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Vernunft in der Wirklichkeit zu ignorieren und sich stattdessen ganz auf sich selbst zu konzentrieren. Man könnte mit Ratzinger „geradezu sagen, der tiefste Gehalt der Sünde sei es, dass der Mensch sein Geschöpf-Sein leugnen will, weil er die Tatsache, dass er ein Maß hat und eine Grenze hat, nicht annehmen will. Er will nicht Geschöpf sein, denn er will nicht gemessen sein, will nicht abhängig sein.“192

      Sünde bedeutet demnach für Ratzinger, dass der Mensch sich der Einsicht in seine eigene Geschöpflichkeit und seine Abhängigkeit vom Schöpfungslogos verschließt und die moralische Vernunft des Schöpfers nicht anerkennt. Damit emanzipiert er sich von der Idee eines objektiven Maßstabs in der Wirklichkeit, von der Idee einer objektiven Wahrheit des Seins. „Sünde ist, so wird nun deutlich, ihrem Wesen nach Absage an die Wahrheit. Der Mensch, der die Grenze nicht will, will nicht sein, der er ist, er bestreitet die Wahrheit.“193 Der Mensch lässt nur noch seinen Eigenwillen gelten und ignoriert den Willen Gottes, den er mittels seiner moralischen Vernunftfähigkeit, seines Gewissens, in der Wirklichkeit vorfindet.

      Theologisch führt Ratzinger diese Verschließung des Menschen vor dem Willen des Schöpfers auf die Ursünde zurück, die dem Menschen durch die Menschheitsgeschichte hindurch überliefert wird.194 Die moralische Vernunftfähigkeit des Menschen ist durch ihre Bindung an die Geschichte von der menschlichen Ursünde, von seiner geschichtlich ermöglichten Verschließung vor Gott, beeinträchtigt; sein Gewissen ist durch die Erbsünde abgestumpft.195 Dies ist der Grund, warum in den Traditionen der Menschheit nicht nur Einsichten in die moralische Wahrheit der Schöpfung, sondern auch die Sünde, also die Abkehr von ebendieser Wahrheit, überliefert wird. Diese Abkehr kann so weit gehen, dass die Schöpfung selbst „in die Seinslüge des Menschen hineinverstrickt“196 wird. Wie bereits im Zusammenhang der technischen Vernunft thematisiert, kann der Mensch so viel Einfluss auf die Natur nehmen, dass sie nicht mehr den Willen des Schöpfers ausdrückt, sondern nur noch den Eigenwillen des Menschen. „So nimmt sie am Sturz des Menschen teil“197 und ist in die Überlieferung der Sünde mit eingebunden.

      Zusammenfassend kann gesagt werden, dass nach Auffassung Ratzingers Traditionskritik notwendig ist, weil „keine Tradition unversehrte Gründung des Humanen ist, sondern jede auch infiziert ist von den Kräften des Antihumanen, die den Menschen an der Selbstwerdung hindern.“198 Dies heißt aber nicht, dass der Mensch sich ganz von jeglicher Tradition und Kultur frei machen sollte, selbst wenn er es könnte. Denn die „Traditionskritik findet ihre Grenze darin, dass der Mensch an die Wahrheit seines Wesens, an die geschaffene Schöpfung gebunden bleibt und sich nur finden kann, wenn er diese Wahrheit findet. Und das bedeutet, dass die Vernunft des Machens rückgebunden bleibt an die Vernunft des Vernehmens, die Tradition der Humanität.“199 Trotz aller Sündhaftigkeit des Menschen bleiben seine kulturellen und religiösen Traditionen laut Ratzinger immer auch Erkenntnisquellen der moralischen Vernunft des Schöpfers. „An ihnen vorbei zu denken und vorbei zu leben, wäre ein Hochmut, der den Menschen zuletzt ratlos und leer hinterlässt.“200 Wie das Gewissen das Gedächtnis der moralischen Vernunft des Schöpfers für den Einzelnen ist, so bilden die Traditionen nach Ratzinger das Gedächtnis der moralischen Vernunft für die Menschheit, von dem diese sich nicht abschneiden darf.

       2.4 Moralische Vernunft und Schöpfungsglaube

      Es wurde deutlich, dass Moral für Ratzinger zwar eine Vernunfteinsicht darstellt, diese Vernunfteinsicht aber im Unterschied zu seiner theoretischen Vernunftfähigkeit einer gewissen Öffnung des Menschen für die Vernunft des Schöpfers bedarf. Weil sie „Vernunft im höchsten Sinn“201 ist, die „tiefer in das eigentliche Geheimnis des Wirklichen vordringt als die experimentelle Vernunft“202, hat sie die Anerkennung der objektiven Vernunftstruktur der Wirklichkeit zur Voraussetzung. „Ob man aber dem Sein Vernunft zusprechen und seinen moralischen Zuspruch dechiffrieren kann, hängt mit dem Entscheid in der Gottesfrage untrennbar zusammen. Denn wenn es den Logos des Anfangs nicht gibt, dann kann es auch den Logos in den Dingen nicht geben.“203

