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bisher ungekanntes Freiheitsstreben ausgelöst und sozialkritische Stoffe auf der Bühne populär gemacht. In einer berühmt gewordenen Rede betrachtete Friedrich Schiller 1784 die „Schaubühne“ als eine „moralische Anstalt“. Schauspielerpersönlichkeiten wie August Wilhelm Iffland (1759–1814), nach dem ein ab dem 20. Jahrhundert an außergewöhnliche Schauspieler vergebener Ring benannt ist, strebten Anfang des 19. Jahrhunderts nach einer realistischen Darstellung auf der Bühne. Die Folgen des Revolutionsjahres 1848 lösten einen Theaterboom aus. Nicht nur Metropolen wie Berlin und München errichteten neue Häuser, dazu kamen an die 150 Hof- und Stadttheater, an denen auch die Rettys künftig gastieren würden.

      Wann und wie Gottlob Adolph Retty Schauspieler wurde, ist nicht belegt, auf jeden Fall heiratet er seine Frau, während er 1844 am Stadttheater im schlesischen Glogau (heute: Głogów/Polen) im Rollenfach „Jugendlicher Liebhaber und Naturbursche“ tätig ist. Seine Gattin, Mademoiselle Clara Maria Johanna, geborene Presch, übt als „Jugendliche Liebhaberin und Soubrette“ denselben Beruf aus. Geboren wurde sie am 20. November 1823 in Berlin-Brandenburg als uneheliche Tochter des königlichen Hofjägers Johann Gottfried Presch und dort auch am 27. November 1823 getauft.

      1845 gehen Herr und Frau Retty als „Liebhaber bzw. Liebhaberin und Chormitglieder“ vom Theater Glogau ab und werden vom Stadttheater Lübeck engagiert. Eine Volkszählung registriert Adolph (24) und Clara Retty (21), die in jenem Jahr in der Glockengießerstraße in Lübeck wohnen, und gibt bei beiden als Geburtsort Berlin an, was jedoch nur bei Clara zutrifft. In Lübeck kommt im Februar 1846 Rosas Vater Rudolph zur Welt. Drei Jahre später wird am 4. Januar 1848 in Rendsburg/Schleswig-Holstein ein zweiter Sohn geboren: Johannes Mathias Richard Retty, Rosas Onkel. 1853 ist ein Wohnverhältnis der inzwischen vierköpfigen Familie in Mannheim/Baden belegt. Wie Gottlob Adolph Rettys weiteres Leben verlief, bleibt im Unklaren, doch zumindest einige Indizien lassen sich finden. Während Frau Retty ab dem Jahr 1854 nur mehr im Fach „Mütter, komische Mütter, komische Alte“ besetzt wird, brilliert Herr Retty im Bereich „Liebhaber und Bonvivants“ – und das offenbar nicht nur auf der Bühne. Spätestens seit dem Jahr 1858 findet sich an den Theatern, an denen er engagiert ist (Flensburg, Kiel, Hamburg, Bielefeld, Dortmund, Cleve, Freiburg im Breisgau), immer ein „Frl. Ernestine Schneider“ (der Nachname ist in dieser Familiengeschichte nicht ohne Ironie), das besetzt wird als „Erste sentimentale oder tragische Liebhaberin“ – und dies vermutlich auch im Leben von Herrn Retty.

      Wann und wie sich das Ehepaar offiziell getrennt hat, ist ungewiss, bestätigt ist erst ein Eintrag im Hamburger Sterberegister mit der Nr. 1349/1885. Dort steht, dass der Schauspieler am 11. April 1885 im Alter von 63 Jahren in seiner Wohnung in Hamburg, Naß 3, um 9 Uhr vormittags verstarb, wie ein Heildiener „aus eigener Wissenschaft“ bezeugt. Gottlob Adolph war lutherischer Religion und wird im Amtsregister als „ledig“ geführt, doch solche Täuschungen der Behörden waren in jener Zeit nicht schwer zu bewerkstelligen. Als sein Sohn Rudolph seine bereits schwangere Catharina am 30. Oktober 1874 in Frankfurt/Main heiratet und im selben Jahr Rosa in Hanau geboren wird, führt das amtliche Register ihre Großmutter (elf Jahre zu früh) bereits als „verwitwet“. Am 24. Februar 1886 heiratet Clara Retty in Niederrad-und-Oberrad/Hessen ein zweites Mal. Ihr Ehemann, der Expedient und vormalige Schauspieler Carl Heinrich Louis von der Ahé, genannt Berger, wurde am 25. Februar 1818 in Dresden geboren.7

