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beim „lautenLautstärkelaut“ Lesen. Durch diese Trennungserfahrung zwischen Geschriebenem und Leser sei die neue Haltung gegenüber Texten und damit das „leise“ Lesen ermöglicht worden.16

      „Der traditionelle LeserLeser, der seine StimmeStimme braucht, um die graphische Sequenz ‚wiederzuerkennen‘ [=ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω], unterhält mit dem GeschriebenenSchriftGeschriebenes auf der Ebene der Verlautlichung eine spürbar aktive Beziehung (obwohl er gegenüber dem Schreiber, dessen Programm er ausführt, die Rolle des ‚passiven Partners‘ einnehmen kann). Um seine instrumentelle Funktion auszuüben, muß er eine geistige und physische Anstrengung vollziehen, sonst blieben die BuchstabenBuch-stabe ohne Bedeutung. […] Die Aktivität des stillLautstärkestill Lesenden wird nicht als eine Anstrengung zur Dechiffrierung erlebt, es ist eine Aktivität, die als solche nicht bewußt ist (so wie die interpretative Aktivität des ‚Ohrs‘, das eine bedeutungstragende Lautsequenz hört, eine sich als solche ignorierende Aktivität ist […]). Ihre ‚Wiedererkennung‘ des Sinns ist unmittelbar; ihr geht kein opaker Moment voraus. Der in seinem Kopf Lesende braucht das Geschriebene nicht durch seine Stimme zu aktivieren oder zu reaktivieren. Die Schrift scheint ganz einfach zu ihm zu sprechen. Er hört seine Schrift – so wie der Zuschauer im TheaterTheater die Vokalschrift der Schauspieler hört. Das visuellvisuell ‚(wieder)erkannte‘ Geschriebene scheint die gleiche Autonomie zu besitzen wie die Theateraufführung. Die Buchstaben lesen sich – oder vielmehr: sagen sich – von selbst. […] Die Buchstaben, fähig zu ‚sprechen‘, können auf das Eingreifen einer Stimme verzichten. Sie besitzen bereits eine. Es ist am Leser, bloß ‚zuzuhören‘ – im Inneren seiner selbst.“17

      (2) Laut G. A. G. Stroumsa liegt der Ursprung des „leisenLautstärkeleise“ Lesens, dessen Durchsetzung allerdings einen langen Zeitraum in Anspruch genommen habe, in der Bibellektüre christlicher Mönche in der Spätantike, stehe auch im Zusammenhang mit dem Medienwechsel von der RolleRolle (scroll) zum KodexKodex und habe erstmals zu einer Internalisierung der heiligen SchriftHeilige Schrift(en) geführt und ein neues religiöses System etabliert:

      „Side by side with the passage from roll to CodexKodex, our period saw the development of silent reading, a development (rather than a discovery) for which Augustin offers our best testimony […;] the development of silent reading, which would take a very long time, as it is not before the thirteenth century that it is well established […] seems to be directly linked to privateÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat reading of the Bible in the monastic milieus (in particular of the Psalms […]), in meditation and oration. The ability to read the holy text in silence and to memorize it brought to its internalization. […] In other words, the development of silent reading among early Christian elites reflect the transformed status of the individual in the new religious system, and it must have been as closely related to it as was the use of the codex.“18

      (3) P. Saenger führt in seinem viel zitierten Buch „Space between Words“ die Möglichkeit der Entwicklung des „leisenLautstärkeleise“ Lesens auf die Innovation von WorttrennungWort-trennungen (s. Schrift) und Wortzwischenräumen in den Texten zurück, die erstmals in den HandschriftenHandschrift/Manuskript von iroschottischen Mönchen im 7./8. Jh. belegt sind. Saenger entwickelt seine Entwicklungstheorie vor dem Hintergrund der unhinterfragten Interdependenz von scriptio continuaSchriftscriptio continua und der generellen Praxis in der Antike, lautLautstärkelaut bzw. vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend oder subvokalisierend zu lesen, wobei er die Argumente und Quellenbelege aus dem hier skizzierten altertumswissenschaftlichen Forschungsdiskurs übernimmt.19 Die Annahme eines kausalen Zusammenhangs zwischen der Verwendung von scriptio continua in den antiken Manuskripten und der Praxis des „lauten“ bzw. vokalisierenden Lesens wird unten unter 4 ausführlich zu problematisieren sein.

