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sollen spüren, dass sie einander wirklich lieb haben, damit die Kinder sich geborgen fühlen .«

      So, jetzt war ich endlich zufrieden. Ich legte Messer und Gabel auf meinen leeren Teller und gratulierte mir innerlich. Doch der gedankenschwere Blick war trotz meiner brillanten, pädagogisch wohlgeformten Erklärung nicht aus dem Gesicht meiner Tochter gewichen.

      Sie schien sehr ernsthaft über meine Worte nachzudenken, um schließlich zu meinen: »Wenn du das wirklich willst, Mama, dass die Kinder Freunde haben und Spaß bei dem, was sie tun und dass sie sich aufgehoben und von ihren Eltern lieb gehabt fühlen, dann musst du den Eltern doch nur sagen, dass sie sich um ihre Kinder einfach richtig kümmern sollen. Die Kinder sind ja nicht krank, die spinnen doch nur! Die Eltern müssen ihre Kinder doch einfach nur erziehen!« Sie sah mich an und ihr Blick verriet, dass sie gerade ihrer vollsten Überzeugung Ausdruck verliehen hatte.

      Wir schwiegen beide, doch dann machte sie nach einer kurzen Pause noch eine Bemerkung, die mich in ihrer Einfachheit und Direktheit so traf, als würde der Lichtkegel eines Scheinwerfers gerade in jenem Moment auf mich gerichtet werden, in dem ich in finsterer Nacht unerlaubt über eine Mauer zu klettern versuchte: »Oder können die Eltern das nicht?«

      Oder können die Eltern das nicht? Verstehen es Eltern also nicht mehr, Eltern zu sein? Können Eltern, die ihre Elternschaft so ausüben, wie die heutige Gesellschaft es fordert und wie es ungeschriebenerweise heute »Mode« ist, in der Beziehung zu ihren Kindern nicht mehr die nötige Kraft entwickeln, ihnen Sicherheit, Klarheit und eine ihrem Alter entsprechende Führung zu geben? Damit sie in dem geschützten Raum, der dabei entsteht, nach und nach heranreifen können? Ist das »gängige Handbuch« elterlichen Verhaltens, der Code, wie Elternschaft im 21. Jahrhundert anzulegen ist und welche Rechte, Verantwortlichkeiten und Pflichten das bedeutet, der Entwicklung unserer Kinder vielleicht nicht mehr förderlich? Denn was sonst signalisieren die vielen Baustellen kindlicher Entwicklungsprobleme – von Verhaltensoriginalität über Hyperaktivität, Autoaggressivität, Selbstregulationsstörungen bis hin zu kindlicher Anorexie und Fettleibigkeit?

      Genau das hatte meine Tochter mit ihrer schlichten, naiven Frage gemeint: Läuft hier etwas schief? Wisst ihr Erwachsenen eigentlich nicht mehr, was wir Kinder brauchen? Eine infam anmutende Grundhinterfragung, denn dass wir alle »geborene Eltern« sind, scheint ja doch eine unantastbare Grundvariable zu sein.

      Aber eigentlich brauchte es mich gar nicht zu verwundern, dass der berühmte Kindermund die Wahrheit kundgetan hatte: »Deutet nicht mit dem Finger auf die lauten Kinder, sondern schaut euch selbst an.« Schließlich war es ja auch im Märchen ein Kind gewesen, das es als Einziges gewagt hatte, die Nacktheit des Kaisers anzusprechen, während der gesamte Hofstaat das Werk des tückischen Hofschneiders bewunderte.

      Der Satz meiner Tochter ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Und wie es nun einmal so ist mit Dingen, die knapp unter der Oberfläche des Alltagsbewusstseins darauf lauern, wieder ans Tageslicht geholt zu werden, sollte er mir in näherer Zukunft immer öfter einfallen. Er entpuppte sich als der fehlende Puzzlestein, der das ganze Bild erklärte.

      »Die checken einfach ihren Auftrag nicht!«

      Das war, wieder einmal, mein innerlicher Kommentar, als ich knapp eine Woche später die Eltern von Phillip in mein Behandlungszimmer bat. Wie so oft erwartete mich eine jener Situationen einer familiären Misere, die sich in dem zugegeben markigen Kondensat so treffend widergespiegelt fand.

      

Auf den ersten Blick sind sie ein Erfolgsduo Ende vierzig, Phillips Altvordere, und sie bemühen sich auch sehr, genau diesen Eindruck zu vermitteln. Als müssten sie sich gerade bei einem Hearing von sich selbst überzeugen. Der Anlass, der sie zu mir geführt hat, hat ihren Lebenskosmos so schwer erschüttert, dass sie nicht länger an die Unversehrtheit ihres eigenen strahlenden Lebensmodells glauben können. Dabei mutet alles wie eine Hollywood-Story in alpenländischem Format an.

      Beate ist Nobeldermatologin mit Nebenschwerpunkt Anti-Aging und versorgt in ihrer Innenstadtpraxis nur die beste Klientel. Das gute Dutzend an Wiener Zinshäusern, das ihr ewig unberechenbarer, cholerischer Vater, der sie und ihre Mutter immer abgewertet hat, ihr letztendlich doch vererbt hat, schafft einen behaglichen wirtschaftlichen Hintergrund.

