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Schneiderin hatte eben nach der Türklinke greifen wollen und prallte nun erschrocken zurück. Traudl, die irgendwann in den Siebzigern stehen geblieben war und seitdem weder Make-up noch Kleidungsstil geändert hatte. Traudl, die sich die platinblondierten Haare wie ein riesiges Storchennest auftoupierte, wohl damit sie ein Gegengewicht zu ihrer überaus üppigen Oberweite bildeten. Traudl, diese alternde wandelnde Beleidigung für sein Auge, immer schon so provinziell wie ihr bäuerlicher Name: Traudl Sonnenbichl, geborene Kropfhamer. Wie er sie hasste.

      Und wie sie ihn hasste. Kaum dass sich Traudl Sonnenbichl von dem kurzen Schreck erholt hatte, blitzen ihre Augen unter den übertrieben hellblau geschminkten Lidern vernichtend. Sie verzog abschätzig den Mund und sagte: »Jetzt hast du dir dein eigenes Grab geschaufelt, Sepp. Verlass dich drauf. Ich werde dafür sorgen, dass jeder erfährt, dass du dich in der Damentoilette …«

      »Halt dein Maul, Traudl, halt einfach dein dummes Schandmaul.« Er hob die Hand, wie wenn er sie ins Gesicht schlagen wollte, gab ihr aber nur einen schwachen, ungehobelten Schubs und stieg mit wackeligen Beinen die Treppen hinauf, die an diesem Ende des Ganges zu den obersten Stockwerken des Theaters führten.

      »Halt! Deinen Müll solltest du dir schon mitnehmen.« Traudl holte ihn auf der zweiten Stufe ein und drückte ihm seine Thermoskanne in die Hand, die er neben dem Waschbecken hatte stehen lassen.

      Er grunzte etwas und ging mühsam weiter die Treppen hinauf. Oben musste er zunächst wieder die Toilette aufsuchen und sich übergeben. Dann betrat er die Herrenschneiderei und versuchte, den Blicken der Schneider auszuweichen. Er rang um Haltung, ging zu seinem Arbeitstisch und sah seinen Kollegen, den er für sich immer noch den Neuen nannte, obwohl der schon seit mehr als zwei Jahren hier arbeitete, verbissen lächelnd an.

      »Du, Basti, ich muss zum Arzt. Mir gehts nicht gut.«

      »Hmmm«, brummte der Angesprochene, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Er zeichnete mit geübten Bewegungen einen Halbkreis auf den riesigen Bogen braunen Papiers, das auf seinem Arbeitstisch lag. »Du hast heute noch eine Anprobe mit Levent Demir für ›Kanakenbraut‹.«

      »Weiß ich, Basti, weiß ich. Grad drum … tut mir auch wirklich leid. Aber mir geht’s gar nicht gut.« Er beugte sich vor, um den Blick von Sebastian Oßwald zu erhaschen. Doch der konzentrierte sich demonstrativ auf das Schnittmuster für ein Sakko, das er zeichnete, dabei pulsierte eine Ader an der Schläfe und seine Wangenmuskeln mahlten.

      »Schon gut, Sepp. Ist dir wieder so wahnsinnig schlecht? Wieder alles bitter?« Sebastian sprach so beherrscht, als wäre es nicht gang und gäbe, dass sein Kollege ihn in der heißen Phase, wenn die Endproben und die fertigen Kostüme anstanden, im Stich ließ und eine Krankheit vorschob. Sebastian Oßwald konnte die Stunden zählen, in denen sein Kollege bei der Arbeit war, nicht umgekehrt. »Geh nur, Sepp. Ich mach die Anprobe mit Levent Demir. Soll ich morgen gleich noch die Anprobe mit Werner Androsch einplanen? Ich habe ja sonst nichts zu tun.«

      Der letzte Satz peitschte durch die Luft wie ein Goaßlschnoizer. Die Schneider im Nebenraum, die durch die offene Doppelflügeltür jedes Wort mitbekamen, tauschten verstohlene Blicke, senkten die Köpfe über ihrer Arbeit und vermieden jedes Geräusch, um nichts zu verpassen. Keine Nähmaschine surrte, keine Bügelmaschine zischte, alle hatten plötzlich dringende Handarbeit zu erledigen.

      »Tut mir ja leid, Basti, wirklich.« Sepp lächelte verkrampft. »Ich … morgen bin ich wieder auf dem Damm. Verlass dich drauf, gell, Basti.«

      »Geh jetzt besser, Sepp. Morgen ist ein neuer Tag.« Sebastian Oßwald, der es hasste, wenn man ihn Basti nannte, zweiter Gewandmeister am Staatsschauspiel München, bebte vor Wut, biss sich auf die Lippen und freute sich auf den kommenden Tag, der einiges an Veränderung bringen würde. Dafür hatte er gesorgt. Er packte die Thermosflasche, die Sepp einfach auf seinem Arbeitstisch abgestellt hatte, und trug sie hinüber auf seines Kollegen Tisch. Dann widmete er sich wieder seiner Arbeit und sah nicht auf, als Joseph Bloch, genannt Sepp, erster Gewandmeister am Staatsschauspiel München, das letzte Mal in seinem Leben die Herrenkostümwerkstatt verließ.