      (4) Sodann findet sich nicht nur in der Frühneuzeitforschung noch immer die maßgeblich durch M. McLuhans These einer primär oralMündlichkeit geprägten mittelalterlichen Kultur20 forcierte Sicht, dass der Übergang vom „lautenLautstärkelaut“ zum „leisenLautstärkeleise“ Lesen mit der Erfindung des Buchdrucks zusammenhänge.21

      (5) V. a. in der germanistischen Forschung wird der Übergang ins 18. Jh. datiert, wie z.B. in der Kapitelüberschrift „Das Ende des lautenLautstärkelaut Lesens“ in E. Schöns „Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des LesersLeser“ anschaulich zum Ausdruck kommt.22

      Diese Übersicht verdeutlicht, dass die Quellen einer linearen Fortschrittsgeschichte des Lesens entgegenstehen. So ist dann die maßgeblich von J. Balogh geprägten Sichtweise, in der Antike habe man generell lautLautstärkelaut gelesen, das „leiseLautstärkeleise“ Lesen sei eine Abnormität gewesen, im altertumswissenschaftlichen Diskurs des 20. Jh. dann auch nicht unwidersprochen geblieben. Wie schon oben angedeutet, hat B. M. Knox 1968 in einem profilierten Aufsatz die allgemeine Gültigkeit der Schlussfolgerungen Baloghs angezweifelt.23 Seine Gegenargumente lassen sich wie folgt zusammenfassen: a) Die Menge an Werken und Büchern/RollenRolle (scroll), die z.B. Aristarchos, KallimachosKallimachos oder der produktive griechische Grammatiker Didymos Chalkenteros, dessen Gesamtwerk 3000–4000 Rollen umfasst haben soll,24 für die Abfassung ihrer Werke gelesen haben müssen, macht es unwahrscheinlich, dass diese nicht das effizientere nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierend Lesen praktiziert hätten.25 Die Liste der antiken AutorenAutor/Verfasser, die eine Vielzahl von Büchern für die Abfassung ihrer Werke gelesen haben, ließe sich noch um eine große Anzahl vermehren. b) Die Quellen, die Balogh als positive Evidenz für seine These anführe, seien vor allem römisch bzw. aus der Spätantike; aus dem griechisch-sprachigen Bereich bringe er hingegen wenig Evidenz vor. Zudem reichte c) die Evidenz der angeführten Quellen nicht aus, eine generalisierende Schlussfolgerung im Sinne Baloghs abzuleiten, wie er anhand einer Einzelbesprechung der einzelnen Quelle deutlich macht.26 Knox führt dann d) zahlreiche Belege an, die zeigen, dass man in der Antike nicht nur literarische Texte „leise“ lesen konnte, sondern dass vor allem nicht-literarische Texte „leise“ gelesen wurden.

      Der Übersicht halber seien die bisher diskutierten Quellen an dieser Stelle kurz aufgeführt: Knox verweist zunächst auf eine Szene in den Tusculanae disputationes, auf die 1931 schon W. P. Clark in einem kurzen Artikel aufmerksam gemacht hat:27 Im Zusammenhang eines Diskurses über Taubheit wird hier festgestellt, dass das Lesen von Liedtexten (cantus) mit größerer Lust verbunden ist als das Hören derselben (deinde multo maiorem percipi posse legendislego his quam audiendisaudio voluptatem; Cic.Cicero, Marcus Tullius Tusc. 5,116); „leises“ Lesen sei hier eindeutig vorauszusetzen. Knox betont, dass CaesarCaesar definitiv „leiseLautstärkeleise“ lesen konnte und insb. Briefe „leise“ gelesen hat;28 zudem dekonstruiert er den Versuch von Balogh, einzelne Stellen, an denen „leises“ Lesen explizit in den Quellen erwähnt wird, „wegzudiskutieren“ und sieht in ihnen umgekehrt Belege dafür, dass „leises“ Lesen durchaus praktiziert wurde:29 Aus Suet.Suetonius Tranquillus, Gaius Aug.Augustinus von Hippo 39, wo dokumentiert ist, dass Augustus als Ehrmahnung SchreibtafelnTafel/Täfelchen in der ÖffentlichkeitÖffentlichkeit „leise“ lesen lies (quos taciti et ibidem statim legerent), lasse sich nicht schlussfolgern, dass es sich hier um eine Ausnahme des „leisen“ Lesens handle.30 Bezüglich Hor.Horaz sat. 2,5,51–55; 66–69 wirft Knox Balogh zu Recht vor, dass er hier zwei LeseszenenLese-szene in unzulässiger Weise vermische – an der ersten Stelle ginge es darum, dass ein Testament „leise“ mit den AugenAugen gelesen wird, weil es unbemerkt geschehen muss; tacitus legerelego (2,5,68) an der zweiten Stelle meine nicht wörtlich das „leise“ Lesen, sondern sei zu verstehen im Sinne von by himself, in peace. Auch die InschriftInschriften auf dem Apfel in der Geschichte von der Liebe des Akontios zu Kydippe (vgl. Aristain.Aristainetos 1,10,35–42), die Kydippe (bis auf das letzte Wort!) „lautLautstärkelaut“ liest und damit schwört, Akontios zu heiraten, sei gerade kein Beleg dafür,

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