      Von einer kuriosen Familien-Reliquie kann Rosa später nur mehr erzählen. Sie befand sich ihren Angaben nach in einem Kästchen mit persönlichen Dingen, einer seltsamen Zeitkapsel aus dem Besitz ihres Vaters. Darin sammelte er zwei Ochsenzähne, rostige Nägel, einen abgenutzten Federkiel, ein handbemaltes Schächtelchen und einen goldenen Siegelring. Die Geschichte um diesen Ring hat ihr der Vater einmal so erzählt: Er hatte einst ein Schreiben erhalten, wonach in Mittelitalien ein Schloss samt Park als Erbgut auf ihn warteten. Auf einen nachforschenden Brief hin stellt sich heraus, dass es sich um eine Ruine samt Grundstück handelte, die mehr Investitionen erfordert, als sie je an Gewinn eingebracht hätte, weshalb eine Verzichtserklärung leicht vonstattenging. Der Ring befindet sich angeblich seit Generationen in Familienbesitz, seine Geschichte geht zurück bis ins 16. Jahrhundert, als ein Mitglied einer italienischen Familie namens Ferretti nach Russland auswanderte und sich in St. Petersburg als Porträtmaler einen guten Ruf erwarb. Dort verliebte der Italiener sich in eine Ungarin, danach siedelten ihre Nachkommen auf österreichischem Hoheitsgebiet. Wann sich der Familienname von Ferretti in Retty umgewandelt habe, sei unklar. Ein Mann aus dem Geschlecht der Ferrettis, Kardinal Giovanni Maria Mastai-Ferretti, wurde 1846 zu Papst Pius IX. gewählt. In sein Pontifikat fallen die Verkündung zweier Dogmen: jenes der Unbefleckten Empfängnis Mariens und das der päpstlichen Unfehlbarkeit. Rosa benützt die Geschichte in ihrer Autobiografie, um ihre Enkeltochter Romy in ein Verwandtschaftsverhältnis zu dem Pontifex zu rücken, fragt aber schnippisch: „Glauben Sie, daß man das dem Papst antun soll?“8

      Die Historie rund um den sagenhaften Ring und somit eine Verbindung Romy Schneiders zu einem illustren Kirchenfürsten ist historisch nicht belegbar, wohl aber natürlich zu Malern, die von Italien bis nach Russland wirkten. Auf der Suche nach den italienischen Spuren der Familie Retty landet man in dem Ort Laino, einer lombardischen Gemeinde in der Provinz Como. Ab dem Anfang des 17. Jahrhunderts ist hier eine Künstlerfamilie namens Retti dokumentiert, die Arbeiten in ganz Europa ausführten. Zu ihnen gehörte Andrea Retti (auch Reddi oder Reddy geschrieben, geboren um 1595 in Laino, gestorben nach 1635 in Wien), ein italienischer Architekt und Stuckateur, der den Umbau der Stiftskirche Klosterneuburg bei Wien mitgestaltete. Lorenzo Mattia Retti (auch Retty geschrieben, geboren 1664 in Laino, gestorben 1714 in Ludwigsburg) arbeitete als Stuckateur und Architekt in Polen. Leopoldo Retti (geschrieben auch als Leopold Retty, 1704–1751) war als Architekt in Süddeutschland tätig.9 Eine direkte Verbindung zu unserer Geschichte könnte ein Dokument im Geheimen Staatsarchiv Berlin beinhalten. Aus ihm geht hervor, dass die Erben des Malers Leopold Retty aus Rastenburg/ Ostpreußen Ansprüche auf den Nachlass eines Paul Wilhelm Retty in Laino erheben. Dem Ehepaar Leopold Retty und Dorothea Retty, geborene Krausin, in Rastenburg/Kętrzyn wurden Ende des 18. Jahrhunderts mindestens drei Kinder geboren. Es wäre möglich, dass eines davon Gottlieb Adam Adolf Retty war, der 1790 in Rastenburg zur Welt kam. Urkundlich belegen lässt es sich bis dato nicht, doch würde sich dadurch manches aus den Erzählungen Rosas erklären lassen.10

      Rosa. 1890er Jahre. Solche Blicke müssen Schriftsteller wie Arthur Schnitzler inspiriert haben.

       Ihre Vorbilder: Clara Schumann und Josef Kainz

      Nach all den Ausführungen rund um die Theaterfamilie Retty ist es an der Zeit, wieder zu den Zentralpersonen dieser Geschichte zurückzukehren: zu Rosa und ihren Eltern. Im Herbst 1887 tritt Rudolph Retty nach vielen Jahren an Provinztheatern ein Engagement am Deutschen Theater in Berlin an, dessen Direktor Adolph L’Arronge ist. Der Spielplan setzt auf eine wohldosierte Mischung von Klassikern und volkstümlichen Stücken, dieses Konzept machte L’Arronge zum erfolgreichsten Theaterleiter des Wilhelminischen Zeitalters. In Berlin beziehen die Rettys eine Wohnung in der Woehlertstraße 19 im dritten Stock. Rosa besucht die Höhere Töchterschule und erhält Klavierunterricht. Noch vor Mathematik, Physik, Chemie, Französisch, Geschichte, Literaturgeschichte und Musik steht „Gutes Benehmen“ auf dem Lehrplan, das sich auch in vorbildlich aufrechter Körperhaltung zeigen musste. Diese wird ihr ein Leben lang erhalten bleiben.

      Rosa hat zu jener Zeit nicht vor, nach dem Vorbild ihrer Eltern den Schauspielberuf zu ergreifen, sie möchte Pianistin werden. Ihr Vorbild ist Clara Schumann, die sie auf Empfehlung des Dirigenten Hans von Bülow spielen hört. Das Konzertprogramm bleibt der jungen Rosa nicht in Erinnerung, wohl aber Claras langes, schwarzes, von einem weißen Stehkragen abgeschlossenes Kleid sowie ihr samtener Kapotthut, dessen Schleifen unter dem Kinn der Pianistin zusammengebunden waren. Die theatrale Erscheinung der damals fast siebzigjährigen Pianistin beeindruckt Rosa mehr als ihre künstlerische Leistung, sodass sie am Ende sogar zu klatschen vergisst. Bereits mit vier Jahren gibt ihr die Mutter Klavierunterricht, später engagiert man dafür die Kapellmeister jener Theater, an denen der Vater engagiert ist, darunter ist der später als Dirigent

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