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Tages nach zwei, drei oder auch sieben Jahren in Colfax – die Datierung seiner biographischen Anfänge ist ein wenig verwischt –, als er gerade einen Silberdollar aus jemandes Nase zog und dabei routinemäßig Gedanken las, las Colonel Selig zum ersten Mal »Überdruss«. Am nächsten Morgen kutschierte er den hauseigenen Buggy zum Bahnhof, um neue Gäste vom Zug abzuholen. Kurz hinter der Methodistenkirche dachte er ein Wort: Poker. Er erschrak so sehr, dass er das Pferd zügeln, absteigen und ein paar Schritte gehen musste. Ein Telepath mit der Fingerfertigkeit einer Spitzenklöpplerin … Es lag so nahe. Selig schüttelte sich. Dann nahm er Haltung an. So bin ich nicht erzogen, dachte William Selig. Er merkte, er erinnerte sich kaum, wie er erzogen war. Selig stieg wieder auf den Bock und dachte dort »Poker, Poker, Poker«, bis es ihn nicht mehr erschreckte. Und da reizte es ihn auch nicht mehr.

      Er wendete den Wagen und fuhr zurück zum Sanatorium. Die neuen Gäste standen verloren am Bahnhof der Central Pacific. William Selig packte seine Sachen. Er ging zum Management, um zu kündigen, und als er keinen antraf, hinterließ er nur einen Zettel. Er stattete der Medikamentenkammer einen letzten Besuch ab und entwendete Pröbchen von allem, was bei rechter Verwendung rauchte, knallte oder stank. Und dann war er fort.

      Professor Seligs Wanderjahre – denn er tauschte seinen militärischen Rang damals für eine Weile gegen einen akademischen –, die ihn bis Mitte der 1890er Jahre tausende von Meilen kreuz und quer durch den amerikanischen Südwesten führten, waren weit weniger erquicklich, als er es sich in Colfax ausgemalt hatte. Er begann seinen Weg in der Tat als Zauberkünstler, in Städten und Städtchen, in Kuhdörfern unter freiem Himmel, in Hotels und Saloons und sogar in der Eisenbahn, in aufgelassenen Minen und in einer aufgelassenen Kirche, was er erst merkte, als ein morsches Kreuz auf ihn fiel; und einmal zauberte er auch in einem Bordell namens Red Tarantula Palace in einem Ort namens Weeping River.

      Daheim im deutschen Viertel von Chicago-Nord, wo der Polsterermeister gewiss noch immer seine Polsterzwecken zwischen den Lippen trug, wo Vater Selig stolz seinen kleinen Schusterladen führte und einige von Williams vielen Brüdern, vielleicht sogar alle, katholische Priester waren, hatte man ja gar keine Ahnung, dachte der Streuner mit einem Lächeln, wie schlimm es in Amerika zuging.

      Nie verlor Professor Selig seine freundliche, gediegene Ruhe. Noch immer hatte er nicht herausgefunden, was alle Menschen glücklich macht. Er trug zwei Revolver, die er nicht ein einziges Mal benutzte. Jeden Abend trank er genau einen doppelten Whiskey. Ab und zu fand er ein anständiges Mädchen, das mit ihm spazieren ging oder gar ein Picknick unternahm, und dann erfragte er alles über ihre Familie, dachte ans Heiraten und dass er zu arm dazu sei und gewissermaßen auch gar nicht mehr als ein Scharlatan, und dass er auch gar keine Lust dazu hätte, und am nächsten Tag reiste er weiter.

      Als ihm eines Tages jemand das Kaninchen kaputtschoss, das er aus dem Zylinder gezogen hatte, grundlos, nur aus Tollerei, legte Professor Selig den Zauberstab nieder und nannte sich wieder Colonel.

      Gemeinsam mit einem Mr. Martin, später mit einem Mr. Johnson übernahm er Management und Betreuung einer reisenden Minstrel-Show. Sie bestand aus fünf Weißen, vier Schwarzen und einem Mexikaner, der den Planwagen lenkte, Wache hielt und auf der Bühne die Posaune spielte. Alle, die Weißen, die Schwarzen und der Mexikaner, malten sich jeden Abend die Gesichter schwarz (mit Schuhcreme oder verkohlten Korken, je nach Budget) und setzten Wollperücken auf, damit das Publikum nicht wusste, wer von ihnen schwarz oder weiß war, und sich dadurch etwa beleidigt fühlte. Man spielte die üblichen drei Akte, Gesang und Tanz und Witze, »Bruder Bones auf Brautschau« und »Onkel Toms Heimweh nach der Plantage«, viel Kauderwelsch und Wassermelonen. Colonel Selig überließ meistens Mr. Martin bzw. Mr. Johnson die Conference, weil er sich auf der Bühne so blass fühlte. Dafür führte er Buch.

      Wieder ging es tausende von Meilen kreuz und quer durch den amerikanischen Südwesten. Zuweilen gastierte man in Theatern, etwa in San Francisco, in echten Theatern mit Namen wie »Das äthiopische Opernhaus«. Vielleicht gastierte man auch in einem Bordell namens The Cottontail in Toadsville, Montana. Als Schwarze verkleidete Schwarze, merkte Colonel Selig, machten überhaupt niemanden glücklich; zumindest nicht jene, die in seiner Obhut standen. Erst verschwand Mr. Martin, dann verschwand Mr. Johnson auch, und schließlich gehörte Selig das ganze Elend allein. Colonel Seligs phantastisch-gigantische Mammut-Minstrel-Show, oder wie auch immer sie auf den Plakaten hieß, war ständig, und jahrelang, pleite. Im Sommer 1895, auf dem Bock neben dem Mexikaner, auf einer schlechten Straße zwischen Mesquite und Dallas, an einem sehr heißen Mittag mit sehr vielen Mücken merkte William Nicolas Selig, wie sein Geduldsfaden riss.

