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die Physik, als die Höchst- und Idealform von Erkenntnis überhaupt zu betrachten, aber epistemologisch werden wir Popper recht geben müssen, wenn er sagt, daß im Prinzip jede wissenschaftliche Aussage falsifizierbar ist und die Wissenschaft demnach keine endgültige Gewißheit bzgl. der materiellen Welt erreicht. Auch für die Naturwissenschaft hat die materielle Welt etwas Undurchsichtiges.

      Zurückblickend auf das, was wir vom voraristotelischen griechischen philosophischen Denken über die Natur gesehen haben, kann man sagen, daß verschiedene Denkformen entdeckt worden sind. Menschen denken unterschiedlich über die Natur. Ein Grund dafür ist, daß sie unterschiedliche Arten von Fragen über die Natur stellen. Die Milesier versuchten, ein (quasi)physikalisches Prinzip all dessen, was es gibt, auszumachen. Wir können sagen, daß ihre Unternehmung wiederaufgenommen wird von jenen zeitgenössischen Physikern, die eine wissenschaftliche „Theorie von allem“ (theory of everything, ToE), die alles, was wir wahrnehmen, erklärt, suchen. Ebenso antizipiert der Versuch der Milesier, ein umfassendes Weltbild aufgrund empirischer Erkenntnis und rationalen Denkens zu entwickeln, die zeitgenössische wissenschaftliche Kosmologie. Die heutige Naturwissenschaft zeigt weniger Affinität mit dem Denken Heraklits, Parmenides’ und Demokrits. Sie sind weniger interessiert an der konkreten materiellen Welt als an formalen Aspekten der Wirklichkeit als solcher, wie Werden und Sein, wie Differenz und Identität. Das Denken Heraklits, Parmenides’ und Demokrits ist mehr philosophisch orientiert als das Denken der Milesier. Mehr als diese stellen jene Fragen, die die Philosophie bis heute beschäftigen. Es ist wichtig, zwischen einem philosophischen und einem wissenschaftlichen Diskurs über die Natur zu unterscheiden. Mit A. van Melsen kann man sagen, daß die Naturwissenschaft auf die Beschreibung und Erklärung konkreter und somit partikularer Fakten und Ereignisse (oder die Beschreibung und Erklärung von „Spezies“ konkreter Fakten und Ereignisse) abzielt, während die Philosophie das, was der Natur als solcher, notwendigerweise, zugeschrieben werden muß, untersucht21. In der frühen Philosophie nehmen die Pythagoreer insofern einen besonderen Platz ein, als ihr Auftreten den Durchbruch des Bewußtseins, daß die Natur mathematisch beschrieben werden kann, markiert. Es ist eine entscheidende Voraussetzung der modernen Physik. Platon ist weniger an Fragen der Kosmologie, der Naturphilosophie und der Naturwissenschaft interessiert als an ontologischen, anthropologischen und ethischen Problemen. Für ihn ist das Materielle ontologisch zweitrangig, und ihm kann somit nicht das primäre Interesse des Menschen gelten.

      Alles in allem sehen wir im voraristotelischen griechischen Denken wenig Naturwissenschaft im heutigen Sinne des Wortes, d.h. im Sinne des Versuchs, ausgehend von konkreten physikalischen Ereignissen und Fakten, die physikalischen Antezedenzien, die zu ihnen führten und sie „erklärten“, aufzuspüren. Das entspricht der Tatsache, daß die fraglichen Denker primär am Wesen der Wirklichkeit und der Dinge interessiert sind, also an der Frage, was Dinge „an sich“ oder „als solche“ sind. Manche Denker berühren nichtsdestotrotz einige formale Aspekte moderner Naturwissenschaft. Wir denken besonders an die Versuche der Milesier und Demokrits, das Komplexe aufs Einfache zurückzuführen, und an das Bewußtsein der Pythagoreer vom mathematischen Aspekt der Natur.

      Als Galilei die moderne Naturwissenschaft entwickelte, nahm er ausdrücklich Abstand von der aristotelischen Naturerkenntnis. In den nächsten Jahrhunderten nahm die Beliebtheit der ersteren stetig zu, während die der letzteren proportional dazu abnahm. Es mag sein, daß die moderne Physik die aristotelische in einigen wichtigen Punkten korrigierte; aber es ist nicht so, daß die moderne Physik die aristotelische Naturphilosophie und ihre charakteristischen Denkmuster zur Gänze als wesentlich falsch entlarvte. Tatsächlich verkörpern die moderne Physik und die aristotelische Naturphilosophie zwei grundverschiedene Denkformen. Eben wegen dieser grundsätzlichen Heterogenität brauchen die beiden einander nicht auszuschließen; es ist durchaus möglich, daß sie im Prinzip beide legitim sind. Das korrekte Verständnis des Aristotelismus ist für unsere Untersuchung jedenfalls unabdingbar. Es hilft uns nicht nur, uns der besonderen Merkmale der modernen Naturwissenschaft zu vergewissern, sondern auch, die Beziehung zwischen moderner Wissenschaft und Theologie zu klären. Denn schließlich hat die Theologie – besonders im Thomismus – vom Aristotelismus charakteristische Denkmuster übernommen.

