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(s. o.) sowie durch Thesen zum „oralen“ Charakter der antiken Kultur insgesamt beeinflusst.43

      Abgesehen davon wird die Relevanz des LiteralitätsgradesLiteralität/Illiteralität für die Frage nach LesepraktikenLese-praxis und -modalitäten m. E. in weiten Teilen der Forschung überschätzt. Zunächst müsste ja der Nachweis erbracht werden, dass die zur Diskussion stehende Literatur sich tatsächlich vorrangig an illiterate RezipientenRezipient richtete bzw. dass VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt von Texten in Gruppen als notwendig angesehen worden wäre, um illiterate Schichten mit den Texten zu erreichen. Schon hier sei darauf hingewiesen, dass bei den Darstellungen in den Quellen aus der griechisch-römischen Welt, in der Vorlesen in Gruppen thematisiert wird, das PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum) mit Sicherheit zu einem großen Teil selbst aus literarisch Gebildeten bestand. Zudem wäre doch zu vermuten, dass das VerstehenVerstehen der in Betracht kommenden antiken Texte eine gewisse literarische Vorbildung voraussetzt. So formuliert etwa Pseudo-Lukianos, dass es aussichtslos sei, den Illiteraten bzw. Ungebildeten etwas in gelehrter Weise vorzulesen, solange sie ohne Wissen sind (ἀναγνῶναι ἢ γράψαι τοῖς ἀγραμμάτοιςἀγράμματος γραμματικὸν τρόπον ἀδυνατώτερόν ἐστιν τέως ἂν ὦσιν ἀνεπιστήμονες; Ps.-Lukian.Pseudo-Lucianos Halcyon 7).44

      Die Beweislast liegt m. E. bei denjenigen, die einen Zusammenhang zwischen Illiteralität und VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt in Gruppen postulieren, ein solches Setting (also einem Kreis von Menschen, die nicht lesen können, wird Literatur vorgelesen) auch in den Quellen nachzuweisen. Die Arbeitshypothese, die mit weniger Vorannahmen auskommt, ist dagegen zunächst diejenige, dass man davon auszugehen hat, dass literarische Texte zunächst an RezipientenRezipient gerichtet waren, die lesen konnten. D. h. ganz unabhängig von der exakten zahlenmäßigen Quantifizierung von potentiellen Leserinnen und Lesern in der Antike, ist die Forschung nicht davon dispensiert, die LesepraktikenLese-praxis der lesekundigen Menschen in der Antike insgesamt und frühem ChristentumChristentum im Speziellen näher zu untersuchen. Und selbst wenn man die pessimistischen Schätzungen der LiteralitätsrateLiteralität/Illiteralität in antiken Gesellschaften zugrunde legte, handelte es sich bei niedrigen zweistelligen Prozentzahlen in absoluten Zahlen ja immer noch um eine beträchtliche Menge von Menschen, die lesen und Literatur rezipieren konnten.45 Die behauptete Interdependenz des Vorlesens in Gruppen und der geringen Literalitätsrate in der Antike führt in Bezug auf vorliegende Studie zu der Frage, inwieweit sich nachweisen lässt, dass nicht-literalisierte Personen in der Antike überhaupt als AdressatenAdressat in den Blick genommen worden sind oder umgekehrt eindeutig literalisierte Rezipienten als intendierte Adressaten plausibel zu machen sind.

      1.3.4 Die Frage nach der Alterität antiker und zeitgenössischer Lesekultur

      DieLese-kultur genannten Punkte gehen sodann in hermeneutischer Hinsicht mit der emphatischen Aufforderung einher, dass die grundsätzlichen Unterschiede zwischen der modernen und der antiken LesepraxisLese-praxis in Rechnung zu stellen seien. Damit eng verbunden sind die Vorwürfe gegenüber der Minderheitenposition, sie würden die moderne Art zu Lesen in die Verhältnisse der Antike projizieren bzw. sie nutzten Erkenntnisse und Modelle des Lesens, die an eben der modernen Lesepraxis gewonnen seien und ihre Passfähigkeit für die antike Situation nicht nachgewiesen worden bzw. fraglich seien.1 Es ist natürlich nicht zu bestreiten, dass die Suche nach Alteritäten eine zentrale Aufgabe der altertumswissenschaftlichen Forschung ist. Das bloße Postulat von Alterität darf jedoch nicht zum Beleg für eine bestimmte Sicht der antiken Gegebenheiten werden. So ist zunächst vor allem in analytischer Hinsicht auch mit der Möglichkeit zu rechnen, dass durchaus auch Parallelen bzw. Kontinuitäten zwischen der Lesepraxis in der Moderne und in der Antike festzustellen sein könnten, seien sie anthropologisch oder auch kulturell bedingt.

