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künstliche Innenohrprothese (eine Art Cochlea-Implantat) die entsprechenden kortikalen Areale, die fürs Hören zuständig sind, im Vergleich zu nicht implantierten Katzen enorm anwachsen und viele synaptische Verbindungen ausbilden. Bei gehörlosen Erwachsenen wurde mittels computertomografischer Untersuchungen festgestellt, dass die Regionen des akustischen Kortex andere Funktionen übernommen hatten. Es gab in den letzten 20 Jahren zahlreiche Versuche, auch erwachsenen Gehörlosen mittels Cochleaimplantaten wieder eine Hörfähigkeit zur Lautspracheerkennung zu vermitteln. Diese Bemühungen sind allesamt gescheitert. Es wurde erkannt, dass es zeitliche Fenster und sensible Phasen für die Entwicklung bestimmter Funktionen gibt. Wenn in diesen Phasen z.B. kein hörrelevanter äußerer Input stattfindet, wird kein Hören entwickelt. Die nicht für das Hören benötigten Gehirnregionen werden für andere Zwecke verwendet. Das Gehirn Gehörloser ist, unabhängig von der ohnehin bei jedem Menschen bestehenden Unterschiedlichkeit, völlig anders aufgebaut und eingeteilt als das von Hörenden. Der bei Hörenden für die akustische Verarbeitung verwendete Kortex wird bei Gehörlosen für völlig andere Aufgaben verwendet. Bei einem Input nach diesen sensiblen Phasen ist keine ausreichende Entwicklung der entsprechenden Gehirnregionen mehr möglich. Es können bei einer späteren Cochlea-Implantation zwar noch einzelne Töne gehört werden, aber die Erkennung von gesprochener Sprache bleibt unmöglich. Wenn die Erkenntnisse aus der Sinnesentwicklung auf die sozialemotionale Entwicklung übertragen werden, kann angenommen werden, dass es auch hier zeitliche Fenster gibt, in welchen bestimmte Funktionen ihren Entwicklungsprozess vollziehen müssen, um wirklich gut zu funktionieren. Dies scheinen auch die Ergebnisse langfristiger Entwicklungsverlaufsstudien zu bestätigen, bzw. die gravierenden Auswirkungen des Fehlens ausreichender sozial-emotionaler Entwicklungsbedingungen. Auch bei Kindern, die unter sozial-emotional deprivierten Bedingungen aufwachsen, kommt es trotzdem nie zu einem völligen Ausbleiben sozial-emotionaler Außenwirkungen, also sozialer Umweltreize. Dadurch ist vermutlich (und für uns Therapeuten hoffentlich) die Entwicklung des Gehirns nicht so absolut und unwiderruflich andersartig wie beim Fehlen von Höreindrücken bei völliger Taubheit. Die Bindungsforschung zeigt, dass stabile Repräsentationen negativer Außenbedingungen, nämlich unzureichende Bindungserfahrungen und Bindungsüberzeugungen, durch erneute längerfristige Erfahrungen, wie sie in beständigen Freundschaften, Partnerschaften oder therapeutischen Beziehungen gegeben sind, zumindest teilweise ›umgeschrieben‹ werden können. Umgekehrt können sich sichere Bindungen unter dem massiven Druck äußerst negativer Beziehungserfahrungen nachträglich wieder verschlechtern.

      Beziehung und Fürsorge statt Veränderung

      Doch machen die schlimmen Folgen fehlender Fürsorglichkeit deutlich, dass manche früh und extrem deprivierten Kinder möglicherweise nicht mehr ein vollständiges, sondern nur noch ein begrenzte Repertoire sozialer Kompetenzen nach innen und außen entwickeln können. Ihre neurologische Ausstattung, die Ausbildung und Vernetzung besonders präfrontaler Strukturen bleiben begrenzt. Philippson (2012) weist vor dem Hintergrund seiner jahrelangen Arbeit mit vernachlässigten Kindern darauf hin, dass solche Kinder vor allem eine fürsorgende Beziehung benötigen, um erstmals Beziehungsfähigkeit und Erfahrungen von Beziehung zum Therapeuten und zu anderen zu entwickeln. Solche Kinder erleben diese Beziehungserfahrungen auf der Grundlage ihrer deprivierten, andersartigen neurologischen Struktur zunächst als emotional falsch, unnatürlich und unnütz. Philippson (2012) weist darauf hin, dass die paradoxe Theorie der Veränderung bei solchen zutiefst beziehungsgestörten Kindern einer Modifikation bedarf, da die paradoxe Theorie der Veränderung von einer funktionierenden neurologischen Fähigkeit ausgeht, bei der auf der Grundlage einer flexiblen organismischen Selbstregulation neue Wahrnehmungen und Beziehungen zur Umwelt aufgenommen werden können, der Klient also in der Lage ist, sich anders zu verhalten. (vgl. ebd. 2012)

      Spiegelneurone

      Bereits Wolfgang Köhler postulierte einen physiologischen Mechanismus, der Wahrgenommenes gleichzeitig in eigene neuronale Muster übersetzt bzw. vermittelt. Durch die Entdeckung der Spiegelneurone konnte diese gestaltpsychologische Annahme bestätigt werden.

