois an, der ihm die Buxe verbumfiedelte: „Bursche, meine Buletten!“ Er buchtete zwischen die Bullen und bumste auf seine vier Buchstaben.

      Stunden später auf einem Bummel buhlte sein Busenfreund mit Burnus und befummelte seinen Busen: „Bubi, dein Bukett ist verbummelt.“

      (Harig/Helmlé 1961/2007: 72)

      Bei Harig und Helmlé tritt der Seiltänzer als solcher gar nicht auf, wodurch die Opposition zwischen Zirkus- und Arbeitswelt abgeschwächt wird. Charakteristisch für die Erstübersetzung sind vielmehr diejenigen Motivelemente, die – abgesehen vielleicht vom Bourgeois –, die Autobus-Szenerie in der deutschsprachigen Kultur verankern: „Butterblume“ – „Buxe“ – „Buletten“ – „vier Buchstaben“ – „Bubi“.2 Ganz anders die Ausrichtung der Neuübersetzung: Sie entwirft das Panorama des multi-ethnischen Paris von heute:

       Parechesen

      Im burückgesetzten Bureich eines Busses, der für eine Butterfahrt in unbukolische Buzirke gebucht war, rabulierte ein wenig erbulicher Bube, ein bulimischer Buffo, Buckel weit vom Busen und burleske Kopfbudeckung, burschikos gegen einen anderen Burger, der ihn offenbar buständig anbummerte: „Du Buffel! Buck dich weg! Bun ich Buddha?“ Ausgebufft buhlte er sodann erbulgreich um einen Butzplatz und buendete augenbulklich seinen Budenzauber.

      Am selbun Abend buriet er sich mit einem Bukannten, einem Buhnenkunstler, sie bummelten nicht weit vom Buhnhof. Der bupfte nicht lange auf den Busch und burstete ihn bukleidungstechnisch ab: „Das Bukolleté ist verburkst. Der oburste Bubelknopf rambuniert dir deine Burka!“

      (Heibert/Schmidt-Henkel 2016a: 57)

      Zunächst schicken Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel ihren Autobus zwar auch auf die aus dem deutschsprachigen Kulturraum wohlbekannte „Butterfahrt“; an Bord statt Queneaus Seiltänzer jedoch ein dem Figurenrepertoire der italienischen Oper entsprungener „buffo“, der in seinen verbalen Schlagabtausch mit dem „Burger“ Anspielungen auf fernöstliche Religionen einflicht: „Bun ich Buddha?“ Die von Queneau evozierte Zirkuswelt tritt im zweiten Teil der Stilübung am „Buhnhof“ Saint-Lazare in Gestalt des „Buhnenkunstlers“ noch einmal hervor, und statt des Überziehers wird die im Islam verbreitete „Burka“ – hochaktuell – zum „bukleidungstechnischen“ Gesprächsthema. Verweise auf verschiedenste kulturelle und religiöse Kontexte existieren in dieser Autobus-Szenerie wie selbstverständlich nebeneinander und spiegeln die Zusammensetzung der heutigen Pariser Bevölkerung.

      Die Modernisierung geht einher mit einer Emanzipation der Übersetzer gegenüber dem Ausgangstext. Sie nehmen sich Queneaus Motiv des „burlesque funambule“ zum Vorbild und führen die Sprachkunststücke fast noch ostentativer auf als die französische Exercice: Mit 100 Wörtern ist die Neuübersetzung nicht

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