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wir nur selten eine gemeinsame Sprache. Dieser Zustand machte mir Angst. Über der Stille lag eine seltsame Spannung. Wir schwiegen nicht miteinander, sondern gegeneinander. In Gedanken ließ ich die beiden Wochen mit Corinna Revue passieren und bereute keinen Augenblick. Plötzlich überwand mein Vater seine Zurückhaltung und sprach von einer Episode im Leben, woraus ich schlussfolgerte, dass er gegen diese Beziehung war. Wahrscheinlich hatte ihn Mutti damit beauftragt. Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen und es verstrichen Minuten, in denen keiner etwas sagte. Der Ratschlag meiner Eltern missfiel mir, obwohl ich Verständnis dafür hatte. In der Vergangenheit mussten sie sich oft neue Namen einprägen. Ob Kirsten oder Jana bei mir aktuell waren, wussten meine Eltern nie. Ihnen fehlte die Kontinuität in meinen Beziehungen. Wie nur sollte ich ihnen glaubhaft vermitteln, dass Corinna die Richtige für mich war? Die Fahrt in die Kreisstadt reichte dafür nicht aus. Da ich beim Abschied keinen Streit wollte, blieb ich stumm. Jörg schmunzelte auf dem Rücksitz. Selbst er hatte bemerkt, dass Corinna zu mir passte. Von diesem Glück musste ich den Vati überzeugen, denn ich brauchte einen Fürsprecher in der Familie. Mein alter Herr stand auf meiner Seite, seit ich ihn beim heimlichen Rauchen erwischte. Meine Mutter schickte mich ins Dorf, um ihn zu suchen. Mir war klar, dass er sich in einer unserer beiden Gaststätten aufhalten würde. Neugierig betrat ich die Bahnhofskneipe und sah meinen Vater, der am Stammtisch saß und genüsslich an einer Jägerstolz-Zigarre zog. Sein knallrotes Gesicht signalisierte mir, dass er den glimmenden Stummel am liebsten verschluckt hätte. Mein alter Herr fühlte sich ertappt. Verunsichert nahm ich neben ihm Platz. Obwohl der stinkende Stumpen im Aschenbecher landete, begann ich zu husten von dem ganzen Qualm. Mein Vater spendierte eine Fassbrause und bat mich, seinen Rückfall ins ungesunde Laster daheim zu verschweigen, denn er galt seit einigen Jahren als Nichtraucher. Meine Verschwiegenheit belohnte er großzügig mit vielen Freiheiten.

      Mein Vater ist ein großartiger Mensch gewesen, mit dem ich gern die Zeit verbrachte. Er war immer dabei, wenn Höhepunkte in meinem Leben anstanden und vermittelte mir Sicherheit. Leider habe ich ihm nie gesagt, dass ich mich in seiner Obhut geborgen fühlte. Wir hatten nur wenige Gemeinsamkeiten. Mein alter Herr war kein Mannschaftssportler wie ich, sondern ein verbissener Einzelkämpfer, der ehrgeizig Kraftsport betrieb und sich beim Angeln entspannte. Ich fuhr mit zum See, weil ich von ihm lernen wollte. Anfangs konnte ich nie meine große Klappe halten und fragte ständig, ob ich denn schon still sein müsse, um die Fische nicht zu verscheuchen. Wir hatten nicht einmal richtige Angelgeräte. Mein Vater brachte mir bei, wie man mit einem scharfen Taschenmesser eine Rute vom Baum abschnitt. Dabei mahnte er, mit dem Messer vom Körper weg zu schneiden. Während ich diese Prozedur früher als Erziehung empfand, rechne ich sie heute zur Familientradition, die von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Wenn ich meinen alten Herrn darum bat, spannende Geschichten von früher zu erzählen, schilderte er detailliert, wie er im Jahre 1936 das Reichssportjugendabzeichen ablegte. Fragte ich ihn nach seiner Rolle im Zweiten Weltkrieg, verstummte er. Er redete nicht gern vom Überlebenskampf 1944 in der Wüste Nordafrikas. Wie viele andere zwang man ihn in den Krieg, obwohl er jede Form von Ungerechtigkeit verabscheute. Mein Vater sprach von Angst und nie vom Mut, diese Angst zu besiegen. Daher sehe ich seinen Eintritt in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) nach Kriegsende als konsequente und mutige Entscheidung. Ich erinnere mich an seinen Wutanfall, als er mich beim Lesen des verbotenen Buches „Mein Kampf“ erwischte, das er unter seinen Socken im sicheren Versteck wähnte. Mein Vater wollte mich vor dieser größenwahnsinnigen Lektüre schützen, die für die historische Einordnung des deutschen Faschismus wichtig ist. Für seinen Einsatz in Afrika hätte er sich nicht gerühmt, denn er war nur ein einfacher Militärkraftfahrer, der gesund nach Hause kommen wollte. Wenn die Reifen seines Jeeps in der Wüste qualmten, musste er anhalten und dagegen pinkeln, um den Gummi abzukühlen. Nannte er das etwa Kampf? Meine Gedanken wurden in diesem Moment so ungerecht und verletzend, dass ich mich selbst vor ihnen fürchtete. Mein alter Herr war kein Held, aber ein Vorbild, und ich wollte ihn unbedingt bei internen Wettkämpfen schlagen, die da lauteten: Wer fing den ersten und den letzten Fisch und wer hatte am Ende die meisten geangelt? Einmal gewann ich alle drei Disziplinen, obwohl ich nur einen einzigen Fisch fing. Der Vati redete den ganzen Tag kein Wort mehr mit mir. Manchmal sind wir richtige Rivalen gewesen, weil ich alles besser machen wollte als er. Warum gönnte mir mein Vater, der selbst nichts anbrennen ließ im Leben, das Glück mit Corinna nicht? Hielt er diese Frau für ein Flittchen, das kleine Jungs verführte oder war er einfach nur neidisch auf seinen Sohn? Das Gerede meiner Eltern vom großen Altersunterschied konnte ich nicht verstehen, denn Corinna und ich harmonierten bestens. Hatte ich ihnen bisher alles recht machen können, missfiel mir der Gedanke an ständigen Gehorsam. Irgendwie musste ich mich doch abnabeln. Ich wollte Corinna um jeden Preis, dessen war ich mir sicher. Schließlich kann man nicht alles über den Haufen werfen, wenn es unbequem wird oder den Eltern nicht in den Kram passt. Mein Vater schwieg. Vorwurfsvoll blickte ich ihn beim Aussteigen an und merkte, dass mein Vorbild zu bröckeln begann. Mir fehlten Verständnis und Toleranz, die er mir selbst stets vermittelte. Obwohl der Sonderzug nach Eisenach reichlich Verspätung hatte, verabschiedete sich mein alter Herr hastig von uns. Eine herzliche Umarmung verwehrte er mir. Wortlos fuhr mein Vater auf und davon.

