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verbundenes Verhalten aufbaut, entsteht nach Wheeler das, was Winnicott als »falsches Selbst« bezeichnete. In der Gestalttherapie wird das Selbst als dynamisches Geschehen an der Kontaktgrenze verstanden, also dem Kontakt zwischen einem inneren und äußeren Feldanteil. Feldtheoretisch wird dabei der innere Person-Pol vom äußeren Feld-Pol überwältigt. Dadurch wird Scham zum Schlüssel-Affekt und macht deutlich, wann die zentralen Selbstprozesse bedroht sind und nicht genügend Unterstützung erhalten. In einem Feldmodell erhält Scham die Rolle, welche die Signal-Angst in Freuds individualistischem Modell innehatte. Wheeler spricht in seinem Feld-Modell von der Signal-Scham4.

      3. Gender und Identität stellen den dritten Entwicklungsbereich dar. Gender ist eines der stärksten Organisationsmuster, das in verschiedenen kulturellen Ausprägungen die jeweiligen Feldausrichtungen beeinflusst. Das sich entwickelnde Kind wird dadurch deutlich bestimmt: Welches Verhalten ist aufgrund der jeweiligen Geschlechtsrollenerwartungen erlaubt? Die Reaktionen des Feldes, der Bezugspersonen, sind sehr unterschiedlich gegenüber Jungen oder Mädchen. Das Feld, in das wir geboren werden, ist daher auch ein Gender-Feld. Auch die Gendergrenzen werden durch Schamprozesse ›bewacht‹, sind durch Schamgrenzen befestigt. Identität nach dem Motto, »Wer bin ich in mir und in der Welt«, wird stark durch Gender bestimmt.

      4. Den vierten Bereich bildet die Entwicklung von Stimme und Narrativen. Das Selbst kann als eine bestimmte Perspektive innerhalb des Feldes angesehen werden. Durch das Erheben der eigenen Stimme wird dieser spezifische Gesichtspunkt innerhalb des Feldes deutlich. Damit die eigene Position Bedeutung und Wirkung entwickeln kann, bedarf es auch einer Person, die sie wahrnimmt, die zuhört. Die Wechselwirkung von Stimme erheben und gehört werden beginnt in der Kindheit, wo eine vorherrschende Abwesenheit eines bedeutsamen Zuhörers zu Verkümmerung und Schwächung des Selbst führt. Durch unser angeborenes Interesse für andere Menschen und unsere Einschätzungen des Verhaltens anderer, erhalten wir Wissen über das Feld, über unsere Position im Feld und über die Zeitpunkte, zu denen wir unsere Stimme am besten erheben. Die Bedeutung des Verhaltens anderer im Feld und die Bedeutung unseres eigenen Verhaltens zu erfassen und zu äußern bedeutet, Geschichten über uns und andere zu erzählen. Entwicklung bedeutete gemäß Wheeler daher auch ein kohärentes Narrativ, eine gute Gestalt des eigenen Lebens finden zu können.

      3. Elemente einer Entwicklungstheorie der Gestalttherapie

      Innerhalb der Gestalttherapie gibt es gegensätzliche – Kenhofer (2010) schreibt paradoxe – Positionen hinsichtlich einer eigenen Entwicklungstheorie. Laut Morss (2002) ist eine Entwicklungstheorie innerhalb der GT per se unmöglich aufgrund der phänomenologischen und prozessorientierten Haltung, die eine festschreibende Theorie verunmögliche bzw. umgekehrt eine festlegende Theorie würde dadurch die zentralen Positionen der Gestalttherapie verraten.

      Neben der Ablehnung einer Entwicklungstheorie durch manche Gestalttherapeuten haben andere Vertreter der Gestalttherapie das Fehlen einer konsistenten gestalttherapeutischen Entwicklungslehre beklagt (Caroll 1999, Wheeler, 2002c, S. 39, Baulig 2002) und dies z. T. mit bestimmten fatalistischen Auffassungen über die Kindheit durch F. Perls erklärt (Wheeler 2002a, S. 12). Andere angeführten Argumente für das Fehlen einer gestalttherapeutischen Entwicklungslehre sind die höhere Wertschätzung von Spontaneität und offener Kreativität im Gegensatz zu rigider Reife sowie die Ablehnung eines kodifizierten, formalen oder schematisierten Modell durch Perls und Goodman zur damaligen Zeit (Wheeler 2002a, S. 13). Wichtig ist hierbei sicher auch, dass zu Beginn der Gestalttherapie nicht mit Kindern, sondern nur mit Erwachsenen gearbeitet wurde – Psychotherapie mit Kindern war zum damaligen Zeitpunkt eher noch selten. Die Gründer der Gestalttherapie, die ihre Therapie von einem reichhaltigen Hintergrund aus entwickelt hatten, ließen viele ihrer Voraussetzungen und Wurzeln in die Therapie einfließen, ohne dabei explizit auf entwicklungspsychologische Theoriebildung zu achten oder diese deutlich zu machen. Viele ihrer Erkenntnisse wurden vielmehr auf die therapeutische Praxis mit Erwachsenen hin gestaltet. Die Gestalttherapie erlaubte sich bisher nicht ausreichend, entwicklungspsychologische Vorstellungen, die dem gleichen fruchtbaren Boden erwuchsen, aus dem auch die Gestalttherapie selbst stammt, als die ihrigen zu erkennen, zu besetzen und zu integrieren.

