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Werte wieder für das geordnete Leben in der Gemeinschaft fruchtbar machen. Diese geschichtliche und traditionsorientierte Ausrichtung des Platonischen wird dort Ratzinger zufolge völlig verkannt, wo Platon „als individualistischer und dualistischer Denker eingestuft wird, der das Irdische verneint und die Menschen zur Flucht ins Jenseits anleitet.“166 Im Gegensatz zum Deutschen Idealismus wird der platonischen Philosophie von Ratzinger also eine angemessene Geschichtsbezogenheit bescheinigt.

      Ratzinger ist nun allerdings weit davon entfernt, moralische Vernunft in Geschichte aufzulösen bzw. ihre Erkenntnis ganz auf den inneren Raum der geschichtlichen Wirklichkeit zu beschränken. Geschichtliche Tradition ist zwar der Ort, an dem sich moralische Vernunft in menschlicher Gemeinschaft bewährt und sich das Organ des menschlichen moralischen Vernunftvermögens auf diese Weise ausbildet; die moralische Wahrheit, auf die die Vernunft des Menschen dabei Bezug nimmt und die in den menschlichen Kulturen tradiert wird, ist aber keine geschichtlich erfundene, sondern eine geschichtlich gefundene Wahrheit: Die tradierte Wahrheit transzendiert die Geschichte selbst.167 Es handelt sich dabei um die übergeschichtliche moralische Wahrheit des Logos Gottes, die der Mensch in seinem Gewissen und mittels der moralischen Weisung der Natur erfassen kann.168

      Genau diese moralische Wahrheit ist es, auf die sich der Mensch in seiner geschichtlich verfassten moralischen Vernunft beziehen kann und die sich dann in geschichtlichen Zusammenhängen bewähren muss. Laut Ratzinger ist uns das Wissen um diese moralische Wahrheit heute in den großen Traditionen der Menschheit erhalten geblieben. Denn „nahezu der ganzen vormodernen Menschheit“ war seiner Ansicht nach die Überzeugung gemeinsam, „dass im Sein des Menschen ein Sollen liegt; die Überzeugung, dass er Moral nicht selbst aus Zweckmäßigkeitsberechnungen erfindet, sondern im Wesen der Dinge vorfindet.“169 Zwar gibt es bezüglich dieses Wissens der Kulturen Unterschiede im Detail, „aber viel stärker als die Unterschiede ist das große Gemeinsame, das sich als Urevidenz menschlichen Lebens darstellt: die Lehre von objektiven Werten, die sich im Sein der Welt aussagen; der Glaube, dass es Haltungen gibt, die der Botschaft des Alls entsprechend wahr und darum gut sind und dass ebenso andere Haltungen, weil dem Sein widersprechend, wirklich und immer falsch sind.“170

      Ratzinger richtet sich damit gegen die Auffassung eines Kulturrelativismus, der die moralischen Aussagen unterschiedlicher Kulturen als miteinander unvereinbar versteht. Dem neuzeitlichen Menschen wird seiner Ansicht nach eingeredet, „dass all dies menschliche Erfindungen seien, deren Ungereimtheiten wir nun endlich durchschauen und durch vernünftige Erkenntnis ersetzen könnten.“171 Eine solche Diagnose aber ist für Ratzinger extrem oberflächlich.172 Tatsächlich ist es seiner Ansicht nach so, „dass die Grundintuition über den moralischen Charakter des Seins selbst und über den notwendigen Zusammenklang des menschlichen Wesens mit der Botschaft der Natur allen großen Kulturen gemeinsam ist und dass daher auch die großen moralischen Imperative gemeinsam sind.“173 In den großen kulturellen Traditionen der Menschheit werden Ratzinger zufolge also nicht etwa ausschließlich zufällig geschichtlich entstandene Wertvorstellungen überliefert, sondern ein immer gleiches Wissen, das das rein Innergeschichtliche übersteigt, weil es sich auf die übergeschichtliche Wahrheit der moralischen Vernunft der Wirklichkeit bezieht, ermöglicht durch die „Transparenz der Schöpfung, die ihre Weisungen durchscheinen lässt.“174

       2.3.3. Die speziellen Traditionen

      Diese moralische Vernunft des Seins, deren Wissen die vormodernen menschlichen Kulturen nach Auffassung Ratzingers teilen, wird in diesen Kulturen mit verschiedenen Namen bezeichnet. Die chinesische Tradition spricht dabei vom ‚Tao‘, das „kosmisches wie sittliches Gesetz [ist; H. N.]. Es verbürgt die Harmonie von Himmel und Erde und so auch die Harmonie des politischen gesellschaftlichen Lebens.“175 Vergleichbar damit ist der indische Begriff des ‚Dharma‘, „das ebenso kosmische wie ethische und soziale Ordnung bedeutet, der der Mensch sich einfügen muss, damit das Leben recht werde.“176 Ratzinger nennt auch „das moralische Erbe der Griechen, wie es besonders von Platon, Aristoteles und der Stoa artikuliert wurde, die den Menschen zum Vernehmen der Vernunft des Seins hinführen wollen“177. Für das Christentum ist die moralische Vernunft der Natur unmittelbar mit dem Schöpfungsgedanken verknüpft. Es ist der Logos des Schöpfers, welcher der Wirklichkeit ihre Struktur gibt und auf den der Mensch mittels seines moralischen Vernunftvermögens Bezug nehmen kann.178

