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Sterbens, schlägt er vor, die alte Sprache wenigstens im Zitat zu bewahren. Was gibt es Besseres, als am Grabe der Mutter zu sprechen: ‚Herr, gib ihr die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihr‘“ (Kurzke/Wirion 2005, 25).

      Kurzke versucht also im Zitat zu retten, was er in der Substanz für verloren hält. Ich denke, damit geht er in die Richtung dessen, was auch Habermas mit seinem Vorschlag einer Transformation des religiösen Erbes vorschwebt. Ja, er geht sogar noch ein ganzes Stückchen weiter, und mitunter kann man sich fragen, was sein Kulturchristentum von einem substantiellen Glauben eigentlich trennt. Vielleicht müssen wir auch gar nicht genau wissen, wo das schöne Zitat aufhört und wo der „echte“ Glaube anfängt und wo Kulturarbeit umschlägt ins Gebet. Der von Kurzke repräsentierte Religiositäts-Typus scheint mir unter der Spezies der Kulturschaffenden jedenfalls durchaus verbreitet zu sein.

      Natürlich wird jeder dieser Menschen beanspruchen, ein Sonderfall zu sein – und dies selbstverständlich völlig zu recht. Gleichwohl gibt es doch deutliche Familienähnlichkeiten in diesem Feld des religionsfreundlichen Kulturchristentums. Und manchmal staunt man, wer hier alles auftaucht. Beispielsweise der Philosoph und Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz. Bolz hat sich noch vor wenigen Jahren ziemlich herablassend über die Sinnlosigkeit der Sinnfrage amüsiert. (vgl. Bolz 1997) Nun schreibt er: „Fast 2000 Jahre lang haben fast alle intelligenten und gebildeten Menschen unserer europäischen Kultur die Frage nach dem christlichen Gott durchdacht und durchlitten; ob apologetisch, ob kritisch gleichviel. Jeder ernst zu nehmende Gedanke ist Metaphysik, und jede Metaphysik ist säkularisierte Theologie. Sich aus diesem Traditionszusammenhang herausreflektieren zu wollen, ist geistiger Selbstmord“ (Bolz 2008, 137). Bolz erklärt, es gebe „einen Glauben […], der auch den trägt, der nicht hoffen kann, ein Christ zu sein. Das ist der Glaube an den einzigartigen Wert der von Griechentum und Christentum geprägten europäischen Kultur. […] In diesem Sinne plädieren wir hier für eine ernste Arbeit an der objektiven Religion, d.h. dem Kultur gewordenen Christentum […]. Dieser Weg steht gerade auch dem religiös Unmusikalischen offen“ (Bolz 2008, 138f).

      In einer Zeitung war kürzlich das Statement zitiert: „Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn“. Das ist in gewisser Weise die Essenz des „religionsfreundlichen Kulturchristentums“. Man kann sicher darüber streiten, wie es zu interpretieren ist. Aber in seiner Breite ist es unzweifelhaft ein Phänomen religiösen Wandels. Und zwar gleich in verschiedener Hinsicht. Denn in dieser Einstellung zu Religion und Religiosität treffen sich sowohl Leute, die eine Vergangenheit als fromme Katholiken haben als auch solche, die eine Vergangenheit als rigorose Aufklärer und Säkularisierer haben. Gewandelt haben sich die einen wie die anderen, wenn auch, wenn man so will, in verschiedene Richtungen. In der neuen religiösen Mitte jedenfalls finden sie anscheinend gleichermaßen ihren Platz.

      Eine persönliche Selbstvergewisserungsreligion

      Fragen der Religion und des Glaubens werden heute vielfach als etwas so Persönliches betrachtet, dass man eine Unterscheidung zwischen mehr oder weniger zutreffenden Antworten für eigentlich nicht möglich hält. Antworten auf religiöse Fragen können aus dieser Sicht nicht beanspruchen, eine allgemeingültige Wahrheit zum Ausdruck zu bringen; was sie ausdrücken, könnte man eher nennen: eine persönliche Einstellung zum Umgang mit elementaren Daseinsrisiken. Eine solche Einstellung muss sich nicht nach konsensfähigen Kriterien bewahrheiten, sondern braucht sich lediglich im individuellen Einzelfall zu bewähren. Eine gute Religion und ein tragfähiger Glaube zeichnen sich also vor allem dadurch aus, dass sie, wie auch immer, einen Beitrag zur Steigerung der individuellen Lebensqualität leisten. Ein Beispiel aus einem Gespräch mit Claudia, einer 17-jährigen Gymnasiastin aus Bayern:

      Frage: Würdest Du sagen, dass Du manchmal betest?

      Claudia: Ja, würd’ ich schon sagen!

      Frage: Und wie sieht das aus, wenn ich Dich fragen darf?

