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Von der Formel zum Sein. Raymond Jahae
Читать онлайн.Название Von der Formel zum Sein
Год выпуска 0
isbn 9783429063689
Автор произведения Raymond Jahae
Жанр Документальная литература
Серия Religion in der Moderne
Издательство Bookwire
Der Unterschied zwischen der heidnischen philosophischen und der christlichen Sicht der Wirklichkeit ist verbunden mit einem Unterschied in der Sicht der Bestimmung des Menschen und der Weise, sie zu erreichen. Für die griechische Philosophie wird die Bestimmung des Menschen von der Ordnung der Wesensbestimmungen der Dinge her und besonders von seinem eigenen Wesen her bestimmt, und er kann und muß seine Bestimmung durch ein entsprechendes, angemessenes Leben erreichen. Für das Christentum hingegen ist die menschliche Bestimmung nicht einfach fixiert durch das menschliche „Wesen“ oder die menschliche „Natur“ (im ontologischen Sinn des Wortes). Gott kann kraft Seiner Freiheit dem Menschen unerwartet mehr geben als das, was er aufgrund der Wesensordnung der Dinge und besonders seines eigenen Wesens erwarten kann. Das ist in der Tat ein Kerngehalt des christlichen Glaubens: Gott wurde Mensch, auf daß der Mensch Gott werde. Das Wesen des Menschen mag in ihm die Hoffnung auf Vergöttlichung wecken, aber mitnichten die Erwartung derselben. Er kann insofern seine Vergöttlichung erhoffen, als er sich für transzendente Erfüllung offen weiß. Schließlich findet er im Endlichen ja keine Erfüllung, da es ihm nicht das Gute als solches verschafft. Er darf seine Vergöttlichung jedoch insofern nicht erwarten, als er sie nicht aus eigener Kraft erreichen kann. Er kann nur durch die Gnade Gottes Erfüllung finden. Das bedeutet nicht, daß das menschliche Leben ohne die Gnade der Vergöttlichung schlechterdings sinnlos wäre. Als solches ist das menschliche Leben sinnvoll51. Von den vorchristlichen griechischen Denkern ist Platon wahrscheinlich derjenige, der der christlichen Perspektive aufs menschliche Leben am nächsten kommt. Er erkennt, daß das Gute als solches, und folglich die menschliche Bestimmung – das Leben der Seele –, das Dasein in der Welt transzendiert. Für Platon aber ist das Erreichen der menschlichen Bestimmung keine Sache der Gnade. Der Mensch soll sich der transzendenten Identität der Seele bewußt werden und dementsprechend leben, auf daß sie zu ihrem Vaterland finde. Ein wichtiger Unterschied zwischen der platonischen und der christlichen Konzeption besteht darin, daß für diese anders als für jene der Mensch dem irdischen Leben nicht zu entfliehen braucht, um des Göttlichen teilhaft zu werden, weil die Bestimmung des Menschen die Liebe ist und er Liebe bereits auf Erden finden kann. Gott ist Liebe, und Er hat Sich in der Geschichte als Liebe manifestiert52. Die starke Betonung der Bedeutung der göttlichen und der menschliche Freiheit und folglich der göttlichen Gnade für das Heil im Christentum entspricht der Tatsache, daß es die Liebe als das Herz des Heils identifiziert. Diese Identifikation ist der Philosophie fremd – sogar Platon, der immerhin die Idee des Guten als die höchste Idee identifiziert.
