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erscheinen. Aber in einer Welt des Entweder-oder gibt es den dritten Weg nicht: den Weg, über den ersten wie den zweiten Weg hinauszuwachsen, alles zusammenzuhalten, kreativ zu sein auf Einssein in Vielfalt hin.

      Das dualistische Denken zieht es offensichtlich vor, die Dinge nach Schwarz-Weiß-Manier mit anderen zu vergleichen und zu bewerten. Der Preis, den dieses dualistische, aufspaltende Denken kostet, besteht darin, dass die eine Seite des Vergleichs immer idealisiert und die andere verteufelt oder zumindest herabgesetzt wird. Für Ausgewogenheit oder nüchterne Ehrlichkeit ist da kaum Platz, geschweige denn für Liebe. Die Weisheit dagegen hält „Vernünftiges“ und „Romantisches“ immer zusammen: so Aristoteles und Plato, Thomas von Aquin und Bonaventura, Sigmund Freud und C. G. Jung – Geist und Sinne.

      Tatsächlich lässt sich sagen: Je größere Gegensätze jemand auszuhalten und zu durchleben vermag, eine umso größere Seele wohnt in ihm. Wir neigen von unserem Temperament her meist eher der einen oder der anderen Seite zu. Wenn man sich auf eine Seite schlägt, befreit es von Spannung und Angst. Nur wenige bringen den Mut auf, ständig die unauflösbare Spannung in der Mitte auszuhalten. Das genau ist die „Torheit“ des Kreuzes, bei der man nicht „beweisen“ kann, dass man richtig liegt, sondern nur zwischen dem guten und dem bösen Schächer „hängt“ und den Preis für deren Versöhnung zahlt (vgl. Lukas 23,39ff).

      Das tertium quid, der „versöhnende Dritte“, ist sehr häufig der Heilige Geist. Aber wie schon oft gesagt wurde, ist der Heilige Geist die „vergessene Person“ des dreifaltigen Gottes. Wir wissen nicht, wie wir Wind, Wasser oder die vom Himmel herabschwebende Taube (vgl. Johannes 3,8) in ein Dogma fassen oder in den Griff bekommen können. Solche schönen, aber immer auch unzureichenden Bilder für Gott sollten uns bei all unserem Wissen und Erklären bescheiden bleiben lassen.

       Das Mysterium Tremendum

      Für Christen bedeutet der Verlust der Gewissheiten, in deren Besitz sich die Moderne wähnte, dass sie wieder energischer auf den Weg der biblischen Religion verwiesen werden und mit dem mysterium tremendum, dem „gewaltigen, erschütternden Geheimnis“ Jesu, zu tun bekommen. Christus ist der Archetyp dessen, was es heißt, ganz und gar Mensch zu sein. Er hält Himmel und Erde zusammen, Göttliches und Menschliches, einen männlichen Körper mit einer weiblichen Seele. Er ist das lebendige Beispiel voller Bewusstheit, die genau darin besteht, die gewöhnlich abgelehnten, unbewussten, angstbesetzten und schattenhaften Teile der Wirklichkeit anzunehmen. Er ist der Sohn Gottes und der Sohn Adams. Wir müssen wahrhaben, dass auch wir Töchter Gottes und Söhne der Erde, der Gottheit und des Fleisches, des Ich und des Schattens sind. Beides ist gut. Und noch besser wird es, wenn es zusammengefügt wird. Jesus ist die Ikone dessen, was Erlösung bedeutet. Wenn beides in uns glücklich zusammen existieren kann, dann könnte man sagen, dass wir „erlöst“ sind.

      Unser Ziel sollte sein, aus einer Spiritualität zu leben, die in jeder Hinsicht mit der sichtbaren Welt verbunden und zugleich fähig ist, das göttliche Licht im Weltlichen und Gewöhnlichen, im Physischen und Materiellen, kurz: im gesamten Kosmos aufscheinen zu sehen – und nicht nur im kirchlich Geprägten, im Korrekten und Sauberen, das die Welt aufspaltet und im Widerstreit hält. Es geht um die Synthese, um die Vereinigung der Gegensätze, zu der uns meiner Auffassung nach ein erwachtes Christentum führen sollte. „An jenem Tag wird auf den Schellen der Pferde stehen: Dem Herrn heilig. Die Töpfe im Hause des Herrn werden den Opferschalen vor dem Altar gleichgestellt werden“ (Sacharja 14,20).

      Paulus zielt genau darauf ab, wenn er im Epheserbrief (4,4–6) sagt: „Ein Leib und ein Geist … eine gemeinsame Hoffnung … ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der über allem und durch alles und in allem ist.“ Würde ich heute aus mir heraus so reden, würde man mich in vielen katholischen Kreisen des Pantheismus oder leichtgewichtigen Humanismus bezichtigen. So zitiere ich einfach Paulus.