      Claudia: Ich falte nicht meine Hände, oder so, ich denk’, hey komm’, hoffentlich schaffst’ es! Vielleicht steht mir ja doch einer bei, oder so. Aber ich denk mal so. – Das wichtigste ist eigentlich, dass du auf dich selber vertraust, oder? Einfach, dass ich denke, ey, vielleicht hast du Glück, oder so. Vielleicht haut’s hin! Oder manchmal, wenn es irgendwie, so im Moment geht’s mir eigentlich so ganz gut, aber so vor einem Jahr hatte ich mal voll die Krise, da hab ich so an allem gezweifelt, oh Gott, ey: Was bringt dir das alles überhaupt, wenn du hier in der Gesellschaft lebst, und dass du überhaupt, was weiß ich, morgens einkaufen gehst und mittags in die Schule oder umgekehrt, und da, wenn dir irgendwas total wehtut, oder so, dann hast du irgendwas, an das du denken kannst, und dann, würde ich sagen, dann betest du. Oder manchmal, genau, wenn ich abends allein heimlaufe, oder so, ich mach das eigentlich gerne, so allein ein Spaziergang, wenn ich dann irgendwo lang lauf’, und dann denke ich so. – Hey, dann rede ich einfach so mit mir selber oder mit jemandem anderen, ob jemand da ist, oder nicht! Ich denk’ mal, das ist Beten, bei mir. Dann fühlst du dich eigentlich auch nicht allein.

      Frage: Glaubst Du, dass irgendwer zuhört, eingreift, antwortet?

      Claudia: Das ist gar nicht ausschlaggebend, oder? Kommt halt drauf an, dass du dich selbst gut fühlst. Ich weiß nicht, vielleicht überträgt sich’s ja irgendwo hin, aber ich glaub eher nicht. Es ist mir auch nicht so wichtig, eigentlich. (vgl. Prokopf/Ziebertz 2000, 39)

      Claudia zermartert sich nicht das Hirn darüber, ob Gott existiert oder nicht, ob da einer ist, der sie hört, wenn sie betet, oder nicht. Aber sie hat in bestimmten Situationen ein offensichtlich starkes Bedürfnis nach diesem Akt einer externalisierten Selbstreflexion, nach einem „Besprechen des Lebens“ (Bitter 1986, 376f), das ihr das Gefühl gibt, nicht allein zu sein – und das sie mit einem gewissen religiösen Selbstbewusstsein eben „beten“ nennt.

      Auch das könnte man als eine Art „Frömmigkeit ohne Glauben“ (vgl. Kurzke/Wirion 2005) bezeichnen. Jedenfalls geht es Claudia nicht in erster Linie um die Wahrheit eines Glaubens, sondern um die Wirksamkeit eines Tuns – eines Tuns, das in mancher Hinsicht therapeutische Züge trägt, das von Claudia selbst aber in einen religiösen Interpretationszusammenhang hineingestellt wird. Gleichzeitig zeigt sich hier noch einmal eine deutlich andere Einstellung der Religion gegenüber als beim religionsfreundlichen Kulturchristentum. Denn was bei diesem im Vordergrund steht: der Respekt vor den kulturellen Folgen des europäischen Christentums bzw. die Auseinandersetzung mit dem, was Bolz die „objektive Religion“ nennt, spielt bei Claudia möglicherweise gar keine Rolle. Deren Religiositätstypus könnte man eher eine „persönliche Selbstvergewisserungsreligion“ nennen. Gleichwohl wird auch hier etwas Religiöses erkennbar, das jenseits kirchlich gelebten Glaubens lebendig ist. Aus meiner Sicht jedenfalls sind Claudia und all diejenigen, für die sie hier steht, nicht in einem Feld religiöser Ignoranz und Bedürfnislosigkeit anzusiedeln, sondern eben in der vielgestaltigen neuen Mitte intermediärer Religiositätsformate. Ich vermute: Auch Claudia würde auf Nachfrage sagen, sie halte sich für „religiös“ – aber eben nicht für „ziemlich“ oder gar „sehr“ religiös, sondern, wie 40 Prozent der westdeutschen Bevölkerung, für „mittel religiös“. (vgl. Bertelsmann Stiftung 2009, CD 37)

      Eine religionspädagogisch interessante Situation

      Der Schlüssel zum Verständnis der neuen religiösen Mitte ist meines Erachtens die Situation religiöser Pluralität und der von ihr ausgehende Relativierungsdruck. Die Bedingungen religiöser Pluralität haben das Bewusstsein einer letztlich unüberholbaren Kontingenz religiöser Optionen deutlich vor Augen geführt. Unter diesen schwierigen Umständen tendiert die Mehrheit zu intermediären Religiositätsformaten wie denen des „religionsfreundlichen Kulturchristentums“ oder der „persönlichen Selbstvergewisserungsreligion“. Die intermediären Religiositätsformate insgesamt sind, was den Bestand ihrer Überzeugungen anbelangt, hochgradig unbestimmt und, was den Stil ihrer religiösen Praxis angeht, sehr fluide. (vgl. auch Lüddeckens/Walthert 2010) Ich würde ihnen sogar jene Ausprägungen einer zugegebenermaßen „schwachen“ Religiosität noch zurechnen, deren Vertreterinnen und Vertreter

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