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her an, als würde es auf den Osterinseln liegen, und die Berliner Mauer allein war schon die Verkörperung der schwarzen Macht.

      Es herrschte ein Gleichgewicht des Schreckens, aber immerhin ein Gleichgewicht. Das war schon einmal etwas, auf dem man aufbauen und in dem man einen sicheren Rahmen und einen Platz finden konnte. Von dem aus konnte man unter den klaren Wertevoraussetzungen dieser Gesellschaft schaffen oder auch raffen wie man wollte. Wie heißt es doch so schön: Gib mir einen festen Punkt und ich hebe die Welt aus den Angeln!

      Dann kam die Wende und mit ihr der Sieg unseres Teiles der Welt und damit unserer Werte. Da wir für uns die Rolle der »Guten« beanspruchen konnten und uns Demokratie, Wohlstand, Kapital und Konsum auf die Fahnen geheftet hatten, war das natürlich besonders fein. Die Gründe für den Zusammenbruch der Sowjetunion als Protagonisten der »bösen anderen« lassen wir hier beiseite, auch wenn sie in ihrer Tiefendynamik jenseits von Politik höchst spannend sind.

      Doch wir wollen uns hier zügig auf die Misere unserer Kinder konzentrieren, die wir verkauft, instrumentalisiert, betrogen haben und in der sensiblen Zeit des Aufwachsens und der Orientierungssuche einfach im Stich lassen. Wir wollen uns anschauen, wie die Antwort aussehen wird, die sie uns bald geben werden. Dafür müssen wir uns vorher aber im Tiefengebälk unseres psychologischen Kellers mit den Auswirkungen unseres Sieges und damit mit den gesellschaftlichen Überzeugungen auseinandersetzen, die sich in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten entwickelt haben.

      Wie sich unser Menschenbild verändert hat oder Wer wir heute sind

      Seit den frühen Neunzigerjahren sind alle westlichen Konsumstaaten, die sich mittlerweile zu postmodernen Technologiegesellschaften transformiert haben, also Sieger. Und mit ihnen natürlich auch ihre Grundüberzeugungen und ihr Selbstkonzept, das allein durch die »Befreiung der anderen« und die Durchsetzung »unserer Ideologie« einen enormen Schub fürs Ego erhalten hat. Wir haben mit unserer Haltung letztendlich also »recht« gehabt! Recht zu haben ist ein sattes, schmeichelndes Gefühl und führt bekanntlich dazu, dass man sich überlegen fühlt und glaubt, andere belehren zu können.

      Was also ist unser Erfolgsrezept? Wie baut man die richtige Gesellschaft auf?

      Wir präsentieren die Zutaten unserer Erfolgsgeschichte gern laut und inszenieren uns in unserer Verliebtheit in Selbstdarstellung am liebsten permanent.

      Besonders bedeutend, ja fast schon sakral verbrämt in unserem gesellschaftlichen Wertekoffer ist natürlich »die Freiheit«, und zwar bitte die »vollkommene«. Wir wollen heute alle frei leben, absolut frei, und ja keine Zwänge oder irgendetwas, das unsere Freiheit beschränken könnte, akzeptieren. Folgerichtig haben wir alles, das wir auch nur in der Nähe von autokratisch oder autoritär vermuten, auf der Fahndungsliste. Autorität per se ist schon suspekt. Dementsprechend haben wir in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten auch gerne und viel von der Freiheit gesprochen: von der freien Marktwirtschaft zum Beispiel, dem freien Spiel der Kräfte, der freien Entfaltung und natürlich der freien Wahl, denn Wahlfreiheit – nicht die bei der politischen Wahl, die interessiert uns und die Jüngeren zunehmend weniger, sondern die der persönlichen Lebensgestaltung – ist uns nahezu heilig. Wir wollen jeder in unser Mickymaus-Leben hineinpacken, was uns gerade gefällt, und es natürlich auch jederzeit wieder verändern, wenn eine Durststrecke droht und das Gewählte sich vielleicht als mühevoll herausstellt. Sonst wären wir ja blöderweise nicht mehr frei.

      Damit stehen wir bereits am Rande einer Schlangengrube. Denn wenn das wundervolle Privileg der Wahlfreiheit nicht auch eine entsprechend ernsthafte Wahlverantwortung mit einschließt, entsteht daraus Beliebigkeit mit all ihren fatalen Konsequenzen. Aber das ist möglicherweise nur etwas für Spitzfindige – und für unsere Kinder, die das ganz genau erfasst haben.

      Gleich neben der Fürstin »Freiheit« finden sich als beste Freundinnen »die Potenzialentfaltung« und »die Individualität«, praktisch unzertrennlich, die eine heute die Steigbügelhalterin der anderen. Dass sie bisweilen auch schrill daherkommen können, tut ihrer Popularität nicht im Geringsten Abbruch. Kein Extrem wird hier ausgelassen, egal, ob es um Körperschmuck, Haartracht, skurrile Hobbys oder das Zusammenleben mit Alligatoren geht. Hauptsache, man fällt auf. In dieser Siegerpose des unverwechselbaren Individualisten, der sein Potenzial voll ausschöpft und sein Leben nach eigenem Dafürhalten inszeniert, sehen wir uns heute gerne.