      Wir haben keinen Grund, uns für unseren Christus zu entschuldigen. Er ist ein makelloses Abbild all dessen, was Gott auf Erden wirkt, vor allem in seiner gekreuzigten und auferstandenen Existenz. Er ist für uns die lebendige Ikone unserer eigenen Verwandlung. Jesus hält die Spannung der Gegensätze zusammen, und zwar in ihren extremsten Ausprägungen von Leben und Tod. Man könnte die Menschheit definieren als das, was ewig gekreuzigt und ewig auferweckt wird – und beides zugleich!

      Wie wir immer wieder sehen werden, ist das Kreuz die Vereinigung der Gegensätze: eine vertikale und eine horizontale Bewegung, die einander sichtbar durchkreuzen. Wenn entgegengesetzte Energien gleich welcher Art in Ihnen in Konflikt geraten, leiden Sie. Wenn Sie es zulassen, sie schöpferisch auszuhalten, bis sie Sie umwandeln zum Einssein, wird die Not zum erlösenden Leiden. Dies steht freilich in radikalem Gegensatz zum Mythos von der erlösenden Gewalttätigkeit, von dem der Großteil der Menschheitsgeschichte beherrscht ist. Wenn man die Widersprüche auszurotten versucht, statt sie miteinander zu versöhnen, erreicht man nichts anderes als eine ständige Weiterführung des Problems. Auch wenn dies eigentlich offensichtlich und einleuchtend so ist, können es die meisten Leute nicht sehen. Vielleicht wird aus diesem Grunde im Johannesevangelium die Blindheit als vorrangiges Bild für die Sünde verwendet.

      In heutiger Zeit gibt es in fast jeder Institution eine äußerste Rechte und eine äußerste Linke, und beide Seiten benutzen die Extravaganzen und Fehler ihrer jeweiligen Gegenseite dazu, ihre eigenen fragwürdigen Ansichten zu rechtfertigen. Es sieht so aus, als nähme derzeit überall auf der Welt ein reaktionäres und protektionistisches Denken wieder zu, das dann wiederum als Rechtfertigung dafür dient, dass die politische Linke überreagiert. Dieses Pingpong-Spiel war im 20. Jahrhundert ungemein geläufig, sogar innerhalb der Christenheit (die eigentlich inzwischen etwas weiser geworden sein sollte), sodass Christen für viele Menschen inzwischen gleichbedeutend sind mit Anti-Intellektuellen, mit fanatisch Engstirnigen. In den Augen mancher geht es beim Christentum weder um Glauben noch um Vernunft, sondern lediglich um eine Art reaktiven Stammesverhaltens unter den Röcken der „Mutter Kirche“. Wie traurig, wenn eine so große Tradition zu etwas so Kümmerlichem verkommen wäre!

      In manchen Kreisen, in denen ich mich bewege, ist das Wort christlich zu einer negativen Bezeichnung geworden. Für die Menschen dort verbindet sich die Aussage „Er ist Christ“ mit dem Urteil: Er versteht nichts von Geschichte, nichts von Politik und ist wahrscheinlich zu keiner anspruchsvolleren Konversation fähig, mit fünf Bibelzitaten weiß er auf alles eine Antwort. – Wie konnten wir nach einer so langen Weisheits-Tradition derart tief absinken? Wie konnten wir nach der demütigen Torheit des Kreuzes in eine solche Überheblichkeit zurückfallen?

      Wenn wir unfähig sind, Brücken zum anderen zu bauen, ja sein Anderssein überhaupt zu verstehen, sollten wir wissen, dass wir uns außerhalb echten Christentums befinden. Verschwenden Sie aber keine Zeit damit, direkt dagegen anzukämpfen; sonst fallen Sie der Scheinheiligkeit womöglich nur selbst zum Opfer. Unser Wahlspruch ist einfach und klar: Schlechtes kritisiert man am besten, indem man Gutes tut. Machen Sie einfach voran und leben Sie positiv „in Gott, durch Gott und mit Gott“. Die Früchte werden zu ihrer Zeit ans Licht kommen. Kurzfristig werden Sie die ungelöste Spannung des Kreuzes aushalten müssen. Langfristig werden Sie zu etwas völlig Neuem und Heilendem gelangen. Darin zeichnete sich der intuitive spirituelle Genius des Franz von Assisi aus. Er verschwendete keine Zeit damit, die reichen Kirchen und selbstgefällige Kleriker anzugreifen, nicht einmal habgierige Händler wie seinen Vater; er stieg einfach aus und machte es anders. An ihn erinnert man sich für immer; jene haben in der Geschichte keine Spuren hinterlassen.

       Eine einsame Welt

      Ich möchte dieses Kapitel mit einem Blick auf ein trauriges Nebenprodukt des Postmodernismus schließen: Postmodernismus und Modernismus lehnen ein personalisiertes Universum ab. Sie ent-zaubern das Universum. Wunder sind nicht mehr zu erwarten; ebenso braucht man nicht mehr zu erwarten, dass das Transzendente aus einem Baum oder Blatt hervorleuchtet und „jeder gewöhnliche Busch von Gott brennt“ (Elizabeth Barrett Browning, Aurora Light, in: Nicholson/Lee: The Oxford Book of English Mysitivcal Verse, 1917). Diese Entzauberung spiegelt den modernen Zustand

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