      1.3.5 Die Frage nach der „Oralität“ antiker Gesellschaften

      Verknüpft ist dieses Alteritätspostulat sodann in produktionsorientierter Perspektive sehr häufig mit der Betonung der großen Bedeutung von „OralitätMündlichkeit“ für die antike Textkultur und insbesondere mit der Emphase, dass PublikationPublikation/Veröffentlichung in der Antike in erster Linie bedeute, dass ein Text erstmals „laut“Lautstärkelaut vorgelesen und damit in den Umlauf gebracht worden sei (entweder über AbschriftAbschrift des Vortrages oder über das ManuskriptHandschrift/Manuskript, das der AutorAutor/Verfasser aus seinen Händen gibt).1 Es ist erstaunlich, dass vor allem letzteres Postulat zumeist mit nur sehr selektivenUmfangselektiv Belegen aus den Quellen untersetzt wird und die Forschungen zum antiken BuchmarktBuch-handel gänzlich ignoriert bzw. die Evidenzen in den Quellen marginalisiert2 werden.

      Die genannten Einzelaspekte haben dazu geführt, dass „ein Netz einander stützender und ergänzender Informationen geknüpft [worden ist], das [nicht nur] die Vorstellung vom lautenLautstärkelaut Lesen als vermeintlich sicheres Wissen von den Zuständen in der Antike verbuchen läßt“3, sondern auch bezüglich der anderen Punkte dieses Netzes:

       die antike Schrift als Abbild des Gesprochenen;

       die Schwierigkeiten der visuellenvisuell Dekodierung von scriptio continuaSchriftscriptio continua;

       ein relativ geringer Grad an LiteralitätLiteralität/Illiteralität; die grundsätzliche Alterität der antiken LesepraxisLese-praxis; die große Bedeutung von OralitätMündlichkeit für die Produktion und PublikationPublikation/Veröffentlichung von antiken Texten;

       und in Bezug auf die neutestamentlichen Texte: die mündliche Tradierung, welche den „mündlichen“ Charakter der Texte geprägt habe.

      Das in diesem Netz erkennbare Grundnarrativ ist variantenreich auch in den Forschungsdiskurs über die Produktion und Rezeption von Literatur im frühen ChristentumChristentum eingeflossen und fungiert in Form von scheinbar gesichertem und nicht mehr zu hinterfragendem Wissen für eine Vielzahl von Forschungsfragen als hermeneutischer Rahmen. Exemplarisch war dieses Grundnarrativ in den Publikationen der Vertreterinnen und Vertreter des sog. Biblical Performance CriticismBiblical Performance Criticism zu sehenSehen (s. o. 1.1.2). An dieser Stelle sei auf Stimmen in der klassisch-philologischen Forschung verwiesen, welche die Betonung der Bedeutung von OralitätMündlichkeit für die antike Literatur bzw. die generalisierende These einer oral culture und die These mündlicher Tradierung von Literatur in der klassisch-philologischen Forschung mit guten Argumenten in Frage gestellt haben und eine klarere Differenzierung verschiedener Phänomene fordern, die gängiger Weise unter dem Label „oral“ subsumiert werden.4 Da das antike Konzept von PublikationPublikation/Veröffentlichung für die vorliegende Studie von einiger Relevanz ist, wird das antike Publikationswesen und seine Relation zum mündlichen Vortrag und zur Frage nach dem LesepublikumLese-publikum unter 5 zu besprechen sein.

      1.3.6 Engführung der Forschung auf die Fragen nach einem vermeintlichen „Normalmodus“ des Lesens in der Antike und auf reading communities

      Blickt man nun noch einmal zurück auf die lang und umfassend diskutierte Frage nach dem „lautenLautstärkelaut“ und „leisenLautstärkeleise“ Lesen, das die Debatte im 20. Jh. um das Lesen in der Antike maßgeblich geprägt und dadurch eine sehr eigenwillige Dynamik des Forschungsdiskurses befördert hat, so ergibt sich aus den bisherigen Ausführungen, dass man eigentlich eine viel zu eng geführte Frage nach einem vermeintlichen „Normalmodus“ diskutiert hat. Deshalb bekommt man nach über 100 Jahren den Eindruck, dass sich die Diskutanten im Kreis gedreht haben. Die einseitige Fokussierung auf diese eine Unterscheidung hat dazu geführt, dass man viele andere Facetten der komplexen Kulturtechnik des Lesens weitgehend unberücksichtigt gelassen oder nur am Rande erforscht hat. Insbesondere die lexikologische Konzentration auf einige Hauptbegriffe des Lesens,1 die noch dazu nur im Hinblick auf die zu eng geführte Forschungsfrage ausgewertet wurden, und das Fehlen einer systematischen Erfassung antiker Leseterminologie wiegt schwer. Dies wiederum hat gewichtige Implikationen für die weiterführenden Oralitätshypothesen, die maßgeblich auch auf der vermeintlich eindeutigen Antwort des Normalmodus der „lauten“

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