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Sachverhalte, die im Zuständigkeitsbereich von Philosophie und Theologie lokalisiert waren. Diese Phänomene sicherten bisher die Einzigartigkeit des Menschen und blieben für eine naturwissenschaftliche Erklärung tabu. Mittlerweile jedoch wird sowohl aus dem Lager der Hirnforschung als auch aus naturalistischen Richtungen der Philosophie des Geistes versucht, diese spezifisch menschlichen Charakteristika als natürlich erklärbare Phänomene zu betrachten und ihnen jegliche Sonderstellung absprechen – bis hin zu der Leugnung etwa des freien Willens zugunsten einer durchgängigen Determiniertheit aller unserer kognitiven Willensakte.

      Auf jeden Fall stehen immer explizit oder implizit grundsätzliche anthropologische Fragestellungen auf der Tagesordnung. Es ist völlig klar: Die Theologie als ganze ist hier herausgefordert, sich in die Debatten darum, wie wir uns als Menschen verstehen sollen, einzumischen; die Prämissen unserer christlichen Auffassung vom Menschen stehen zur Diskussion. (Damit sind selbstverständlich auch Religionspädagoginnen und -pädagogen aufgefordert, sich erstens über relevantes neurowissenschaftliches Grundwissen kundig zu machen und zweitens über dessen anthropologische Implikationen zu reflektieren; an den verschiedenen Lernorten, an denen sie tätig sind, werden sie diesen Thematiken nicht (mehr) guten Gewissens ausweichen können.)

      An dieser Stelle könnte man nun einwerfen, dass diese Diskussion doch eigentlich keine ist, die die praktische Theologie wirklich interessieren muss. Schließlich geht es hier um anthropologische Grundfragen, und die werden in der systematischen Theologie besprochen und nicht in der praktischen. Denn in der praktischen Theologie geht es doch um die Praxis und nicht um philosophische Hintergrundfragen. Aber: Die praktische Theologie kann sich der Reflexion um das Menschenbild nicht enthalten – denn mein Menschenbild prägt immer auch meine Überlegungen, wie Praxis zu gestalten ist. Abgesehen davon lassen sich viele weitere Fragen im Kontext der Hirnforschung anführen, die ganz direkt praktische Konsequenzen implizieren. Wie etwa soll mit den Möglichkeiten umgegangen werden, die moderne Neurotechniken bieten? Sollte z.B. das brain doping oder das brain enhancement erlaubt sein, also der Einsatz von psychisch wirksamen Medikamenten nicht zur Therapie von Krankheiten, sondern zur Steigerung der Leistungsfähigkeit des Gehirns? Dürfen mittels bildgebender Verfahren meine Gedanken gelesen werden (das so genannte brain reading), wenn diese Verfahren z.B. vor Gericht als eine Art Lügendetektor eingesetzt würden? Soll an der Schaffung von künstlicher Intelligenz und von künstlichem Bewusstsein weitergearbeitet werden?

      Auch von diesen Fragen könnte sich der praktische Theologe, überhaupt jeder Theologe und jede Theologin unbeeindruckt zeigen und seine Zuständigkeit ablehnen. Ich behaupte nicht, dass er oder sie das tun sollten, aber er/sie könnte es mit Verweis darauf, dass es doch in der Theologie in ihrem Kern um etwas ganz anderes gehe als der Hirnforschung. Denn worum geht es der Theologie? Kurz gesagt, ist sie die Wissenschaft von Gott. Die Hirnforschung hat aber doch einen ganz anderen Gegenstand: Sie befasst sich mit der Erforschung von Hirnprozessen. Also ist – per definitionem – Gott nicht Gegenstand der Hirnforschung. Was also sollten sich die beiden Wissenschaften wirklich zu sagen haben? Vielleicht können sie sich gar nichts sagen, weil es ihnen jeweils um völlig Unterschiedliches geht?

      So einfach ist es natürlich nicht, und dies liegt bereits daran, dass die Gegenstandsbestimmung der Theologie, so wie ich sie eben vorgenommen habe, nicht ganz richtig ist. Gott ist, genau genommen, nicht Gegenstand der Theologie; denn Gott ist überhaupt kein Gegenstand. Gott ist der Schöpfer aller Gegenstände; der, ohne den nichts ist – aber er ist selbst kein Teil der Schöpfung. Gegenstand der Theologie ist vielmehr der Glaube an Gott, den Menschen glauben, oder der Begriff von Gott, den sich Menschen machen. Insofern ist Gott indirekt Gegenstand der Theologie, während der Glaube ihr direkter Gegenstand ist.

