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Cusanus seine Spätschrift De non aliud, »Vom Nicht-Anderen«, die von Kurt Flasch (1998, 565) als Höhepunkt und Quintessenz seines Denkens betrachtet wird, das von Begriffen wie der docta ignorantia, dem »Belehrten Nichtwissen«, oder der coincidentia oppositorum, dem »Zusammenfall der Gegensätze«, geprägt ist. In seinem Verständnis des Nicht-Anderen ist Nikolaus wohl auch stark von Meister Eckhart beeinflusst, auf den er sich namentlich allerdings fast nie bezieht, da dessen Lehre als häretisch verurteilt worden war. Non aliud, das oder der Nicht-Andere, fasst in einem Wort zusammen, was sich durch Ununterschiedenheit unterscheiden meint. Es verdichtet jene paradoxe, das unterscheidende Denken übersteigende Einsicht in die Transzendenz. Gott ist grundsätzlich anders als die Welt, weil er der Nicht-Andere ist. Denn das Anders-Sein, das Unterschiedensein, ist das fundamentale Kennzeichen der Welt. Gleichzeitig kann er, weil er der Nicht-Andere ist, auch nichts anderes, also unterschieden sein. Diese für das gewöhnlich logische Denken unverdauliche paradoxe Spannung, die auch in der hinduistischen A-dvaita (»Ohne-zweites«)-Lehre zu finden ist, ergibt sich bei einem mystischen Gottesverständnis. Der Gegensatz von Identität/Indifferenz und Differenz wird transzendiert in einer übergeordneten Identität, die Friedlaender schöpferische Indifferenz nennt.

      Den Ausdruck des Nicht-Anderen kann man mit einem zentralen theologischen Motiv des protestantischen Theologen Karl Barth (1886–1968) aus der Anfangszeit seiner sogenannten Dialektischen Theologie kombinieren. Für Barth war Gott der »Ganz-Andere«. Er wollte damit die radikale Transzendenz Gottes betonen und bezog sich dabei auf den »unendlichen qualitativen Unterschied von Zeit und Ewigkeit« bei Sören Kierkegaard. Kombiniert ergibt das:

      »Gott ist der Ganz-Andere, weil er der Nicht-Andere ist« (Frambach 1994, 312)

      »Die Transzendenz, die Ganz-Andersheit Gottes, fällt zusammen mit seiner Nicht-Andersheit, seiner Immanenz. Das Absolute unterscheidet sich vom Relativen durch Nichtunterschiedenheit. Die Transzendenz der Wirklichkeit Gottes besteht gerade in ihrer radikalen Immanenz.« (ebd.)

      »Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.« Dieser vielzitierte Satz von Dietrich Bonhoeffer aus Widerstand und Ergebung, seinen Aufzeichnungen aus dem NS-Gefängnis, bringt mit einfachen Worten zum Ausdruck, dass Gott nicht unter den unterscheidbaren Phänomenen der differenzierten Welt zu finden ist. Aber er ist nur die halbe Wahrheit. Polar symmetrisch ergänzt lautet die andere Hälfte: »Einen Gott, den es nicht gibt, gibt es.«

      Die Frage nach der Existenz Gottes kann man nicht mit Ja oder Nein beantworten. Sie übersteigt diese sich ausschließende Alternative. Wenn Hans Küng, dessen »Projekt Weltethos« ich sehr schätze, auf die Titelfrage seines umfang- und kenntnisreichen Buches »Existiert Gott?« (1978) abschließend mit einem klaren, überzeugten Ja antwortet, so kann ich dem nicht zustimmen. »Tertium datur«, es gibt dieses ausgeschlossene Dritte, die ausgeschlossene Mitte, worin die einfache Alternative von Ja und Nein überstiegen wird. Wobei »geben« wie »existieren« keine adäquaten Ausdrücke sind. »Die Dinge haben bloß Existenz, aber ihr persönliches Nichts hat Insistenz, es ist ihr Schöpfer und Quell« (GS 10, 129), schreibt Friedlaender.

      Um auf die lebendige Mitte des Nichts der schöpferischen Indifferenz in der differenzierten Mannigfaltigkeit hinzuweisen, verwendet Friedlaender eine Vielzahl von Bezeichnungen: Ich, später oft Ich-Heliozentrum, Selbst, Wesen, Subjekt, Individuum, Identität, Person, Geist, Seele, das Absolute, ∞, Insistenz, Wille, Freiheit … Er legt sich nicht auf bestimmte definitive Wortetikettierungen fest, sondern versucht das letztlich Unbeschreibliche in kreativ vielperspektivischer Variation hinweisend zu umschreiben. Alle seine Aussagen, insbesondere (aber nicht nur) bezüglich der Indifferenz, sind »so gemeint, wie man überhaupt ehrlicher Weise etwas meinen kann: beweglich! Lebendig. Man soll sich an ihren Buchstaben nicht kehren, man soll, wo möglich, mit einem besseren ihre Bedeutung verdeutlichen« (F 1905, 203 f.).