      Robert, ihr Mann, wirkt mit seiner Selfmademan-Haltung und seinem forschen Auftreten wie die ideale Ergänzung. Er hat sich karrieremäßig dem Entrepreneurship verschrieben. Er erklärt mir, die beste Entscheidung seines Lebens sei gewesen, sein Betriebswirtschaftsstudium zu »versemmeln« und stattdessen ein Großhandelsunternehmen für Badezimmerarmaturen aufzuziehen. Mit seinem Gespür für die richtige Gelegenheit, Einsatz und dem angeborenen Verkäuferinstinkt gelang es ihm, Großkunden im Hotel- und Spitalsbau an Land zu ziehen und in der Branche ganz oben mitzumischen. Er macht auch gleich klar, dass er Akademiker für beschränkt, reich an Buchwissen, aber realitätsfern und in der freien Wirtschaft für wenig überlebenstauglich hält.

      Selbstwert ist für den guten Mann also offenbar ein großes Thema. Beate muss sich permanent rechtfertigen und Robert spielt den Bewerter. In dieser Ehe gibt es also gewisse Grundturbulenzen, doch die Bedrohlichkeit der gegenwärtigen Situation vereint die beiden. Bis auf gelegentliche wechselseitige Seitenhiebe wird Harmonie demonstriert. Am Ende der Sitzung ist klar, dass beide zwar den Ernst der Lage und die möglichen Konsequenzen erkennen. Doch keiner von beiden hat genügend positive Veränderungskompetenz aufzuweisen, um das eigentliche Grundproblem anzupacken. Denn Beate hat es längst aufgegeben, ihrem Sohn als weisungsgebende Mutter entgegenzutreten. Sie bemüht sich in erster Linie um einen minimalen Frieden, indem sie ihm seine Wünsche erfüllt und möglichst konsequent über seine Präpotenz hinwegsieht.

      Roberts erzieherische Inkonsequenz ist noch drastischer. Er erklärt mir: »Eigentlich müsste man das Ganze ja aus einem viel breiteren Blickwinkel betrachten. Natürlich war das nicht in Ordnung, was er getan hat, aber es war ja eine ganze Menge Alkohol im Spiel. Im Prinzip ist er ja sehr couragiert für sein Alter, hat sich überhaupt nicht in die Hosen geschissen. Peng, zack, einfach sein Ding durchgezogen.« Er unterstreicht seine Worte damit, dass er mit der Handkante die Luft zwischen seinem und meinem Sessel durchschneidet.

      Phillip hat seinem Vater mit seiner Aktion, die immerhin ein Verfahren für mehrere strafrechtliche Delikte nach sich zu ziehen droht, also imponiert. Ich frage mich, ob Robert sich eigentlich darüber im Klaren ist, was es für seinen Sohn bedeutet, wenn er als Vater die laut Strafgesetzbuch eindeutig kriminellen Handlungen seines Sohnes bagatellisiert und sein fragwürdiges Draufgängertum sogar bewundert. Bevor ich das jedoch thematisieren kann, krönt er seinen Gedankengang mit einer abschließenden Bemerkung, die mich daran zweifeln lässt, ob dieser Mann überhaupt selbst erwachsen und erziehungsfähig ist: »Eigentlich war das Ganze ja eine Art Mutprobe und dafür muss ein Richter, der halbwegs Grips im Kopf hat, Verständnis haben. Es gibt ja keine Rituale für junge Männer mehr, in denen sie sich beweisen können. Die Guten müssen sich dann eben selbst Herausforderungen schaffen und die Weicheier bleiben auf dem Sofa sitzen.«

      Es würde also eindeutig ein weiter Weg werden, wenn wir für Phillip etwas zum Positiven verändern wollten.

      Das Gleiche denke ich mir rund eine Woche später, als Phillip persönlich in meinem Behandlungszimmer Platz nimmt. Der »diagnostische Kommentar« meiner Tochter zum psychosozialen Status all dieser Kinder und Jugendlichen kommt mir wieder in den Sinn: »Mama, die sind ja nicht krank, die spinnen doch nur!«

      Genau dieses »Der spinnt doch einfach« schießt in mir während dieser ersten Sitzung mit Phillip immer wieder auf. Er wird in ein paar Wochen siebzehn werden, ist also schon gut in der Kohorte der Jugendlichen installiert und im Outlook, auf den es heute bekanntlich vor allem ankommt, ein formidabler Bursche. Dünner, lässiger Kaschmirpullover einer edlen Marke, Jeans, die so kunstvoll zerfetzt sind, dass sie sicher ein Vermögen gekostet haben, und sockenlose Pubertätsfüße, die ein wenig seinem Körperwachstum vorausgeeilt zu sein scheinen – so präsentiert er sich mir, als ich ihm die Tür zu meiner Praxis öffne. Seine extrakorporale Identitätsquelle in Gestalt des neuesten Handymodells in der Hand, schreitet er aufrecht und mit federndem Gang in meinen

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