      Spiegelneurone sind Gehirnzellen, die bei beobachteten Tätigkeiten, Handlungen, Ereignissen, Mimiken, aktiv werden. Sie aktivieren gleichzeitig die entsprechenden eigenen motorischen Areale, sodass eine genaue körperliche Simulation des Gesehenen, Gehörten etc. im Körper abgespielt wird. Auf der Grundlage dieser Kopie des Zustandes des Anderen ist ein genaues Einfühlen möglich. Dies steht in Widerspruch zu einer bestimmten Akzentuierung der Gestalttherapie des späten Fritz Perls. Philippson (2012) führt aus, dass die besonders durch Fritz Perls betonte gestalttherapeutische Position, »ich kann nichts über dich wissen. Ich kann nur raten und projizieren. Nur du kannst über dich wissen«, ein Verbot von Interpretation darstellt, dass aber die neuropsychologische Forschung Belege bringt, dass wir mittels der Spiegelneurone doch einiges über den Anderen wissen können. Philippson weist des Weiteren darauf hin, dass es aufgrund der starken Bestimmung eines menschlichen Wesens durch das Feld, in dem er sich befindet, eigentlich erstaunlich ist, dass es überhaupt zu einem Erleben von Individualität kommt, wo ein Mensch sagen kann, »ich will dieses und nicht jenes« oder »ich glaube dieses und nicht jenes«. Dies sind nach Philippson Momente, in denen das Individuum definiert und bestimmt wird. Philippson zitiert Lewin mit »… das Selbst wird als Region innerhalb des ganzen Feldes erfahren.« Ernst Cassirer, ein wichtiger philosophischer Lehrer Lewins, meinte in diesem Zusammenhang, dass es eigentlich erstaunlich ist, dass wir überhaupt voneinander unterscheidbare Einzelheiten wahrnehmen können:

      »Was uns im Gebiet des Bewusstseins empirisch wahrhaft bekannt und gegeben ist, sind niemals Einzelbestandteile, die sich sodann zu verschiedenen beobachtbaren Wirkungen zusammensetzen, sondern es ist stets bereits eine vielfältig gegliederte und durch Relationen aller Art geordnete Mannigfaltigkeit, die sich lediglich Kraft der Abstraktion in einzelne Teilbestände sondern lässt. Die Frage kann hier niemals lauten, wie wir von den Teilen zum Ganzen, sondern wie wir von dem Ganzen zu den Teilen gelangen.« (Cassirer 1954, S. 445, zit. nach Philippson 2012).

      Ordnungsstrukturen und Emergenz

      Philippson (2012 S. 87) beschreibt (unter Rückgriff auf Kauff man 1995 und Prigogine & Stengers 1984 zit. nach Philippson 2012) das Auft auchen höherer Ordnungsgrade auf der Grundlage einfacherer Ordnungsstrukturen. Die höheren Ordnungsstrukturen gehorchen den Regeln der einfacheren Ordnungsstrukturen, lassen sich aber nicht auf diese reduzieren. Dies ist eine neuere Variante des aristotelischen Grundsatzes, »das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile6«, der auch von Wertheim und Ehrenfels7 für die Gestaltpsychologie prägnant verwendet wurde. In der aktuellen entwicklungspsychologischen Diskussion wird diese Thematik unter dem Begriff der selbstorganisierenden Systeme oder der Emergenz von Entwicklungsprozessen (Holodinsky 2006, zit. nach Philippson) behandelt8. Auf die Neurologie übertragen schreibt Philippson mit Verweis auf Goldstein, dass ein bereits auf einer einfachen neuronalen Ebene zu sehr geschädigtes Gehirn auch nicht mehr seine höheren Funktionen zur Verfügung hat. Umgekehrt lässt sich aber die höhere Funktion eines Gedankens nicht auf das Funktionieren einzelner Neurone reduzieren (vgl. ebd.). Insgesamt bestätigen die aktuellen neuropsychologischen Forschungsergebnisse die zentralen Grundannahmen der Gestalttherapie in entwicklungstheoretischer Hinsicht weitgehend.

      Neuropsychologische Entwicklungsprinzipien:

      Als Bestätigung der Gestalttherapie gelten diese neuropsychologischen Erkenntnisse:

      1. Der Mensch ist von Anbeginn an mit all seinen Sinnen auf andere Menschen bezogen.

      2. Besonders für die Wahrnehmung emotionaler Qualitäten im Ausdruck anderer Menschen ist von Anbeginn eine spezialisierte neurophysiologische Grundausstattung gegeben.

      3. Kontaktvollzüge verlaufen bereits bei Neugeborenen zyklisch – Aufmerksamkeitsprozesse und Wahrnehmungsverarbeitungsprozesse zeigen die Form der Kontaktkurve der Gestalttherapie.

      4. Das Gehirns des menschlichen Organismus entwickelt sich im Einklang mit dem Umfeld und bildet es ab, entwickelt es aber auch mit.

      5. Wenn ausreichende Strukturen differenziert und aufgebaut werden konnten,

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