      3.2 Transdifferenz

      Ich möchte hier einen für diesen Zusammenhang neuen Begriff einführen: Transdifferenz. Zur Klärung von Missverständnissen scheint er mir hilfreich zu sein. Transdifferenz meint dasselbe wie schöpferische Indifferenz, schließt aber ein Missverständnis aus. Indifferent, ohne Unterschied, kann einfach mit identisch gleichgesetzt werden. Indifferenz ist dann einfach Identität. Das jedoch meint Friedlaender mit seiner schöpferischen Indifferenz gerade nicht. Der Tag kann im Gegensatz zur Nacht verstanden werden oder als das Ganze von 24 Stunden, das Tag und Nacht umfasst. Im zweiten Sinne ist die schöpferische Indifferenz zu verstehen und nicht im Sinn der indifferenten Identität im Gegensatz zum Differenten. Friedlaender geht es darum, dass in der schöpferischen Indifferenz das fundamentale, allerallgemeinste Merkmal aller Phänomene nicht ausgelöscht und eliminiert wird, sondern transzendiert und überstiegen: die Differenz, der Unterschied. Das drückt Transdifferenz aus. Transdifferenz bedeutet eben jenes Paradoxe, den unterscheidenden Intellekt Übersteigende, »sich durch Ununterschiedenheit unterscheiden«. Die wörtlich-logisch deutsche Entsprechung wäre Überunterschiedlichkeit. Das klingt reichlich holperig, trifft aber den Punkt. Das »Überunter« lässt an den »Fernnahen«, das »überhelle Dunkel«, das »stille Geschrei« denken, paradoxe Wortverbindungen, die in der Mystik die Transzendenz Gottes zum Ausdruck bringen, indem sie durch das Verschweißen von polar gegensätzlichen Aspekten auf das hinweisen, was die Gegensätze übersteigt oder ihnen zu Grunde liegt und sich dem sprachlichen Begriff entzieht. Die Sprache »zerspricht das polar Selbe«, bringt Friedlaender (GS 10, 189) es auf den Punkt.

      Der Grund ist in meinem Verständnis transdifferent, er unterscheidet sich durch Ununterschiedenheit. Schöpferische Indifferenz, Transdifferenz und Grund werden von mir synonym gebraucht.

      Wissenschaftlich wird der Begriff Transdifferenz seit 2001 im Kontext kulturtheoretischer Konzepte verwendet (Allolio-Näcke / Kalscheuer / Manzeschke 2005). Ob sich mit dem hier vertretenen Verständnis von Transdifferenz Berührungspunkte oder Schnittmengen ergeben, müsste untersucht werden.

      3.3 Zauberwort Mitte

      Warum ist Mitte ein Zauberwort? Das möchte ich möchte mit Überlegungen erklären, die von Friedlaender inspiriert sind.

      3.3.1 Die Mitte von Linie, Fläche und Raum

      Ein Kreis auf einer Fläche mit einem Mittelpunkt. Dieser Mittelpunkt markiert die Mitte, genauer, er weist auf sie hin. Denn wenn wir ihn näher ansehen, mit einer Lupe oder gar mit einem Mikroskop, dann stellt sich der Mittelpunkt immer wieder als eine Fläche dar, die wiederum selbst eine Mitte hat. Kurz, ganz genau betrachtet und streng genommen ist die Mitte ein Nicht-Ort, griechisch »ou topos«, eine Utopie. Mitte auf der Linie, auf der Fläche, im Raum ist kein Phänomen, sondern eine Verhältnisbestimmung zwischen mindestens zwei Extremen, die dadurch in ein ausbalanciert polar gleiches Verhältnis kommen und distanzlos, flächenlos, raumlos durch nichts getrennt aneinandergrenzen.

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      3.3.2 Die Mitte der Zeit

      Gehen wir von der Mitte auf der Fläche oder im Raum zur Mitte der Zeit.7 Das ist (nicht nur) nach Friedlaenders Verständnis die Gegenwart, das Jetzt. Vergangenheit und Zukunft sind die Pole und das Jetzt ist die Mitte. Bei der Messung der Zeit werden sprachlich räumliche Begriffe verwendet, wie Zeitraum, Zeitabstand, Zeitspanne oder Zeitpunkt. Darum lässt sich das Verständnis der Mitte aus den Kategorien des Raumes auch anschaulich auf die Zeit übertragen. Doch lassen wir wieder Friedlaender zu Wort kommen. Er macht den Zusammenhang am deutschen Wort »einst« deutlich, das polar doppeldeutig ist: »Es war einst …« und »Es wird einst …« Ferne Vergangenheit und ferne Zukunft in einem Wort! »So erweist sich die Zeit als Magneten mit polarem Einst und der Indifferenz Jetzt; analog der Raum als Hüben & Drüben und Hier.« (F/K 1986, 229)

      Suchen wir nach der Mitte einer Zeitspanne, so kann man sich das vorstellen wie das Bestimmen der Mitte einer Linie. Wie die markierte Mitte einer Linie beim genauen Hinsehen immer noch eine Ausdehnung, sprich Länge, hat, für die man die Mitte suchen kann, so auch bei der Zeit. Das Jetzt als Zeitmittelpunkt ist immer weiter zu unterteilen in Nanosekunden (eine milliardstel

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