      Dallas war eine große Stadt von fast fünfzigtausend Einwohnern. Es gab einen zoologischen Garten, einen Golfplatz mit Bewässerungsanlage, eine elektrische Trambahn, fünf Gerichtshäuser und ein jährliches Banjo-Turnier, bei dem Seligs Minstrels den letzten Platz belegten. Da nahm sich William Selig frei. Das hatte er seit fünf Jahren nicht mehr getan. Er zahlte sich ein kleines Gehalt, ging in den zoologischen Garten (Selig war ein großer Tierfreund, weshalb ihn auch die Sache mit dem Kaninchen so mitgenommen hatte), fuhr mit der elektrischen Straßenbahn, dann aß er einen Eisbecher mit Ananas und besuchte schließlich eine Vergnügungsstätte, wo man gegen geringes Entgelt an allerlei Büdchen vorbeispazieren durfte, in denen Panoramen, Missgeburten, Indianer etcetera ausgestellt waren. Es hob Seligs Laune gewaltig, dass er hier für nichts die Verantwortung trug, und er flanierte entspannt dahin.

      Niemand, stellte Colonel Selig mit Interesse fest, vermochte sich auch nur im Geringsten für Panoramen, Missgeburten oder Indianer zu begeistern. Das Etablissement war wie ausgestorben. Es sah aus wie nach Feierabend, oder als ob einer Feuer gerufen habe. Verwundert verweilte der Tourist eine Weile bei dem so genannten Wolfsjungen, einem bepelzten Burschen mit fernem Blick, der vor einer afrikanischen Kulisse dämmerte und Seligs Tierliebe ansprach; aber dann sah er ein paar Leute rennen und rannte ihnen neugierig hinterher.

      Alle Welt drängte sich in einem Nebenraum. Selig konnte nichts sehen. Er beobachtete den Pulk und wartete, ob er sich nicht ein wenig verschöbe. Rufe wurden laut, »ich will auch, ich will auch«. Lange ging nichts voran. Endlich kehrten die ersten Zuschauer nach genossener Attraktion zurück in die Halle. Selig blickte in ihre Gesichter, Männer, Frauen und Kinder, ach so, dachte Selig, ein Hypnotiseur. Sein Geschäftssinn, kurz in Urlaub, kehrte zurück. Den will ich haben, dachte Colonel Selig. Ich entlasse alle, die ich habe, und engagiere stattdessen den. Ich fahre mit ihm nach Abilene. Den Wolfsjungen nehme ich auch mit. Den müssen die hypnotisierten Weiber küssen, das gibt Applaus. Selig straffte seine Schultern und wartete geduldig weiter.

      Es handelte sich indes nur um drei brusthohe, verschlossene Holzschränkchen. An ihren Seiten waren Schnörkel, obenauf je ein Feldstecher montiert. Dort schauten die Leute hinein. Wer an der Reihe war, verließ die wogende Menge und begab sich in ein stilles Zwiegespräch mit dem freiwerdenden Apparat, der ihn sofort anzusaugen schien, sodass er wie gelähmt verharrte, verkrampft und verzückt. Nach einer längeren Weile, wenn er den Apparat wieder verließ – niemals freiwillig, erst wenn ihn jemand fortzerrte und auch dann nicht ohne Gegenwehr –, hatte er rote Druckstellen um beide Augen, einen schwankenden Gang und die Aura eines Neugeborenen: hilflos, frisch, erschrocken. Gleich fangen sie an zu weinen, dachte Selig. Na sowas. Potz Teufel. Und er drängelte sich vor.

      In den Schränkchen sah man Fotografien, die sich zuckend und hampelnd bewegten. Im ersten versuchte sich ein Muskelmann in Pose zu setzen. Im zweiten unternahmen Mädchen eine Kissenschlacht. Im dritten knutschte jemand seine hässliche Frau. Die Maschinen waren, scheint’s, elektrisch, oder jemand, der unter den Bohlen versteckt war, trieb sie an. Sie schnauften leise. Das Ding hieß Kinetoskop, stand dabei. Es war patentiert. Auch das stand dabei. Erfunden hatte es Edison, der schließlich alles erfand.

      William Selig schaute gründlich in alle drei Schränkchen hinein. Keine Verklärung ergriff ihn. Kein Säuglingsgefühl suchte ihn heim. Aha, dachte Selig. Und: Das ist es. Und: Das muss raus aus der Kiste. Das muss an die Wand. Das braucht ein Theater. Das braucht Musik. Das braucht Cowboys, Indianer und Löwen. Er strich seinen Schnurrbart mit dieser fast vergessenen Geste, wie damals, bevor alles schiefging, damals, als er in Colfax den Feuerkopf-Trick erfand. Dann ging er und suchte das Management. Er redete auf das Management ein, bis man ihm, weil er so ein netter Mann war, nach Feierabend erlaubte, in ein Kinetoskop hineinzuschauen. Es

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