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bewerkstelligt werden, die Menschen anzupassen oder gar abzurichten, doch büßen diese dabei auch ihre Fähigkeiten zu Kritik, Widerstand und menschlicher Solidarität ein. »Erziehung nach Auschwitz« (Adorno 1970), wie ein deutscher Philosoph die pädagogische Nachkriegsaufgabe überschreibt, müsse anderen Werten verpflichtet sein als den überlieferten deutschen Tugenden.

      Zunächst kommen dabei Werte wie Toleranz, Minderheitenschutz oder mündige Staatsbürgerschaft in den Blick. Elternhaus und Schule wollen Kinder nicht bloß anpassen, sondern auch stärken, ihre Kritikfähigkeit und Widerstandskraft fördern – auch damit sich der Rückfall in die Barbarei niemals mehr wiederholen kann. Die Skepsis gegenüber den Folgen einer autoritären Anpassung des Nachwuchses nimmt dabei auch extreme Formen an, wie u. a. in der antiautoritären Erziehung der 1960er- und 1970er-Jahre, die sämtliche erzieherische Absichten unter Generalverdacht stellt: »Wer Kinder erziehen will, will Kinder zerstören« – so schreibt einer der Wortführer der damaligen Zeit (von Braunmühl 2006).

      Zurück bleiben verunsicherte Erziehungs- und Lehrkräfte, denen die alten Tugenden noch selbst in den Ohren klingen, die aber auch nicht einfach auf Erziehung verzichten wollen. Einige greifen zu Erziehungsratgebern, andere lassen sich beraten. Die große Masse jedoch erzieht die eigenen Kinder mehr oder weniger so, wie sie selbst von ihren Eltern erzogen wurden. Sie tragen so ungewollt dazu bei, dass alte traditionelle Erziehungsformen von Generation zu Generation vererbt werden und sich nur allmählich in Richtung Wirksamkeit sowie Demokratie und Humanität wandeln.

      Um aus diesem endlosen Vererbungszyklus wirklich auszusteigen, ist es notwendig, dass Eltern und Lehrkräfte sich mit folgenden Erziehungsirrtümern auseinandersetzen:

      •Irrtum 1: Anpassung, Ordnung und Gehorsam müssen und können erzwungen werden!

      Sicherlich: Man kann kurzfristig für »Ruhe im Karton« sorgen. Dass diese aber dazu führt, dass junge Menschen ihre Selbstdisziplin entwickeln und zur Selbstständigkeit reifen können, ist nicht zu erwarten. In einer zunehmend komplexen Welt jedoch, die auf die Selbstorganisationsfähigkeit der Arbeitnehmerinnen und Staatsbürger setzt, entlässt die Anpassungspädagogik die Nachwachsenden unvorbereitet.

      •Irrtum 2: Erziehung muss ihre Werte bestimmt und selbstbewusst sowie erlebbar zum Ausdruck bringen und diese einfordern!

      Das Einzige, was an dieser Aussage stimmt, ist, dass Kinder und Jugendliche Werte erleben müssen, um ihnen zu folgen. Diese müssen ihnen aber nicht mit Entschiedenheit nahegebracht, sondern überzeugend vorgelebt werden. Grundlegend ist die Frage, ob Eltern, Erzieher und Lehrerinnen selbst über Werte verfügen, denen sie ihr Leben widmen. Oder nur diffus und nicht selten verärgert auf Störungen reagieren. Dabei wird jedoch eine wichtige Substanz der gelungenen Erziehung verschüttet: das wirkliche Interesse am Gegenüber und seiner tastenden Suche nach eigenen Formen des Verhaltens.

      •Irrtum 3: Erzieherische Gedankenlosigkeit oder ungerechtfertigte Dominanz sind ohne Risiken und Nebenwirkungen zu haben!

      Da wir insbesondere in erzieherischen Stresslagen meist so reagieren, wie wir es selbst während unserer Erziehung erlebt haben, kann sich der Schlendrian des Erzieherischen fortsetzen. Die Risiken und Nebenwirkungen einer solchen Gedankenlosigkeit sind jedoch verheerend. So wachsen schätzungsweise über 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen ohne ein berechenbares Gegenüber heran und lernen, dass Spontaneität, Kreativität und eigene Suche unwillkommen sind. Nicht selten verlieren diese Menschen den Kontakt zu sich selbst bereits in frühen Jahren.

      Was tun?