      Neurobiologische Faktoren

      Was ist Entwicklung? Die Fassung des Entwicklungsbegriffes stellt immer auch eine wissenschaftstheoretische Positionierung dar. Es macht einen Unterschied, ob sich ein Pädagoge, ein Neurologe, ein Sportler oder Eltern Entwicklung vorstellen. Entwicklung ist stets eine Entwicklung zu etwas. Es gibt keine Notwendigkeit einer kontextfreien Entwicklung. Daher ist Entwicklung immer in den Kontext des sich zu Entwickelnden eingewoben. Wenn ein Mensch entsteht, ist einer der ersten wichtigsten und entscheidenden Überlebensschritte die biochemische Kommunikation zwischen der befruchteten Eizelle und der aufnehmenden, umgebenden Gebärmutter. Sehr früh beginnen sich verschiedene Bereiche zu spezialisieren, zu differenzieren und gleichzeitig miteinander in Verbindung zu treten. Zielgebiete für die Entwicklung und Verortung von Nervenzellen werden ausgegeben und die Nervenentwicklung bewegt sich in diese Richtung, während gleichzeitig in dem Zielgebiet verschiedene chemische Substanzen die ankommenden Neurone lenken und ihnen den richtigen Platz zuweisen. Menschliche Entwicklung ist als von Beginn auf Bewegung und Kommunikation mit der Umwelt, auf Differenzierung und Spezialisierung hin ausgerichtet.

      Zeitfenster und sensible Phasen neurologischer Entwicklung

      Entwicklung scheint von Anbeginn an zum einen die Bereithaltung genetisch vorskizzierter Möglichkeiten zu sein, die innerhalb eines zeitlichen Fensters im engen Wechselspiel zwischen Außenerfahrung und innerer Strukturierung jeweils höchst individuell, jedoch zugleich untrennbar verwoben mit dem umgebenden Feld konstruiert werden. Dieses umgebende Feld bestimmt die Entwicklung in einem so hohen Maße mit, dass Stern uns nicht als Besitzer unserer eigenen Seele (»mind«) beschreibt. Vielmehr vollzieht sich psychische Entwicklung in fortlaufenden Interaktionen und Dialogen mit anderen Seelen (Stern 2006 S. 30). Der Austausch und das sich Bedingen von Innen und Außen ist so absolut und tiefgreifend, dass Kinder ohne ausreichende äußere Bedingungen und Außenerfahrungen nicht Leben und Überleben können. Dies zeigen eine Reihe von unmenschlichen Beispielen, wie die schrecklichen Versuche Friedrich des Großen5, aber auch die Waisenhausstudien von René Spitz, bei der Babys, welche ihre Mutter verloren hatten und in Heimen ohne ausreichenden Ersatz aufwuchsen, wesentlich höhere Krankheits- und Sterblichkeitsraten aufwiesen. In diesem Bereich kann ein Kontinuum möglicher Entwicklung gedacht werden, bei dem auf der einen Seite eine gute feinfühlige Pflegeperson-Kind Beziehung mit ausreichend Liebe und Fürsorge eine gute Entwicklung ermöglicht. Auf der anderen Seite des Pols stehen Kinder, wie die erwähnten Waisenhauskinder, die eine völlig unzureichende Versorgung mit den wichtigsten zwischenmenschlichen Grunderfahrungen erleben mussten. Zwischen diesen beiden Extremen sind verschiedene Ausprägungen möglich, die sich auch in den verschiedenen Bindungsklassen widerspiegeln. Bei der neurologischen Entwicklung des Gehirns werden Möglichkeiten bereitgestellt, die in enger Abstimmung mit dem umgebenden Feld ausgebaut, vertieft und differenziert werden, oder die zurückgestellt oder gar aufgegeben werden. In den ersten Monaten und Jahren werden, wie mit einem reichhaltigen Füllhorn, weitaus mehr Neurone angelegt als benötigt. Wenn diese Nervenzellen Verwendung finden, kommt es zu einer immer dichteren Ausbildung synaptischer Verknüpfungen und dendritischer Verästelung. Verknüpft werden Gehirnregionen, die in funktionaler Einheit zueinander stehen und Verwendungsdurchläufe erfahren. Wenn bestimmte Gehirnregionen allerdings nach einer bestimmten Zeit nicht verwendet werden, werden ihre Neurone wieder abgebaut oder anderen Aufgaben zugeführt. Das heißt, durch erfahrungs- und umweltbestimmte Selektion differenzieren sich bestimmte Strukturen heraus. Ich beschäftige mich seit über 20 Jahren mit Entwicklungsfragen hörgeschädigter Kinder. Bei der Hörentwicklung ist inzwischen klar, dass Kinder bereits im Mutterleib erstaunlich viele Merkmale und Qualitäten gesprochener Sprache wahrnehmen und sich sogar merken können. Neugeborene und nur einige Tage alte Babys bevorzugen die Mutterstimme (DeCasper & Fifer 1980) und können sogar Veränderungen von Texten, die ihnen ihre Mutter in den letzten Schwangerschaftswochen vorgelesen hat, unterscheiden. Bei den pränatal vorgelesenen Texten wurden postnatal einige Wörter ausgetauscht. Die Babys bevorzugten über eine raffinierte Steuerung mittels spezieller Schnuller, die bekannten Texte

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