      Wir sehen uns überhaupt äußerst gerne und beschäftigen uns am liebsten mit »Postings« in der ornamentalen Bilderkultur von Facebook und anderen Social Media Plattformen. Jeder sein eigenes Kunstwerk, eine Selbstinstallation »in progress«, denn Selbstbespiegelung wärmt und tut gut. In einer Zeit, in der das Bekenntnis zum Egoismus als ehrliches Outing unserer angeblichen Natur schicke Partygängigkeit verspricht, gehört es als Grundhaltung einfach dazu. Ein wenig infantil mutet diese Selbstverliebtheit in die eigene Größe allerdings schon an, bisweilen sogar etwas verzweifelt. Nämlich dort, wo das Bedürfnis nach Originalität bizarre Formen anzunehmen droht, indem man als Bilderstürmer der letzten Tabus unterwegs ist, um damit die ersehnte Aufmerksamkeit zu gewinnen. Das Bedürfnis, in dieser so beängstigend freien Gesellschaft, die gleichzeitig immer engere Kontrollmechanismen als Gegenbalance einzuziehen versucht, seine Originalität zu begründen und etwas Besonderes zu sein, um endlich einen festen Punkt zu finden, ist enorm.

      Gesehen werden ist alles! Man nennt diese Störung Narzissmus. Dabei wird das Ego in der Sucht nach Anerkennung als Nabel der Welt erlebt und inszeniert. In der heutigen Elterngeneration kommt sie bereits dreimal so häufig vor wie in der vergangenen. In der schlimmsten Ausprägung erlebt ein Narzisst sein Gegenüber nur mehr als Erfüllungsgehilfen und als Material für die eigene Selbstbestätigung, denn zu echter Hingabe und Liebe ist er nicht mehr fähig. So treten wir dann unseren Kindern gegenüber.

      Kind ja oder nein?

      

Bernadette ist eine attraktive, schlanke Frau knapp vor ihrem vierzigsten Geburtstag. Auch drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin ist die Wölbung ihres Bauches überblickbar. Sie vertraut auf Disziplin und Planung, wie sie mir sofort verrät. Ein Sichgehenlassen ist da nicht drin, und ihre forsche Art lässt vermuten, dass sie ihre Haltung zum Thema Kind mit zahlreichen Studien und ausgewählter Ratgeberliteratur untermauern könnte.

      Aber ich nehme ihre Selbstbeschreibung ohne Nachfrage hin. Immerhin soll es hier ja um ein anderes Thema gehen – ihr Kind. Dass dies als Besitzanzeige zu werten ist, präsentiert sie als unhinterfragbar und unterstreicht es, indem sie ihre Hände auf ihrem Bauch verschränkt. Deshalb ist sie auch hier, denn Markus, der in allen zukünftigen Gerichtsprozessen als sogenannter Kindesvater bezeichnet werden wird, ist da anderer Meinung.

      Dabei hat sie alles sorgfältig überlegt und geplant. Sogar das Timing ist perfekt. Ein Karriereplateau ist erklommen, die zukünftige Vereinbarkeit von Beruf und Familie durchdacht und durch einen familienfreundlichen Arbeitgeber mit Betriebskindergarten zumindest aus heutiger Sicht relativ bequem realisierbar. Auch pädagogisch ist Bernadette gut vorbereitet. Klare Vorstellungen zu Förderung, Potenzialerschließung und Erziehungsgrundsätzen fügen sich bereits zu einem Konzept. Das Problem ist Markus, denn der hat für die Rolle als Vater seine eigenen Vorstellungen. Dabei stand Bernadette ihm ursprünglich gar nicht so ablehnend gegenüber, wie es jetzt im Zuge der Meinungsverschiedenheiten der Fall ist. Markus hätte einfach den für ihn vorgesehenen Platz im Hintergrund einnehmen und definierte »Qualitätszeit« mit seinem Sohn zubringen sollen.

      Dass ein Zusammenziehen für sie nicht erstrebenswert war, hatte Bernadette schon in den ersten Wochen der Schwangerschaft geklärt. Langfristig gab sie dem traditionellen Konzept von Familie sowieso keine Chance. Schließlich hatte es seinen Grund, dass sie es sich seit Jahren gemütlich in ihrem Singledasein und dank ihrer beruflichen Position auch wirtschaftlich gut abgefedert in einem sehr selbstbestimmten Leben eingerichtet hatte. Warum sich jetzt also mit einem anderen erwachsenen Menschen abstimmen, ihn permanent um sich haben, das Terrain teilen? Da sprach einfach zu wenig dafür. Viel besser und freier war es doch, sich jeweils zu verabreden, statt sich mühevoll wieder Freiraum erkämpfen zu müssen.

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