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Damit wir auf den MRT-Bildern etwas sehen konnten, mussten wir den präfrontalen Kortex mit komplizierten Aufgaben »reizen«. Doug, ein Physiker in unserem Alter, dessen Spezialgebiet die MRT-Technik war, hatte ein neues Verfahren entwickelt, das uns vielleicht helfen konnte, diese Schwierigkeiten zu überwinden und Bilder aufzuzeichnen. Unser Krankenhaus stellte uns den Scanner nach den Sprechstunden für die Zeit zwischen 20 und 23 Uhr zur Verfügung, damit wir unsere neue Methode ausprobieren konnten.

      Doug nahm ständig technische Verbesserungen vor, während Jonathan und ich uns Aufgaben überlegten, die diesen Bereich des Gehirns maximal stimulierten. Nach mehreren Misserfolgen konnten wir schließlich auf unseren Bildschirmen den berühmten präfrontalen Kortex bei der Arbeit beobachten. Es war ein ganz besonderer Augenblick, der Höhepunkt einer Zeit intensiver Forschung, und umso aufregender, weil wir ihn als Freunde erlebten.

      Ich muss zugeben, wir waren ein bisschen arrogant. Wir waren alle drei Anfang dreißig, hatten gerade unseren Doktortitel erworben und besaßen schon ein eigenes Labor. Mit unserer neuen Theorie, die überall auf großes Interesse stieß, standen Jonathan und ich am Beginn einer vielversprechenden Karriere in der amerikanischen Psychiatrie. Wir beherrschten die neueste Technologie, mit der bis jetzt noch kaum jemand arbeitete. Unter den Psychiatern an den Universitäten waren Computersimulationen neuronaler Netze und die funktionelle Bildgebung mit Hilfe der Magnetresonanztomografie noch kaum bekannt. In jenem Jahr erhielten Jonathan und ich sogar eine Einladung von Professor Widlöcher, damals die große Kapazität in der französischen Psychiatrie. Wir sollten nach Paris kommen und dort ein Seminar am Hôpital de la Pitié-Salpêtrière leiten, der Klinik, wo Freud als Assistent von Charcot gearbeitet hatte. Zwei Tage lang erläuterten wir vor französischen Psychiatern und Neurowissenschaftlern, wie unsere Computersimulationen neuronaler Netze zu einem besseren Verständnis psychologischer und pathologischer Mechanismen beitrugen. Mit dreißig konnte man darauf durchaus stolz sein.

      Ich genoss mein Leben in vollen Zügen – ein Leben, das mir heute ein bisschen seltsam vorkommt. Ich war mir meines Erfolgs sicher, setzte großes Vertrauen in die Naturwissenschaften und hatte am Kontakt zu Patienten nicht viel Interesse. Da mich meine Facharztausbildung in der Psychiatrie und mein Forschungslabor voll beanspruchten, versuchte ich, möglichst wenig klinisch zu arbeiten. Deshalb war ich wie die meisten Ärzte nicht begeistert, als ich im Zuge des Ausbildungsprogramms auf eine andere Stelle wechseln sollte, denn das bedeutete eine höhere Arbeitsbelastung, und außerdem ging es dabei nicht um Psychiatrie im eigentlichen Sinn. Ich sollte sechs Monate lang auf der allgemeinmedizinischen Station arbeiten und mich um die psychischen Probleme von Patienten kümmern, die eine Bypassoperation oder eine Lebertransplantation hinter sich hatten oder an Krebs, Lupus, Multipler Sklerose und Ähnlichem litten. Meiner Meinung nach hielt mich diese Arbeit nur von meiner Forschung ab. Außerdem interessierten mich die Patienten mit ihren medizinischen Problemen nicht sonderlich. Ich wollte am Gehirn forschen, Aufsätze schreiben, auf Kongressen Vorträge halten und zum Fortschritt der Wissenschaft beitragen.

      Ein Jahr zuvor war ich als Freiwilliger mit »Ärzte ohne Grenzen« im Irak gewesen. Ich hatte das Elend dort miterlebt und meine ganze Energie darauf verwandt, Tag für Tag das Leid vieler Menschen zu lindern. Doch das hatte in mir nicht die Lust geweckt, diese Art von Arbeit in Pittsburgh fortzusetzen. Für mich waren das zwei völlig verschiedene Welten. Ich war in erster Linie jung und ehrgeizig.

      Die große Bedeutung, die ich meiner Arbeit in meinem Leben einräumte, trug sicher auch zu der schmerzhaften Trennung bei, die ich gerade hinter mir hatte. Neben anderen Unstimmigkeiten konnte meine Frau es nicht ertragen, dass ich meiner Karriere zuliebe weiter in Pittsburgh leben wollte. Sie wäre gern nach Frankreich zurückgekehrt oder zumindest in eine Stadt wie New York gezogen, die mehr Abwechslung versprach. Für mich jedoch bedeutete Pittsburgh eine Möglichkeit, schneller ans Ziel zu kommen, außerdem wollte ich nicht auf mein Labor und meine Kollegen verzichten. Schließlich landeten wir vor dem Scheidungsrichter, und ich lebte ein Jahr allein in meinem kleinen Haus, von dem ich ohnehin nur das Schlaf- und das Arbeitszimmer sah.

