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verspotten, bevor es mich enttäuscht?“ Da es keine Heldinnen und Helden mehr gibt, verfällt der Einzelne in eine Art von negativem Heldentum, indem er möglichst hemmungslos alle menschlichen Schwächen, Süchte und Gemeinheiten öffentlich auslebt. Ich muss dann selbst nicht mehr erwachsen werden, sondern kann mir darin gefallen aufzuzeigen, dass alle anderen im Grunde genommen auch nicht besser und sowieso alle verlogen sind. Geht es so nicht auch weithin im politischen Leben zu? Bei diesem ganzen Spiel geht es darum, sich gegenseitig möglichst tief in den Dreck zu ziehen, was rein gar nichts mit der Abwärtsbewegung zu echter Demut zu tun hat. Es handelt sich lediglich um die Abwärtsspirale eines allumfassenden Skeptizismus. Wir bringen nicht mehr die Disziplin auf, menschliche Lebensformen zu entwickeln, weil wir nicht mehr glauben, dass es solche überhaupt gibt.

      Seltsamerweise artet dies zu einer säkularen Form des Puritanismus aus; denn immer noch versuchen wir, die Sünden der Welt aufzudecken und zu verabscheuen; nur definieren wir sie jetzt anders. Die Art, wie Sexskandale in Washington behandelt werden, unterscheidet sich recht wenig davon, wie die alten irischen Priester darauf versessen waren, in ihrer Pfarrei alle Unzüchtigen aufzuspüren. Wir meinen, wir könnten unser Schatten-Ich in den Griff bekommen, statt es in eine größere Ganzheit einzubeziehen, indem wir es annehmen, ihm vergeben und es verwandeln. Kein Wunder also, dass sich Jesus überhaupt nicht auf das Schatten-Ich konzentrierte, sondern fast nur auf das wahre Selbst.

      Wo es für die Welt keinen zusammenhängenden Sinn oder göttlichen Zweck gibt, fällt es viel leichter, nach jemandem zu suchen, den man entlarven, anklagen, vertreiben oder bloßstellen kann. Schließlich muss ich ja einen Schuldigen dafür finden, dass ich so unglücklich bin! Solange ich versuche, mich mit dem Geheimnis des Bösen auf andere Weise zu befassen als mit einer Haltung des Vergebens und Heilens, erschaffe ich weiterhin negative Ideologien wie Fundamentalismus hier, Nihilismus dort, in ihren zahllosen Spielarten. Der eine fordert vollkommene Ordnung; der andere behauptet, eine solche sei grundsätzlich gar nicht möglich. Jesus tat keines von beidem; er lebte vielmehr mitten im Zwiespalt des Menschen.

      In den letzten Jahren haben wir erlebt, was wir vor Kurzem noch für undenkbar gehalten hätten. Diese Schauspiele beschränken sich durchaus nicht auf einzelne kulturelle Tabubrecher, sondern dieser Trend äußert sich im Hauptstrom zeitgenössischer Kunst und Medien, im Schreiben und in jedem Aspekt des Lebensstils: Von wem wird denn noch erwartet, sich an die klassischen Disziplinen von irgendetwas zu halten, zumal es solche angeblich ja überhaupt nicht mehr gibt?

      Es ist die eine Sache, die Jahre disziplinierten Übens auf sich zu nehmen, die man braucht, um eine bestimmte Kunst oder ein Handwerk zu beherrschen, und sich dann auf neue und kreative Weise auf dem Papier oder in einem anderen Medium auszudrücken. In manchen Fällen mag daraus große Kunst werden. Bevor man die Regeln brechen kann, muss man sie aber zuerst einmal kennenlernen. Im „Brechen von Regeln“ kann sich eine gewaltige Kreativität oder gar echte Heiligkeit äußern. Aber wenn man, noch ehe jemals einen Pinsel in der Hand gehabt zu haben, gleich damit anfängt, Farbe aufs Papier zu klecksen, und dies als großartigen Selbstausdruck bezeichnet, bleibt es eine kurzlebige Sache. Diese „Kunst“ verfügt über nichts, was sie mit dem kollektiven Gedächtnis oder dem Archetypischen verbinden würde. Sie zeigt nur, was ich fühle. Das Ich steht beherrschend und lässt anderen so gut wie keinen Platz. Alle Anknüpfung für Gemeinschaftliches, das sich mit anderen teilen ließe, fehlt.

      Private Gefühle sind unsere heutige Form der Wahrheit; es ist eine Art vollständigen Aufgehens in sich selbst – verständlich, denn es gibt ja keine allgemeinen Muster mehr. Menschen meinen, wenn sie ihre privaten Gefühle zum Ausdruck brächten, leisteten sie etwas Großartiges. Das kann man in Talkshows sehen: Menschen, die sich da aussprechen, haben nie etwas anderes gelesen oder studiert, zu nichts anderem gebetet und auf nichts anderes gehört als auf ihre eigenen tyrannischen Gefühle. Doch sind sie fest davon überzeugt, sie hätten ein Recht darauf, dass ihre uniformierten Ansichten über das Sozialsystem, die Religion oder die Ökosteuer öffentlich bekannt gemacht und ernst genommen werden! Kein Wunder, dass unsere öffentliche Diskussion verfällt, selbst in den Bereichen von Gericht, Parlament, Universität und auch Kirche.

