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Logos Gottes und Logos des Menschen. Heiko Nüllmann
Читать онлайн.Название Logos Gottes und Logos des Menschen
Год выпуска 0
isbn 9783429060589
Автор произведения Heiko Nüllmann
Жанр Документальная литература
Серия Bonner dogmatische Studien
Издательство Bookwire
Auch hier zeigt sich also wieder der Primat der Geschichte vor der geschichtslosen Ontologie eines Naturrechts. Eine solche Ontologie aber kommt für Ratzinger trotzdem auch bei Bonaventura zum Vorschein, denn der franziskanische Lehrer kennt neben der Betrachtung der Natur ‚von unten‘ auch eine Betrachtungsweise ‚von oben‘: „Betrachtet man aber die Natur von ihrem wahren Bezugspunkt, von Gott her, so zeigt sich, dass im Letzten alle Natur ‚Gnade‘ ist … Die ganze Natur ist in ihrer innersten Tiefe Ausfluss eines Willens, ist voluntarisch strukturiert von dem schöpferischen Urwillen her, dem allein sie ihren Bestand verdankt.“22 Der Schöpfungsgedanke und mit ihm der Gedanke der Schöpfungsordnung werden hier also ganz eng mit dem freiheitlichen Gnadenhandeln Gottes in Verbindung gebracht.23
So kann Ratzinger sagen, dass für Bonaventura Natur von einer doppelten Freiheit umgriffen ist: „von der Freiheit Gottes und der eigenen Freiheit des Menschen.“24 Dies impliziert ihre Einbindung in die Geschichte des Menschen mit Gott, der ihn ruft und dessen Ruf er sich immer wieder verschließt, weil er „den Aufbruch über sich hinaus scheut und so gerade sich selbst verfehlt.“25
Auf ein ähnliches Bild stößt Ratzinger in der paulinischen Theologie. Paulus gebraucht den Naturbegriff einerseits in Bezug auf das Abstammungsmerkmal Jude – Nicht-Jude, andererseits wendet er am Anfang des Römerbriefs einen Naturbegriff an, der ihm nach Ratzinger „offensichtlich aus der stoischen Popularphilosophie zukam, also Natur nicht im Sinne einer blutsmäßig-biologischen Größe, sondern im Sinne einer rational gefassten Wesensstruktur verstand.“26 Den Nicht-Juden, die das jüdische Gesetz nicht kennen, gibt nach diesen Gedanken des Paulus die metaphysisch verfasste Natur das Gesetz ein (vgl. Röm 2,14). Ratzinger weist hier aber darauf hin, dass in den konkreten Anwendungen dieses Gesetzes bei Paulus „der biologische Einschlag in den metaphysischen Begriff sehr stark ist: Eine konkrete biologische Gegebenheit bietet Wegweisung.“27 Er führt als Beispiele Röm 1,26, wo Paulus sich auf den widernatürlichen sexuellen Verkehr bezieht, sowie 1 Kor 11,14 an, wo der Apostel betont, schon die Natur lehre es, dass der Mann kurze, die Frau aber lange Haare tragen müsse.
Neben dieser positiven metaphysisch-biologischen Bestimmung von Natur findet sich bei Paulus aber natürlich auch die theologische Sichtweise einer auf die Gnade Gottes angewiesenen, verderbten Natur des Menschen: Ob Jude oder Nicht-Jude, „das bloß naturale Dasein ist in jedem Falle heillos.“28 Dies ist so, weil die Natur „nicht unmittelbar von Gott auf den Menschen zukommt, sondern geprägt und verunstaltet ist durch eine lange menschliche Vorgeschichte, die auf ihr liegt.“29 So findet nach Paulus der Mensch die Erfüllung seines Lebens eben nicht im reinen Hören auf seine Natur, sondern im Gegenteil nur in der Begegnung mit Christus im Glauben. Die Natur kann für Paulus zwar „sehr wohl das Zeichen des Schöpfers sein, aber sie ist es nicht ungetrübt, weil sie auch Ausdruck der Eigenmächtigkeit des Menschen ist. Wiederum finden wir, wie bei Bonaventura, die Natur des Menschen im Spannungsfeld zwischen zwei Freiheiten, Gottes und des Menschen.“30
Beide Positionen zu einer Synthese zusammenführend kann Ratzinger nun sagen, dass einerseits die Schöpfungsordnung in keinem Menschen ganz erloschen ist und sich ins konkrete Dasein des Menschen hinein auswirkt.31 Es gibt also „so etwas wie den gesunden Menschenverstand, in dem sich das Bewusstsein der verbliebenen Schöpfungsordnung meldet, von dem sich der Mensch immer wieder korrigieren und auf den Boden der Wirklichkeit zurückrufen lassen soll.“32 Andererseits ist diese Schöpfungsbezogenheit des Menschen, die man als seine erste und ursprüngliche Natur bezeichnen kann, überdeckt von seiner sündigen Geschichte. „Der Mensch hat sich selber eine zweite Natur zugelegt, deren Kern die Ichverfallenheit – die concupiscentia – ist.“33 Die göttliche Gnade kann deshalb für den Menschen nur eins bedeuten, nämlich das Aufbrechen dieser zweiten Natur, „das Aufbrechen der harten Schale der Selbstherrlichkeit, welche die Gottesherrlichkeit in ihm überdeckt.“34