      In der jüdischen Tradition manifestiert sich die moralische Vernunft laut Ratzinger in herausragender Weise in den Zehn Geboten, „in denen Israel und die Christenheit mit den Ältesten und reinsten Traditionen der ganzen Menschheit kommunizieren.“179 Der Dekalog ist seiner Auffassung nach also nicht etwa ein „Sonderbesitz der Christen oder der Juden. Er ist ein höchster Ausdruck moralischer Vernunft, der sich als solcher weithin auch mit der Weisheit der anderen großen Kulturen trifft.“180 In ihm ist gleichzeitig auch „der wesentliche Kern dessen grundgelegt, was die Neuzeit unter dem Begriff der Menschenrechte formuliert hat“181. Auch diese sind für Ratzinger also keineswegs gegen, sondern ganz im Gegenteil im Anschluss an das moralische Wissen der Traditionen formuliert worden. Sie sind nicht verständlich ohne das durch die Traditionen vermittelte Wissen der moralischen Wahrheit des Seins, ohne die Voraussetzung, „dass der Mensch als Mensch, einfach durch seine Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, Subjekt von Rechten ist, dass sein Sein selbst Werte und Normen in sich trägt, die zu finden, aber nicht zu erfinden sind.“182

       2.3.4. Geschichtliche Verdunkelung der moralischen Vernunft

      Auch wenn moralische Vernunft nach Ansicht Ratzingers nicht unabhängig von Geschichte und Tradition bestimmt werden kann, so sind diese für ihn nun aber nicht automatisch Träger moralischer Vernunft. Sie können im Gegenteil moralische Vernunft auch verdecken und entstellen. Denn „Tradition, deren Wesen es ist, Humanität zu begründen, ist allenthalben auch mit dem vermischt, was den Menschen entmenschlicht.“183 Die Geschichte und mit ihr die Tradition, auf die der Mensch, wie gesehen, in seinem Menschsein notwendig angewiesen ist und ohne deren Zusammenhang er nicht gedacht werden kann, birgt immer auch die Gefahr, ihn von der moralischen Wahrheit des Seins zu entfremden. Ratzinger bezeichnet dies als die „eigentliche Tragödie des Menschen. Man muss Tradition festhalten, um überhaupt den Menschen festzuhalten, aber man hält unweigerlich mit ihr immer auch die Kraft der Entfremdung fest.“184 Denn es kann seiner Ansicht nach „zwar auf Dauer keine Gesellschaft geben, die sozusagen nur vom Negativen, vom Bösen lebt. Eine Gemeinschaft, die überleben will, muss bis zu einem gewissen Grad immer wieder auf die Urtugenden, auf die grundlegenden Maßformen des Menschseins zurückkommen.“185 Dennoch können trotz dieser grundlegenden Ausrichtung an moralischen Grundwerten „wichtige Lebenszonen einer Gesellschaft verderbt sein, sodass geltende Sitte den Menschen nicht führt, sondern verführt.“186

      Folglich kann der Mensch sich nur in begrenztem Maße auf die ihm überlieferte geschichtliche Erfahrung verlassen, was ihre moralische Vernünftigkeit angeht. Denn gerade ihr geschichtlicher Charakter impliziert die Fehlbarkeit menschlicher Vernunft: Sie ist eben nicht „absolut wie die Vernunft Gottes“, sondern gehört „einem Wesen, das in geschichtlichen Entfremdungen steht, die das Sehvermögen der Vernunft beeinträchtigen.“187 Es ist also nicht die moralische Vernunft des Schöpfers, die fehlgeht, sondern das Vernunftvermögen des Menschen, das aufgrund seiner geschichtlichen Verfasstheit Schwierigkeiten hat, der Vernunft des Schöpfers nachzudenken: Es ist „seine Geschichte, die ihn von der Schöpfung trennt“188 und aufgrund der er die „Stimme des Logos nur gebrochen … vernehmen“189 kann. Denn die Geschichtlichkeit ist es ja, die dem Menschen einen Freiheitsraum ermöglicht, in dem er sich der Vernunft des Seins ebenso öffnen wie auch verschließen kann.

      In diesem durch seine Geschichtlichkeit ermöglichten Sich-Verschließen des Menschen gegenüber der moralischen Vernunft der Natur erzeugt der Mensch nach Meinung Ratzingers eine gegen die Schöpfungsbotschaft gerichtete Gegenbewegung, „die durch die Sünde in der Welt ist“190 und „in der er sich gewissermaßen gegen Gott seine eigene Welt zu bauen versucht.“191

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