      Es stimmt, dass viele Leute wütend und frustriert sind und etwas darüber zu sagen haben; aber wir sollten auch auf größere Geister hören, auf größere Herzen, größere Seelen, die nicht lediglich darauf versessen sind, sich selbst kundzutun: „So bin ich“, sondern auch das größere Spektrum von „So sind wir“ ansprechen und insbesondere die großen Lebensthemen (im 5. Kapitel wird davon ausführlicher die Rede sein). Das sind Menschen, die dazu beitragen, große Lebensperspektiven aufzubauen, Menschen, auf die zu hören und mit denen zu reden sich lohnt. Ich denke, dies bedeutet, Teil des großen Prozessionszugs der Menschheit durch die Geschichte zu sein, statt nur ein isoliert in der Gegend herumstehendes Individuum; Glied am kosmischen Leib Christi zu sein, statt sich nur mit der widersprüchlichen Selbstbezeichnung eines „individuell Glaubenden“ zu versehen.

      Ein eingefleischter Individualist ist keineswegs ein Glaubender; denn glauben heißt, sich im Vertrauen an etwas zu binden, sich auf etwas oder jemanden ganz und gar einzulassen, zu etwas dazuzugehören und definitiv Verantwortung zu tragen. Bevor wir unsere heutige im spirituellen Sinne verfallende, minimierte Lebenskultur wieder aufbauen können, müssen wir zunächst einmal selbst intensiv an etwas angeschlossen sein. Dies erst weckt wahre Religion; denn re-ligio heißt „Rück-Bindung“, „Wieder-Anbindung“. Vielleicht ist das auch eine Umschreibung für „sich wieder auf elementare Grundwerte einlassen“.

       In unserem kulturellen Zwiespalt bewusst leben

      Jede Sichtweise geschieht von einem bestimmten Standpunkt aus. Solange man nicht seine eigenen, kulturell und zeitbedingten Sichtweisen wirklich kennt, wird man sie kaum relativieren oder bedenken wollen, dass sie nicht die einzig möglichen sind. So lebt man mit einem hohen Maß an Illusion und Einseitigkeit, die schon so manches Leid und so manchen Unfrieden ausgelöst haben. Ich denke, genau darum ging es auch Simone Weil, als sie sagte: „Die Liebe zu Gott ist die Quelle aller Wahrheit.“ Nur ein nicht nur in uns selbst gründender universaler Bezug verschafft unserem Geist und Herzen einen ganz verlässlichen Ausgangspunkt.

      Einer der Schlüssel zur Weisheit besteht darin, seine eigenen Zwiespältigkeiten zu erkennen, seine eigenen süchtigen Abhängigkeiten und Fixierungen sowie den Umstand, dass man aus irgendeinem Grund viele Dinge einfach nicht wahrnehmen will. Solange man die eigenen Denk- und Verhaltensmuster nicht durchschaut (das meint Kontemplation in ihrer Frühphase), ist man nicht in der Lage, das zu sehen, was man nicht sieht. Kein Wunder also, dass Teresa von Ávila sagte, Selbsterkenntnis sei das erste und unerlässliche Eingangstor zur „Seelenburg“. Ohne ein selbstkritisches Bewusstsein dafür, wie eng die eigenen Perspektiven sind, besteht kaum Aussicht, dass jemand wirklich Erkenntnis oder bleibende Weisheit erlangt.

      Die Postmoderne zerschlägt aus Enttäuschung in einem wütenden Rundumschlag alles, was ihr im Weg steht, um sich den drei beherrschenden Maximen der Moderne (siehe unten), die unser Zeitalter geprägt hat, zu widersetzen. (Wie wir noch sehen werden, hat dieses Zerschlagen, deconstruction, nicht nur negative, sondern auch positive Auswirkungen. Ohne ein gewisses Maß an Dekonstruktion wird alles zum Götzen. Die Propheten waren daher „religiöse Dekonstruktivisten“.)

      Erstens glaubte die Moderne, die Wirklichkeit beinhalte eine feste Ordnung. Das postmoderne Denken behauptet, es gebe überhaupt keine Ordnung. Paradoxerweise nähert sich die Postmoderne sowohl dem Nihilismus als auch der Mystik; denn sie vertritt die Auffassung, entweder sei niemand oder es sei jemand verantwortlich. Das Einzige, was wir inzwischen sicher wissen, ist, dass unser Denken und unser Verstand es jedenfalls nicht sind! Von daher erklärt sich das Neuerstehen von Spiritualitäten in allen nur erdenklichen Formen. Die alten Kirchen bekommen unversehens eine Menge Konkurrenz, während sie eine lange Zeit hindurch über ein Monopol verfügen konnten.

      Ich finde es bemerkenswert, dass im Englischen die Priesterweihe als Holy Orders bezeichnet wird, also wörtlich als „heilige Ordnungen“. Diese Bezeichnung dürfte verraten, was vom Priestertum im Grunde erwartet wird: Ordnung, ordnende Leitlinien, Grenzvorgaben, Kontrolle, Klarheit.

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