      Susanne, eine 38-jährige alleinerziehende Mutter, berichtete in einem Seminar:

       »Immer wieder komme ich in eine Situation, in der ich gegenüber meinen Kindern ausflippe. Meistens geschieht dies, wenn ich nach der Arbeit in ein völlig durchwühltes Zuhause komme. Dann möchte ich am liebsten die Werte Ordnung, Sauberkeit und Disziplin in sie hineinbrüllen. Oft fließen dann auch Tränen, und erst wenn sich alles wieder beruhigt hat, zeigt mir dann David, mein Kleinster, stolz, was er alles an diesem Tag gebastelt hat – fast wäre es nicht dazu gekommen, bei dem ganzen Krach. Das habe ich jetzt ändern können. Eine gute Freundin sagte mir. ›Was erwartest du eigentlich? Kinder bedeuten Unordnung. Du musst deine Single-Werte unbedingt aufgeben, denn Kinder bedeuten auch Kreativität, Ideenreichtum und Beziehungsangebote ohne Ende. Wenn ich abends heimkomme, freue ich mich auf die Vielfalt, und ich kann dabei wunderbar entspannen. Wenn ich allmählich beginne, das eine oder andere beiseite zu räumen, habe ich schon oft erlebt, dass sie mir dabei helfen, während sie weiterplappern.‹ Ihren Rat ›pass auf, dass du nicht in deiner Single-Welt vertrocknest, während doch um dich herum das Leben tobt‹ habe ich mir sehr zu Herzen genommen.«

      Dieser Fall illustriert, worum es in der Erziehung im Kern geht:

      Heranwachsende Menschen erleben im Kontakt mit ihren engen Bezugspersonen, worauf es ankommt.

      Steht die Einhaltung von bloßen Prinzipien (»Die Wohnung ist aufgeräumt, wenn ich heimkomme!«) im Vordergrund? Oder geht es um Austausch, Beziehungserleben und Miteinandersein? Eltern, die schon beim Nachhausekommen auf eine Konfrontation eingestellt sind und bestätigt finden, was sie befürchteten, riskieren damit die enge Beziehung zu ihren Kindern.

      Die wesentliche Lektion einer wertestiftenden Erziehung lautet:

      Handeln Sie stets so, dass Sie Ihrem Kind zeigen, welche Werte Ihnen wichtig sind und, geben Sie ihm Raum, seine eigenen Werte zu entdecken.

      Konkret heißt dies auch: »Unsere Erwartungen an das Verhalten unserer Kinder und Jugendlichen dürfen wir nicht herausbrüllen, sondern müssen sie ›herausleben‹!« Werte können nämlich nicht einfach so von anderen übernommen werden, sondern müssen selbst verinnerlicht werden. Wenn wir diesen Grundsatz berücksichtigen, haben wir alle Hände voll zu tun. Immer wieder unterläuft uns nämlich der Fehler, dass wir auf Wertvorstellungen beharren, diese deklarieren oder gar beschwören. Wir bemerken oft nicht, dass wir dabei genau gegen die Werte verstoßen, die uns doch angeblich so heilig sind.

      »Ja genau«, bemerkte ein weiterer Teilnehmer des erwähnten Seminars. »Mir passiert dies ständig. Letztens ertappte ich mich dabei, wie ich gestresst zu meinem Sohn sagte: ›Ist mir völlig egal, ob du dies verstehst, es wird so gemacht, wie ich das will!‹ Darauf schaute mich mein 16-jähriger Sohnemann an und sagte: ›Das ist undemokratisch. Wie soll man in dieser Diktatur zum Demokraten reifen?‹ Ich weiß auch nicht, wo der das her hat.«

      Der »Sohnemann« hat Recht – sein Recht. Damit Wertbindungen entstehen können, müssen die Werte, um die es uns oder der Gesellschaft geht, spürbar erlebt werden können. Ob Erziehungssituationen selbst bereits demokratisch sein können, ist gleichwohl eine andere Frage, schließlich kennt auch die Demokratie Bürgerpflichten, über die nicht immer wieder neu verhandelt wird! Demokratie wird jedoch nur erlebt, wenn Fragen zugelassen und Begründungen abgegeben werden. Wer nur mit scharfer Autorität konfrontiert aufwächst, hat wenig Gelegenheit, den demokratischen Dialog zu erleben, zu üben und zu erlernen.

      Ähnliches gilt auch für die Formen der gewaltfreien Kommunikation. Auch hier lässt sich beobachten, dass die Gewaltbereitschaft von Kindern und Jugendlichen meist auf eigenem Erleben – in der eigenen Familie, bei Freundinnen bzw. Freunden oder in den Medien – basiert. Erleben Kinder und Jugendliche demgegenüber einen respekt- und würdevollen Umgang mit Andersdenkenden, sind sie auch eher in der Lage, sich selbst in entsprechendem Verhalten zu üben. Müssen sie sich respektlose Kommentare über andere anhören, greifen sie auch selbst zu ähnlichen Äußerungen oder beteiligen sich an ausgrenzendem Verhalten. Erleben Kinder und Jugendliche hingegen Eltern oder andere Erwachsene, die sich offen gegen die Ausgrenzung von Andersdenkenden wenden, dann ist die Chance größer, dass sie auch selbst zu einem solchen Verhalten greifen. Diese Hinweise führen uns zu einer weiteren Lektion einer wirksamen Erziehungspraxis:

      Man kann den Einsatz für demokratische Werte nicht einfordern, man kann aber selbst zu einem Vorbild für gelebte Mitmenschlichkeit, Solidarität und Humanität werden.

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