Dieses Motiv des ‚Aufbrechens‘ der Ichbezogenheit des Menschen ist für Ratzinger im Symbol des Kreuzes ausgedrückt. Denn „erst die Menschlichkeit, die durch das Kreuz hindurchgegangen ist, bringt den wahren Menschen ans Licht.“35 Doch diese durch das Kreuz markierte Umkehr ist für Ratzinger nichts dem menschlichen Wesen Fremdes, sondern entspricht zutiefst seiner geistigen Natur. Denn wie bei Bonaventura gesehen, besteht die Natur des menschlichen Geistes ja gerade darin, „über alle ‚Natur‘ hinauszusein, in der Selbstüberschreitung zu stehen. Es ist dem Geist wesentlich, sich nicht selbst zu genügen, den Richtungspfeil über sich hinaus in sich zu tragen.“36 Dies aber bedeutet, dass das ‚Aufbrechen‘ der sündigen Ichverfallenheit des Menschen durch das Kreuz gerade seine „wahre Heilung“ ist, „die ihn vor der trügerischen Selbstgenügsamkeit rettet, in der er nur sich selbst verlieren, die unendliche Verheißung, die in ihm liegt, versäumen kann um des spießigen Linsenmuses seiner vermeintlichen Natürlichkeit willen.“37 Durch die geschichtliche Gnadentat Gottes wird der Mensch von seiner verderbten Natur weg- und zu seiner wahren, schöpfungsgemäßen Natur hingeführt.
Diese Argumentationsstruktur Ratzingers lässt drei Pole erkennen, die für ihn in Bezug auf die Rede von Natur und Naturrecht wichtig sind: erstens die Natur als Ausdruck des Willens Gottes und somit als ursprüngliche Schöpfungsordnung; zweitens die Natur als Ausdruck des Willens des Menschen, als seine geistige Natur und somit als geschichtlich bedingte und damit auch durch die menschliche Sünde entstellte Natur; drittens Gottes geschichtliches Heilshandeln an der entstellten Natur des Menschen, das ihn sozusagen zu einer ‚Umkehr‘ in seine wahre schöpfungsgemäße Natur herausfordert. Kurz könnte man diese drei Pole unter den Stichworten Ontologie, Geschichte und Glaube zusammenfassen.
Wie an den analysierten Ausführungen Ratzingers gut zu sehen war, setzt er in diesen frühen Veröffentlichungen einen starken Akzent auf Geschichte und Glaube, um sich vom zu sehr ontologisch geprägten neuscholastischen Naturrechtsbegriff abzugrenzen. Der ontologische Pol taucht in seinen Argumentationen nur sehr am Rande auf, wenn er vom ‚gesunden Menschenverstand‘ spricht, der sich auf die verbliebene Schöpfungsordnung bezieht. Weitaus wichtiger ist ihm der Bezug des Glaubens an die göttliche Gnade auf die Geschichte des Menschen, wie es dann zwei Jahre später auch sein Aufsatz über die Soziallehre der Kirche herausstellt, in dem die Ontologie fast völlig in Geschichte aufgelöst wird.
Die Kritik Ratzingers an der ontologischen Naturrechtsidee bezieht sich dabei, wie gesehen, einerseits auf die Verankerung von Glaubensaussagen im Naturrecht, die dort seiner Ansicht nach nicht hingehören; andererseits scheint ihm hier ein Begriff von Natur vorzuliegen, der sich zu stark am Biologischen orientiert. Wie sich besonders bei seinem Hinweis auf die paulinischen Anwendungen von Röm 2,14 zeigt, scheint ihm gerade der Bezug des Naturrechts auf die stoische Philosophie Normen zu sehr aus einem noch sehr stark biologisch geprägten Naturbegriff ableiten zu wollen. „Die Grundeinstellung des stoischen Ethos darf man, unbeschadet seiner geistigen Höhe, insofern als Naturalismus bezeichnen, als die Stoa in der durchgotteten Natur zugleich das wegweisende Wirken des Logos, des allwaltenden göttlichen Sinnes fand. Demgemäß erschien ihr als die umfassende Norm des Ethos das ‚kata physin‘, die Naturgemäßheit.“38
2.1.2. Die moralische ‚Vernunft der Natur‘
Aus der Kritik Ratzingers am Naturrechtsgedanken lässt sich nun allerdings keine Abkehr vom moralisch-ontologischen Denken ableiten. Zwar betont er, wie gesehen, im Zuge dieser Kritik besonders die historische Verfasstheit des Menschen und scheint in seinem Aufsatz von 1964 die Ontologie sogar fast in Geschichte aufzulösen. Dies geschieht aber offensichtlich nur im Zuge der Polemik gegen ein sich von aller Tradition und Geschichtlichkeit befreiendes naturrechtliches Denken, da er sofort wieder betont, dass es „das alle Menschen umgreifende Rechte“39 gibt. Wie schon festgestellt, bewegt sich das Denken Ratzingers in Bezug auf die moralischen Einsichten des Menschen