      Sepp Bloch taumelte. Er kannte sich selbst nicht wieder. Sicher, sein Kollege hielt ihn für einen Hypochonder, doch was wusste der junge Hupfer schon von den Gebrechen des Älterwerdens! Diese Krämpfe. Womöglich sein zweiter Herzinfarkt? Ein Schlaganfall? Magendurchbruch? Er musste sich so sehr auf das Gehen konzentrieren, dass er niemanden wahrnahm, der ihm entgegenkam. Nicht Traudl, die die Toilette verließ und ihm einen bösen Blick hinterherschickte. Nicht Nives Marell, die nach Beendigung der Proben auf dem Weg zur ersten Anprobe für ihr Kostüm war und ihm »Hat dieses Leben nicht endlich genug von dir?« zuraunte. Nicht Werner Androsch, der mit seinem Kollegen Levent Demir vor dem Aufzug wartete und sich dann für die Treppen entschied, weil er mit Sepp Bloch nicht Lift fahren wollte. »Der Lift ist zu klein für uns beide«, sagte er schnippisch, als er Levent Demir und Sepp Bloch alleine die Kabine betreten ließ und sich abwandte.

      »Was hat der denn?«, fragte Levent Demir.

      Nun erst nahm Sepp den jungen Mann wahr. Er konnte kaum die Lider heben. Statt zu antworten, machte er eine fahrige Handbewegung.

      »Ihnen geht es aber auch nicht gut, Sepp. Sie sollten zum Arzt gehen.«

      »Schon gut«, sagte Sepp müde. »Bin auf dem Weg.«

      »Brauchen Sie Hilfe? Sie sehen sehr mitgenommen aus.«

      »Schon in Ordnung. Passt schon!«

      »Dann macht der Sebastian später die Anprobe mit mir?«

      Sepp Bloch nickte und schwankte nach draußen, als sich die Aufzugstür im Erdgeschoss endlich öffnete. Ihm entging, wie Levent Demir erleichtert ausatmete und gleichzeitig missbilligend den Kopf schüttelte.

      Ein Bier – nein, erst einen Magenbitter, dann wird alles besser, dachte er, als er am Pförtner vorbeitaumelte, die wenigen Stufen zum Hof beinahe hinunterstürzte und über den düsteren Innenhof in Richtung Färberei steuerte. Meinen Jägermeister! Erst einen Jägermeister, dann geh ich zum Arzt.

      04

      Pfeffer blinzelte in die Herbstsonne, die tief über dem Wald hinter der Talsenke am Himmel stand. Ihr Licht goss sich golden über die bunt belaubten Bäume, die saftigen Wiesen in der Ferne und über das Wasser des kleinen Bachs, der träge hinter den hohen Pappeln floss, und es spiegelte sich kupfern in den Fenster des kleinen roten Baggers, der neben dem Erdhaufen parkte. Der Baggerarm mit der zinnfarbenen Schaufel schwebte wie ein krummer Zeigefinger gute zwei Meter über dem Erdboden. Vor dem Bagger standen zwei Arbeiter in schmutzigen Blaumännern und rauchten. Neugier lag in ihren Blicken, kein Anzeichen dafür, dass sie ihr Fund erschreckt oder auch nur irritiert hätte. Kommissarin Annabella Scholz befragte sie und machte sich dabei Notizen. Seit sie sich die langen Locken abgeschnitten hatte und eine Kurzhaarfrisur trug, seit sie sich ein wenig schminkte und vorteilhafter kleidete – kurz, seit sie glücklich verliebt war, fand Pfeffer seine Kollegin erheblich selbstbewusster. Statt der ruppigen Burschikosität, hinter der sie früher ihre Unsicherheit versteckt hatte, legte Annabella Scholz nun immer häufiger gelassene Souveränität an den Tag. Ab und zu verzog sie abschätzig den Mund und warf genervte Blicke zu Pfeffer hinüber.

      Max Pfeffer blickte den Graben entlang, den die Arbeiter ausgehoben hatten. Eine kerzengerade Linie, die sich über die Nachbargrundstücke zog, mitten durch sorgsam angelegte, großzügige Gärten führte, Hecken, Mäuerchen und Zäune durchtrennte und abrupt in einem abgeernteten Gemüsebeet inmitten der Wiese endete, auf der er, seine Kollegin sowie ein Team von der Spurensicherung standen.

      Das Beet und die Wiese gehörten zu einem herrlichen alten Bauernhof, der einige Hundert Meter weiter zur Ortsmitte hin stand. Der Hof grenzte unmittelbar an den großen Friedhof, der die Kirche des Heiligen Zachäus umgab. Das Gebäude mochte mehrere Hundert Jahre alt sein, so wie fast alle anderen Höfe im Ortskern von Zacherlkirchen. Alles aufwendig saniert und restauriert, alles unter Denkmalschutz. Schließlich war das südwestlich von München gelegene Dorf nicht nur ein regional einigermaßen bekannter Wallfahrtsort, sondern ein bayrisches Postkartenidyll. Detailgenau bis zu den Geranienkaskaden, die sich über die Balkone der alten Höfe ergossen. Natürlich wohnten längst keine Bauern mehr im alten Ortsteil.

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