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Boëtius von Orlamünde. Ernst Weiß
Читать онлайн.Название Boëtius von Orlamünde
Год выпуска 0
isbn 9783986470715
Автор произведения Ernst Weiß
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Er hat gestern mit dem Rücken zu mir auf dem Gig gesessen. Er hat den Meister gesehen, wie dieser sich nach meinen Handschuhen gebeugt hat. Heute hätte er, Titurel, es gerne gesehen, wie ich mich vor ihm, Titurel, beuge. Gut. Aber in mir ist eine solche Lebensfreude, ein so starkes Vibrieren der bis zum Rande heiß und wonnevoll gefüllten Adern, daß ich eben nichts als Freude, auch jetzt am Bette meines einzigen, kranken Freundes, empfinden kann. Aus seiner Beleidigung fühle ich seine Liebe.
Ich stehe auf, hole ihm frisches Wasser, stecke das Thermometer in die Metallhülle zurück, lasse die Vorhänge möglichst geräuschlos herab, überfliege die vom Anstaltsarzt (er ist gleichzeitig Lehrer der Naturgeschichte bei uns) sorgfältig angelegte Fieberkurve. Ich sehe meinen Titurel an. Ich ergreife seine Hände, die sich wie ein Stück heißes Fleisch anfühlen. Ich habe nur den Wunsch, ihn wie ein Kind zu behandeln, ein törichtes, unwissendes, unvollendetes, hilfloses, aber sehr geliebtes Wesen. Zu gern möchte ich ihm etwas Gutes tun, wogegen er sich nicht wehren kann. Er liegt still da, blickt durch mich hindurch.
Ich bin alt über meine Jahre, immer fühlte ich es, jetzt weiß ich es. Ich bin hier sehr allein. Immer wußte ich es, jetzt begreife ich es. Keine Eltern, keine Angehörigen wohnten mit uns in Onderkuhle. Wen sollte man lieben oder hassen? Kann der Freund Titurel mir einen Bruder ersetzen? Kann mir der Meister ein Vater sein?
Nirgends hat man recht Boden gefaßt. Man faßt erst Boden, wenn man eine Laufbahn einschlägt oder mit der Arbeit seiner Hände sein Brot verdient. Adel vereinsamt; wer weiß es besser als ich? Arbeit verbindet.
Nun aber lebe ich sorgenlos im Stift, ich bin diesem reichen Hause nicht eben zur Last.
Ich bin nicht ganz einsam, bin ein Stück von Onderkuhle, auch ich habe teil an den blauen Fahnen des Stiftes, an der Luft, an der Jugendluft, dem Knabenatem rings um unser Haus, an dem hohen schönen Wald bis an den See, der nicht mehr in unserem Gelände, sondern schon in der Nachbargemarkung des Gutsherrn P., eines ehemaligen Zöglings von Onderkuhle, liegt. Es sind die letzten Tage, man lasse mich hier verweilen.
Von dem, was ich die Merkzeichen des T. genannt habe, ist auch nichts mehr zu spüren, jetzt, da ich in den mit blaßroten, trockenen, sauberen Steinen gepflasterten Hof, mitten in die grelle Sonne hinaustrete.
Ich fühle mich so jung, so stark, daß es für mich in diesem Augenblick keinen T. gibt, auch nicht für meine Freunde, meine Lieben, weder für den Vater, den alten Fürsten mit der hängenden Unterlippe, noch auch für meine liebe, zarte, schüchterne, verspielte, kleine Mutter, noch für meinen guten Freund Titurel, für meine lieben Pferde, für meine Lehrer, für meine Mitschüler, bis zu den letzten, die ich kaum kenne. Sie sind eben erst eingetreten, sie hocken, von Heimweh verschüchtert und dauernd von der Angst vor nächtlichen »Proben« erfüllt, wie junge Ziegen, mürrisch und ängstlich alle zusammen. Ich nehme mir vor, sie besonders zart anzufassen, sie beim Florettfechten, beim Schwimmen und Reiten, wenn ich als Lehrer den erkrankten Rittmeister vertrete, mild zu behandeln.
In meiner Hand schmiegen sich meine frisch gewaschenen Handschuhe weich zusammen, sie liegen erwärmt neben der Mütze, die ich trotz des grellen Sonnenscheins nicht aufsetze. Ich schäme mich meines häßlichen Haares nicht mehr, so sehr bin ich hier zu Hause.