      Und dann fiel eines Tages, als das Krankenhaus praktisch verwaist war – es war die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr, die ruhigste Woche des Jahres –, mein Blick auf eine junge Frau, die in der Cafeteria saß und Baudelaire las. In den USA ist es ein seltener Anblick, dass jemand beim Mittagessen einen französischen Dichter des 19. Jahrhunderts liest. Ich setzte mich an ihren Tisch. Anna war Russin, hatte hohe Wangenknochen und große dunkle Augen. Sie wirkte zurückhaltend, aber gleichzeitig sehr intelligent. Gelegentlich hörte sie mitten im Satz auf zu reden. Als ich sie verwirrt fragte, was sie tue, antwortete sie: »Ich prüfe das, was du gerade gesagt hast, auf seine Aufrichtigkeit.« Das brachte mich zum Lachen, denn es gefiel mir, wie sie mich in Schach hielt. So begann unsere Beziehung. Sie brauchte Zeit, sich zu entwickeln. Ich hatte es nicht eilig, und Anna auch nicht.

      Sechs Monate später ging ich an die University of California in San Francisco und arbeitete dort den Sommer über in einem Labor für Psychopharmakologie. Der Leiter des Labors wollte in den Ruhestand gehen und hätte mich gerne als seinen Nachfolger gesehen. Ich sagte Anna, dass ich mich nicht binden wolle, möglicherweise würde ich in San Francisco eine andere Frau kennenlernen. Natürlich würde ich es auch verstehen, wenn sie sich in einen anderen Mann verlieben sollte. Ich glaube, das verletzte sie, aber ich wollte ganz offen sein. Zum Abschied schenkte ich ihr einen Hund.

      Als ich im September nach Pittsburgh zurückkehrte, zog Anna zu mir in mein Puppenhaus. Ich spürte, dass sich zwischen uns etwas entwickelte, und war glücklich. Noch wusste ich nicht, wohin diese Beziehung führen würde, daher blieb ich auf der Hut – ich hatte meine Scheidung noch nicht verwunden. Aber in meinem Leben ging es bergauf. Im Oktober verbrachten wir zwei traumhafte Wochen. Es war Indian Summer. Ich war gebeten worden, ein Drehbuch über meine Erfahrung bei »Ärzte ohne Grenzen« zu verfassen, und Anna schrieb Gedichte. Ich war verliebt.

      Und dann geriet ohne Vorwarnung alles ins Wanken.

      Ich erinnere mich noch gut an jenen strahlenden Oktoberabend in Pittsburgh, als ich auf dem Weg zum MRT-Zentrum mit dem Motorrad durch Straßen fuhr, die von Bäumen in leuchtendem Herbstlaub gesäumt waren. Jonathan, Doug und ich wollten wieder einmal Experimente an studentischen »Versuchskaninchen« durchführen. Gegen eine geringe Aufwandsentschädigung legten sich die Studenten in den Scanner und lösten für uns mentale Aufgaben. Sie fanden unsere Forschungen ebenso aufregend wie die Aussicht, dass sie im Anschluss eine digitale Aufnahme ihres Gehirns erhielten, die sie sich daheim auf dem Computer ansehen konnten. Der erste Student kam wie verabredet um 20 Uhr. Mit dem zweiten hatten wir 21 Uhr vereinbart, doch er erschien nicht. Daraufhin fragten Jonathan und Doug, ob ich einspringen könnte, denn von uns dreien war ich derjenige mit der geringsten technischen Begabung. Bereitwillig legte ich mich in die enge Röhre, die Arme dicht an den Körper gepresst; es fühlte sich ein bisschen an wie in einem Sarg. Viele Menschen ertragen die Enge in der Röhre nicht: 10 bis 15 Prozent der Patienten sind so klaustrophobisch, dass eine Magnetresonanztomografie für sie nicht infrage kommt.

      Da liege ich nun, und wie üblich zeichnen wir zuerst die Gehirnstruktur des Versuchskandidaten auf. Gehirne sind wie Gesichter – keines gleicht dem anderen. Bevor wir Messungen durchführen, muss das Gehirn im Ruhezustand aufgenommen werden. Dieses sogenannte anatomische Bild wird dann mit den Aufnahmen des aktiven Gehirns verglichen, den funktionellen Bildern. Während des Vorgangs ist ein lautes Klopfen zu hören, wie wenn man mit einem Metallstab wiederholt auf den Boden schlagen würde. Das Geräusch kommt von den Bewegungen des Elektromagneten, der durch schnelles Ein- und Ausschalten Variationen im Magnetfeld des Gehirns erzeugt. Die Geschwindigkeit des Klopfens hängt davon ab, ob es sich um eine anatomische oder funktionelle Aufnahme handelt. Nach dem zu schließen, was ich höre, machen Jonathan und Doug anatomische Aufnahmen von meinem Gehirn.

      Nach zehn Minuten ist die anatomische Phase abgeschlossen. Ich warte darauf, dass auf den kleinen Monitoren über meinen Augen die von uns programmierte »mentale Aufgabe« erscheint, mit der die Aktivität im präfrontalen Kortex angeregt werden soll, denn Ziel unseres Experiments soll ja die Abbildung dieser Aktivität sein. Bei der Aufgabe leuchten in rascher Abfolge Buchstaben auf. Jedes Mal, wenn zwei aufeinanderfolgende Buchstaben identisch sind, soll ich einen Knopf drücken (der präfrontale Kortex wird aktiviert, weil ich mich ein paar Sekunden lang an die Buchstaben erinnern muss,

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