Trotz der Mängel, die das Christentum in der Philosophie erblickte, suchte es ein ernsthaftes Gespräch mit ihr. J. Ratzinger sucht die Erklärung dieses Phänomens darin, daß beide, Christentum und Philosophie, auf der Suche sind nach der Wahrheit, die durch rationales Denken entdeckt werden soll. Er behauptet sogar, daß das Christentum aus der Verbindung des Judentums mit der griechischen Philosophie gewachsen sei. Es wird jedenfalls auf breiter Ebene anerkannt, daß das Christentum viel von sich selbst wiedererkannte im Platonismus mit dessen Nachdruck auf die transzendente Idee des Guten. Nach den Hinweisen H. Rombachs können wir sagen, daß sowohl die antike Philosophie als auch das Christentum das Sein im Sinne dessen, was für den Menschen wesentlich ist, suchen. Es ist nicht einzusehen, wie man redlich behaupten kann, daß das Christentum die Denkform von der Philosophie (oder den Philosophien) des Griechentums bzw. Hellenismus übernommen habe, obwohl dem Christentum diese Denkform zutiefst fremd war. Es hat vielmehr den Anschein, daß das Christentum die Denkform der griechischen Philosophie als ein veritables Movens in sich einbegreift, bzw. diese Denkform den existentiellen und konzeptuellen Horizont der ganzen hellenistischen Welt, die das Judentum in den Jahrhunderten um den Beginn unserer Zeitrechnung und damit auch die Geburtsstätte des Christentums umfaßte, ausmachte.
Für diese Denkform nimmt die archimedische Naturwissenschaft – die die moderne und heutige Naturwissenschaft antizipiert – natürlich nur einen marginalen Platz im Ganzen des Denkens und Wissens ein. Die Vorsokratiker, besonders die ionischen Naturphilosophen, sind am Materiellen interessiert, aber genau insofern, als in ihm die arché, das Prinzip – das Bleibende oder Wesentliche – alles dessen, was ist, vermutet wird. Die Vorsokratiker sind weniger an der spezifischen Natur der Verhältnisse zwischen bestimmten Phänomenen interessiert. Der Platonismus bestreitet sogar, daß die materielle Welt der Gegenstand von Erkenntnis im strengen Sinne des Wortes sein könne. Erkenntnis ist Erkenntnis dessen, was ist im Sinne dessen, was bleibt; und was bleibt, ist nichts Materielles, sondern die Welt der Ideen. Anders als der Platonismus hält der Aristotelismus das Materielle für erkennbar, aber er faßt die Naturerkenntnis nicht primär im Sinne der archimedischen oder modernen Naturwissenschaft auf. Denn die Aspekte des materiellen Seienden und ihre gegenseitigen Verhältnisse, die die archimedische und die moderne Naturwissenschaft untersuchen – Zeit, Ort, Gewicht, Volumen, Bewegung usw. –, sind akzidentell und haben eine nur marginale Beziehung zur Substanz eines Dinges. Die Substanz wird durch die Form erfaßt. Es verdankt sich dem Wesen oder der Natur der Substanz, daß wir wissen, was Substanz als sie selbst ist. Die Mathematik spielt insofern keine Rolle in dieser Art von Erkenntnis, als das Wesen einer Substanz – das, was sie ist – qualitativer Natur und somit für mathematische Berechnung nicht offen ist. Der Aristotelismus behält jedoch im Ganzen der Erkenntnis einen Platz für die mathematische Naturwissenschaft im Stile Archimedes’. Es ist aber ein marginaler Platz. Schließlich studiert die mathematische Naturwissenschaft bloß einige Akzidenzien des materiellen Seienden. Für den Aristotelismus ist Erkenntnis wirklich Erkenntnis der Substanz durch ihr Wesen, ihre Form oder Natur. Grundsätzlich beabsichtigt die Naturwissenschaft, wie sie Archimedes und Galilei entwickeln, nicht so sehr die Formen von Substanzen als vielmehr die quantitativen Beziehungen zwischen quantitativen und/oder quantifizierbaren Aspekten – wie Gewicht bzw. Masse, Volumen und Ort – von Entitäten, deren Form, Wesen oder Natur – das, was sie sind – im Prinzip unerheblich ist, zu erfassen. Die aristotelisch inspirierte Idee von Wesenserkenntnis spielt aber eine Rolle für die Naturwissenschaft im Stile Archimedes’ und Galileis, wenngleich nicht unbedingt explizit. Denn diese Art von Naturwissenschaft kann nicht darauf verzichten, etwas als das, was es ist, zu erfassen und