      So tritt hier die innere Verschränkung der Annahme eines metaphysischen Vernunftprinzips mit dem Glauben an den Schöpfer bei Ratzinger deutlich hervor: Die Anerkennung des Primats des Logos in der Wirklichkeit ist für ihn gleichbedeutend mit dem Glauben an Gott als Schöpfer. Moralische Vernunft ist deshalb für Ratzinger eine „am Schöpfungsglauben orientierte Vernunft“204: Die von ihm geforderte ‚Öffnung‘ des Menschen entpuppt sich als implizite Anerkennung des Schöpfungsgedankens.205 Denn wenn der Mensch in seinem moralischen Handeln auf Werte zurückgreift, die er in der Wirklichkeit vorfindet, muss er implizit eine schöpferische Vernunft in der Wirklichkeit voraussetzen, auf welche die Existenz dieser Werte zurückzuführen ist. Das ‚Bild Gottes‘ kann man im anderen Menschen laut Ratzinger nur „mit dem neuen Sehen des Glaubens“206 erblicken.

      Moralisches Vernunftvermögen des Menschen und Schöpfungsglaube richten sich nach Ansicht Ratzingers also auf ein und dieselbe übergeschichtliche Wahrheit. Finde ich mittels meiner moralischen Vernunft im Gewissen und in der Natur immer gültige Werte und moralische Wahrheit, kann mir das helfen, den Schöpfungsglauben anzunehmen und einen personalen Schöpfer als Ursprung dieser kosmischen Wahrheit anzuerkennen. „Denn die Natur ist nicht, wie ein totaler Szientismus behauptet, eine vom Zufall und seinen Spielregeln aufgebaute Montage, sondern sie ist Schöpfung. In ihr drückt sich der Creator Spiritus aus.“207 Glaube ich umgekehrt an Gott als Schöpfer, sagt dieser Glaube auch meiner moralischen Vernunft etwas. „Der christliche Glaube, der uns hilft, die Schöpfung als Schöpfung zu erkennen, ist nicht eine Lähmung der Vernunft; er gibt der praktischen Vernunft den Lebensraum, in dem sie sich entfalten kann.“208

      Daher ist für Ratzinger auch die Morallehre der Kirche, die auf dem Schöpfungsgedanken fußt, nicht etwa eine „Speziallast für Christen, sondern die Verteidigung des Menschen gegen den Versuch seiner Abschaffung.“209 Sie weist den Menschen auf eine Wahrheit hin, die er auch mittels seiner Vernunft einzusehen vermag. Leugnet der Mensch diese Wahrheit, so hat das nach Ansicht Ratzingers schwerwiegende Konsequenzen für sein Selbstverständnis. Denn dann beschränkt der Mensch seine Vernunft allein „auf die Wahrnehmung des Quantitativen“210, sodass er sich selbst und die Welt nur noch nach Maßstäben der naturwissenschaftlichen Vernunft begreifen kann. Ein Verweischarakter der Dinge auf eine an ihnen erkennbare kosmische Vernunft kommt nicht mehr in den Blick.

      Dies führt z.B. dazu, dass der Leib des Menschen „zum bloßen Körper, zur bloßen Sache wird: Sein Ausschluss aus dem Bereich des Sittlichen, der geistigen Verantwortung ist zugleich sein Ausschluss aus dem Menschlichen des Menschen, aus der Würde des Geistes.“211 Leiblichkeit und Geistigkeit des Menschen bilden keine Einheit mehr; der Leib wird nur noch funktional betrachtet, ihm selbst kommt keine geistige Würde mehr zu: „Um ihn richtig, ungehemmt, in Besitz nehmen zu können, wird er aus der Sphäre sittlicher Verantwortung ausgeschieden, zur reinen Sache gemacht, die man abseits der eigentlich menschlichen Verpflichtungen und Beziehungen benützen kann.“212 Dieser ‚neue Dualismus‘ führt nach Ratzinger z.B. zur Verwischung und Unterdrückung des Geschlechtsunterschieds213 und zur körperlichen Vereinseitigung der Liebe und Sexualität: Der „zum ‚Sex‘ degradierte Eros wird zur Ware, zur bloßen ‚Sache‘; man kann ihn kaufen und verkaufen, ja, der Mensch wird dabei selbst zur Ware.“214 Eine solche Weltsicht einer reinen naturwissenschaftlichen Kausalität hat keinen Platz für Personalität, Freiheit und Liebe.215 Die Natur – und mit ihr der Mensch – wird auf die reine biologische Ordnung reduziert, während die ihr vom Schöpfungslogos eingeschriebene moralische Ordnung nicht mehr in den Blick kommt.

      Im Hören auf den Schöpfungsglauben hingegen kann die moralische Vernunft nach Ansicht Ratzingers ihren Bezug zum Logos des Schöpfers wiedergewinnen und sich so über ein rein materiales Verständnis von Wirklichkeit hinausführen lassen. Denn nach christlichem Schöpfungsverständnis kommt die Welt aus dem Logos Gottes und trägt Vernunft in sich, „und zwar nicht nur eine mathematische Vernunft – niemand kann leugnen, dass die Welt mathematisch strukturiert ist –, also eine ganz neutrale, sachhafte Vernunft, sondern als Logos auch eine moralische Vernunft.“216

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