Von der Sonne geht heute etwas Berauschendes, Betäubendes aus, sie zieht mich an, sie reißt mich hinauf, dorthin, wo sie zwischen finsterem violettem Gewölke nur um so gleißender, ungeheurer und zugleich heimatlicher über mich und die Meinen herabbrütet an diesem unvergeßbaren Junitage.
Kapitel
7
Vor dem Lazarett begegnet mir der Meister. Er, das klügste Auge, der wirkende Wille in unserem Hause. Man kann es nicht einmal Anmaßung nennen, wenn er die eigentliche Leitung aller Angelegenheiten, vom Unterrichte natürlich abgesehen, übernommen hat, denn der Oberst (der Direktor) hat sie ihm ganz gern überlassen oder gar aufgedrängt. Jetzt steht der Meister vor mir. Faßt er es als Zeichen meiner besonderen Verehrung oder als Zeichen meiner inneren Überlegenheit auf, wenn ich zuerst meinen Kopf mit meiner hechtgrauen Mütze bedecke, um diese dann mit hohem Schwung vor ihm zu ziehen? Ich, ein Orlamünde, stehe also bloßen Hauptes da. Er wendet sich zu mir, bückt sich, obwohl ich ihn an Körpergröße fast erreiche. Zuerst fragt er mich, ob ich noch ein Jahr dem Stift Onderkuhle widmen könne. Mein Schweigen nimmt er als Zustimmung, und dies ist es auch. Dann kommt ein wichtiger Auftrag, wovon er zu sprechen beginnt. Ob ich es wage, das Pferd Cyrus an die Doppellonge zu nehmen, da es nach der Angabe des Stallbedienten sich keinem Zwange fügen will und bereits einen Bereiter (den ungeschicktesten freilich) mit solcher Gewalt heruntergerissen hat, daß er sich die Schulter ausgerenkt hat.
Es überfällt mich bei dieser Frage ein Zittern, ein inneres Beben der Glückseligkeit.
»Ich danke Ihnen«, sagte ich, »ich werde es versuchen.« Das Gespräch ist zu Ende, aber der Meister verläßt mich nicht. Er bleibt vor mir stehen und starrt mich an; ich bleibe vor ihm stehen und starre die Sonne an.
Die Sonne strotzt zwischen Wolken herab, welche die fettige Schwärze von Negerkörpern angenommen haben. Aber diese Wolken weichen der steigenden Sonne stets feige aus und bilden nur einen weiten, furchtbar düsteren Kranz um das gleißende Gestirn. Rings um mich breitet sich der Hof aus, totenstill. Es riecht außerordentlich stark, aber aromatisch nach erhitzten Steinen, gedörrten Lindenblüten, nach Hafer und Abfall, es ist, als locke die Sonne aus allem den Geruch in stärkster Verdichtung hervor.
Nie in meinem bisherigen Leben habe ich so nach Gefahren gehungert, in die ich mich stürzen könnte, nach Schmerzen, um ihnen zu widerstehen kraft meines unbändigen, rasenden Lebensgefühles. Vielleicht lachen andere Menschen, wenn sie so etwas in ihrem Innern fühlen, ich beherrsche mein Gesicht, ich schweige und halte meinen Mund ruhig. Ich starre bloß in die Sonne, unverschämt, unermüdet, unerschrocken. Dort oben wogt die Lichtmasse in einem flachen, unabsehbaren Bette. Keine Grenze, kein Ufer ist zu erreichen, es steigt, es flutet, es bricht eine Überschwemmung von oben über die lichttriefenden, ziegelroten Dächer der Stallungen herab, in prassender Fülle schießt es durch die stillen, starrenden jungen Lindenzweige herab in meine aufgerissenen Augen. Nennt man es Blendung, wenn meine Augen heute die Sonnenfülle klarer als je zuvor aufzufangen vermögen? Das Auge beginnt mir zu kreisen. Wohin es sich wendet, nirgends findet es jetzt etwas Faßbares, nirgends einen Himmel mehr, nirgends den schwarzen Haufen von Gewölk, jetzt auch nirgends mehr das niedere Dach der Pferdeställe oder das noch steilere des Schulgebäudes, noch auch das Geäst der Bäume der Allee, die zum See führt.
Ganz vergessen habe ich, was mich so oft erschreckt hat, die ungeheure Entfernung, die Millionen Meilen, die in der Allee von unserer armen Erde bis zu den Lichtseen der Sonne kein Menschenfuß durchwandert. Unbedeutend, ganz belanglos erscheint mir jetzt die »irrsinnige« Temperatur von dreiundzwanzigtausend Hitzegraden, die dort oben herrschen soll,