      Wenn also Glaube oder, allgemeiner und auch unschärfer gesprochen, Religion Gegenstand der Theologie ist, kommt dann nicht eine gemeinsame Plattform von Theologie und Hirnforschung in den Blick? Auch hier ist die Antwort erst einmal negativ, denn es bleibt dabei, dass die Hirnforschung Prozesse untersucht, die im Gehirn ablaufen. Religion ist aber kein Hirnprozess. Trotzdem – wir kommen der Sache schon näher: Auch wenn die Hirnforschung weder Gott noch Religion noch Glauben direkt untersucht, so untersucht sie doch diejenigen Hirnprozesse von Versuchspersonen, die mit den genannten „Größen“ in irgendeiner Weise verbunden sind bzw. irgendwie mit ihnen interagieren. Es geht also um die neuronalen oder genauer: zerebralen Korrelate der religiösen Erfahrungen der untersuchten Subjekte. Durch diese Forschungen wird die Theologie, näherhin die praktische Theologie darauf geworfen, das Subjekt religiöser Erfahrungen näher und vielleicht mehr als bisher in den Blick zu nehmen. Und wenn es sinnvoll sein sollte, die Subjektorientierung als ein charakterisierendes Merkmal der Praktischen Theologie zu bestimmen, dann liegt sofort auf der Hand, dass insbesondere die praktische Theologie sich von den Befunden der Neurowissenschaften nicht unbeeindruckt wird zeigen können.

      Abgekürzt könnte man sagen: Hirnforschung untersucht zwar nicht Gott und auch nicht Religion, wohl aber Religiosität als die subjektive Seite von Religion – und zwar insofern sie die neuronalen Korrelate von Religiosität erforscht, also diejenigen Hirnprozesse, die mit religiösem Erleben und Verhalten einhergehen. Damit kann sie beitragen zu einem aktuellen Forschungsfeld innerhalb der Religionspädagogik, nämlich zur Anschärfung einer Theorie der Religiosität, einer Größe, die bislang wenig theoretisches Interesse auf sich gezogen hat, deren Klärungsbedürftigkeit aber deutlich zutage tritt. (vgl. Angel 2006; 2008) Und es ist auch nicht überflüssig zu erwähnen, dass die hier vertretene Perspektive sich deckt mit der eingangs genannten Leitidee der (kognitiven) Neurowissenschaften: Wenn bestimmte Hirnzustände notwendige Voraussetzung für alle mentalen Phänomene sind, dann geht auch religiöses Erleben mit bestimmten Hirnprozessen einher – alles andere wäre auch reichlich merkwürdig.

      Welche Momente der neurowissenschaftlichen Forschung sind nun speziell für die praktische Theologie von Bedeutung? Man übersieht schnell, dass sich solche Momente nicht auf das Feld der so genannten Neurotheologie beschränken – auch wenn dieses das wohl medienwirksamste und auch von fachtheologischer Seite am ehesten aufgenommene Thema ist. Daher werde ich mich diesem Bereich gleich exemplarisch vertieft zuwenden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit nenne ich aber zunächst weitere neurowissenschaftliche Themen von Relevanz für die praktische Theologie: Es sind dies Forschungen

      - zur Willensfreiheit,

      - zu veränderten Bewusstseinszuständen,

      - darunter insbesondere zu Nahtoderfahrungen,

      - zur außersinnlichen Wahrnehmung,

      - zur Neurodidaktik.

      Ein Beispiel: Die so genannte Neurotheologie

      Etwa um die Jahrtausendwende haben neurowissenschaftliche Forschungen zur Rolle des Gehirns bei religiösen, spirituellen oder mystischen Erfahrungen stark zugenommen. Für diese neue Forschungsrichtung wurde von einigen Protagonisten, die selbst Neurowissenschaftler und keine Theologen sind, der Ausdruck „Neurotheologie“ geprägt. Dieser Begriff hat eine steile Karriere gemacht, so dass man fast den Eindruck haben konnte, eine neue theologische Disziplin sei geboren worden. Diesen Anspruch kann diese Forschungsrichtung jedoch nicht erfüllen. Schon der Begriff „Neurotheologie“ selbst ist sehr unglücklich, denn das Präfix „Neuro-“ scheint ein klar definiertes Teilgebiet einer Wissenschaft zu bezeichnen. Tatsächlich geht es jedoch um sehr heterogene Phänomene, etwa um Meditation genauso wie um Epilepsieforschung.

      Weitaus problematischer ist aber, dass mit diesem Ausdruck eine sachlich unzutreffende Vorstellung davon verbunden ist, was eigentlich Theologie ausmacht. Die Ergebnisse dieser Forschungen werden nämlich unzulässigerweise oft dazu verwendet, um weit reichende Deutungen im Bereich der transzendenten Wirklichkeit vorzunehmen, seien sie kritischer oder affirmativer Natur. Tatsächlich aber geht es darum, die neuronalen Grundlagen mentaler Prozesse im Bereich des Religiösen zu erforschen, und dass damit weder die Existenz Gottes noch seine Nicht-Existenz bewiesen werden kann, bedarf keiner weiteren Erläuterung.

      Trotz dieser (und anderer, hier nicht genannter) Probleme sollte man das Kind aber nicht mit dem Bade ausschütten: Dass die so genannte Neurotheologie ihren Namen zu Unrecht trägt, bedeutet nicht, dass ihre Befunde aus

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