      Eisenach

      Während der Fahrt nach Eisenach blieb ich bei Jörg, da er der Einzige war, den ich kannte. Wir wählten einen Waggon in der Mitte des Zuges, weil mein Kumpel meinte, dass dort bei einem Unfall weniger passieren würde als vorne, direkt hinter der Lok. Sicherheitsdenken zeichnete Jörg aus, der mit Leib und Seele in die Eisenbahnerlehre ging. Der Sammeltransport hielt nur in größeren Städten, wo weitere Soldaten zustiegen. Aussteigen durfte niemand. Im Nachbarabteil traf ich einen guten alten Bekannten, der in der gleichen Kreisliga Fußball spielte wie ich. Er beschwerte sich lautstark über das Getümmel auf den schmalen Gängen, das kein Ende nehmen wollte. Angetrunkene Rekruten nutzten die kurzen Aufenthalte, um sich mit Alkohol zu versorgen. Durchs geöffnete Fenster baten sie Wartende auf den Bahnsteigen, Schnaps einzukaufen. Die meisten Soldaten verzichteten aufs Wechselgeld und gaben 20 Mark für eine Flasche Juwel, die für 14,50 Mark am Bahnhofskiosk verkauft wurde. Das Geld saß locker, als gäbe es kein Leben mehr nach der Armeezeit. Bei dem feuchtfröhlichen Durcheinander fehlte mir die nötige Ruhe, in meinem Lieblingsroman von Alexandre Dumas zu schmökern. Da ich das Buch mehrmals gelesen hatte, ist es eine Art Talisman für mich geworden. Obwohl eine Militärstreife im Zug von vorne nach hinten und wieder zurück patrouillierte, spielten sich in einigen Abteilen chaotische Szenen ab. Übermäßiger Alkoholgenuss stellte die Evolution vollkommen auf den Kopf, erwachsene Menschen torkelten herum wie Primaten. Zum Glück setzten sich die Krakeeler irgendwann hin und schliefen ein. Ich zog den „Graf von Monte Christo“ aus der Tasche und las die kurze Zusammenfassung auf den Innenseiten des Buchumschlages. Weiter bin ich nicht gekommen, denn die Umrisse der Wartburg waren bereits durchs Fenster zu erkennen. Kurze Zeit später erreichte der Sonderzug den Bahnhof von Eisenach. Auf dem abgesperrten Vorplatz trieb man uns zusammen, um einigermaßen geordnet in Richtung Ernst-Thälmann-Straße zu laufen. Marschieren hätte bei den Schnapsleichen unmöglich ausgesehen. Inmitten einer orientierungslosen Herde trottete ich Jörg hinterher. Uniformierte Schreihälse sorgten vor, neben und hinterm Pulk dafür, dass wir auf dem Bürgersteig blieben. Wer trotzdem auf die Straße ausscherte, sammelte die ersten Minuspunkte. Wir überholten Betrunkene, die sich kniend auf dem Kopfsteinpflaster übergaben.

      Im Schutze der Dunkelheit erreichten alle das Grenzausbildungsregiment „Theodor Neubauer“. Das um 1930 angelegte Kasernengelände der ehemaligen Wehrmacht bildete ursprünglich die nördliche Grenze der Stadt Eisenach. Die Kasernen waren drei- und viergeschossige Zweckbauten mit Satteldach, die in traditioneller Bauweise errichtet wurden. In diesen Gebäuden sollte ich meine Ausbildung absolvieren. Hinterm Kontrolldurchlass (KDL) bogen wir links auf die Regimentsstraße ab. Dahinter lag rechts der beleuchtete Appellplatz, der sich mit Zivilisten füllte. Nur Vorgesetzte trugen Uniformen. Ein kleiner, pummeliger Major schrie uns herzlich willkommen, stellte die Führung des Grenzausbildungsregimentes vor und übergab das Wort an den ranghöchsten Offizier in Eisenach. Der Regimentskommandeur beauftragte uns, im Angesicht der Bedrohung durch den Klassenfeind die sozialistischen Errungenschaften zu schützen. Was er vom Vaterland, von der Waffenbrüderschaft mit der Sowjetarmee und den Bruderarmeen, vom politisch bewussten Soldaten, von Befehl und Gehorsam, von der sozialistischen Soldatenkameradschaft

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