      Aristoteles unterscheidet zwischen der Substanz, die in sich selber steht, und dem Akzidenz, das nicht in sich selbst, sondern in etwas anderem ist. Die Substanz zeichnet sich durch „substanzielle Einheit“ aus.

      Die aristotelische Naturphilosophie versteht das materielle Seiende im Sinne des Hylemorphismus. Jedes Seiende ist „zusammengesetzt“ aus „Materie“ und „Form“. Es gibt keine Materie ohne Form und keine Form ohne Materie. Für Platon steht die Idee über dem Materiellen; für Aristoteles hingegen besteht die Form nur in Materie und nicht außerhalb ihrer. Materie und Form bestehen nicht jeweils an und für sich, sondern nur in ihrer gegenseitigen Einheit. Die Beziehung zwischen Materie und Form kann verstanden werden als die Beziehung zwischen Potenz und Akt. Materie ist Potenz für eine Form; durch die Form ist etwas nicht bloß in Potenz, sondern in actu. Jedes physikalische Seiende, obwohl Akt, ist potenziell etwas anderes. Wo es einen Übergang von Potenz in Akt gibt, gibt es Veränderung. Veränderung ist der Übergang von dem, was potenziell ist, in den Akt.

      Materie und Form sind zwei der vier „Ursachen“ oder Prinzipien (archai), die nach Aristoteles ein physikalisches Seiendes als solches umfassend erklären. Als seine vier Ursachen nennt er die Materialursache, die Formursache, die Wirkursache und die Zweckursache. Die Materialursache ist das, aus dem ein Seiendes ist, die Formursache das, was ein Seiendes ist, die Wirkursache das, durch das ein Seiendes ist, und die Zweckursache das, für das oder um dessentwillen ein Seiendes ist. Als Übergang von Potenz in Akt ist Veränderung die Verwirklichung einer inneren Finalität oder Tendenz des fraglichen Seienden. Ein physikalisches Seiendes in actu ist etwas Bestimmtes, aber in Potenz etwas anderes; Veränderung ist eben die Verwirklichung der inneren Tendenz des fraglichen Seienden zum Akt dessen, was es in Potenz ist. In der Regel ist ein bestimmtes physikalisches Seiendes kraft seiner Form die Potenz zum Akt verschiedener anderer Seiender, aber nicht alles Vorstellbaren. Durch die Form ist die Potenz für etwas anderes begrenzt. In der physikalischen Welt sind sowohl Substanzen als auch Akzidenzien der Veränderung unterworfen.

      Der Zweck eines Lebewesens, d.h. das, wozu es kraft seiner inneren Finalität tendiert, besteht in seinem eigenen Sein bzw. Wohlsein – das Wohlsein ist nichts anderes als die volle Entfaltung des Seins – und in der Existenz der Spezies, zu der das fragliche Lebewesen gehört. Bei Lebewesen fallen Formursache und Zweckursache zusammen; die Form eines Lebewesens ist sein Zweck. Der Zweck des menschlichen Daseins ist die volle Entfaltung des Menschseins22. Analoges kann vom Dasein von Tieren und Pflanzen gesagt werden. Für Aristoteles ist die volle Entwicklung des Menschseins die Entwicklung des Menschen als eines vernünftigen Wesens, d.h. die Betrachtung der Wahrheit oder des göttlichen Seins bzw. das Leben in der polis („politischen Gemeinschaft“). Das Seinsstreben kann verstanden werden als das Streben nach Teilhabe am Sein selbst, also am Göttlichen; es ist der „unbewegte Beweger“, der sich unter heutigen christlichen Theologen geringer Beliebtheit erfreut.

      Im Falle eines zusammengesetzten Seienden, das nichtsdestotrotz eine substantielle Einheit ist, ist das Ganze dessen, was das Seiende ist, seine Form und seiner Teile Zweck. Das ist offensichtlich der Fall bei einem Organismus. Seine verschiedenen Organe dienen seinem Sein. Ihre Bedeutung für den Organismus als solchen erklärt ihr Sein und ihr Funktionieren. Das Prinzip des Lebens eines Lebewesens ist die Seele. Sie ist die Form und der Zweck (der Akt) des Leibes qua Materie (Potenz). Seele und Leib können nicht voneinander getrennt werden. Es gibt sie nicht an und für sich. Als das Ende des Lebewesens ist der Tod das Ende sowohl der Seele als auch des Leibes. Wie jedes andere physikalische Seiende sind die Überreste des Hingeschiedenen als eine Einheit von Materie und Form zu denken, doch haben wir es nicht länger mit einem (menschlichen) Leib und einer (menschlichen) Seele zu tun, da es den Menschen, der als Einheit von Leib und Seele existiert, nicht länger gibt. Da es drei Arten von Lebewesen – Pflanzen, Tiere und Menschen – gibt, gibt es drei Arten von Seele: die vegetative, die tierische und die menschliche Seele. Die erste zeichnet

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