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Vier Pilger - ein Ziel. Christian Rutishauser
Читать онлайн.Название Vier Pilger - ein Ziel
Год выпуска 0
isbn 9783429062170
Автор произведения Christian Rutishauser
Жанр Религия: прочее
Издательство Bookwire
Wallfahren heißt für mich: Heimat zurücklassen
Dem vielverkauften Buch über seine Wallfahrt gab Hape Kerkeling den Titel „Ich bin dann mal weg“. Weg-Sein ist ein Stichwort, Fortgehen die Voraussetzung dazu. Wallfahren heißt zunächst fortgehen, die Familie für diese Zeit zurücklassen, die meisten Bekannten nicht mehr sehen, kaum einen Kontakt mit ihnen haben. In dieser Zeit verlasse ich die Arbeit. Die Freuden und Sorgen des Arbeitsplatzes und der Bekannten nehme ich ins Gebet mit, aber ich kann dort nicht mehr intervenieren. Ich ziehe in die Fremde und werde selber ein Fremder – für alle Menschen auf dem Weg. Ich bin (fast) überall Ausländer. Wie werde ich als Ausländer, als Fremder wahrgenommen, behandelt und – hoffentlich – aufgenommen – oder abgewiesen? Aber auch mir sind die Leute unterwegs unbekannt. Wie gehe ich auf sie zu?
Ich bin dankbar, dass wir als kleine Gruppe unterwegs sind. Zugleich bin ich lange Strecken allein. Ich setze mich der Heimatlosigkeit aus. Meist weiß ich nicht, wo ich am Abend schlafen werde. Es braucht Kraft, dieses Ausgesetzt-Sein auszuhalten. Jeden Tag bin ich auf die Hilfe von mir völlig fremden Menschen angewiesen. Es kostet mich Überwindung, ihre Hilfe anzunehmen, weil vieles nicht mit Geld zu begleichen ist. Zugleich kommen mir immer wieder Gedanken an zu Hause, die mich beschäftigen. Wie es da wohl geht, besonders meiner Mutter, die alt und schon gebrechlich ist? Wie läuft es in der Umgebung meiner Arbeitsstelle, wo andere dankenswerterweise viele meiner Verpflichtungen übernommen haben? Nur sporadisch bekomme ich darauf eine Antwort. Heimat zurücklassen – Wallfahren tut auch weh. Es ist ein echter Abschied, mindestens auf Zeit. (fm)
Verbundenheit
Eine besonders schöne Geschichte der Verbundenheit erlebe ich mit meinem Bruder Christoph. Als wir Geschwister uns vor dem Lospilgern zum traditionellen Geschwistertreffen versammeln und auch ein Stück Weg miteinander gehen, trägt er einen Hut, den er in allen Tönen lobt. Er gibt ihn in der Runde herum und bittet Franz, der diesen Tag mit uns verbringt, ihn mal aufzusetzen. Der Hut passt Franz wie angegossen. Christoph fragt Franz, ob er den Hut als Geschenk annehmen würde, damit so etwas von ihm mit auf den Weg nach Jerusalem gehen könne. Franz nimmt das Geschenk gerne an. Ein guter Hut ist ein sehr wichtiges Detail für jeden Pilger. Gut behutet, ist man nämlich auch gut behütet. Nach dem Geschwistertreffen meldet sich bei mir eine kleine Eifersucht. Ich möchte auch einen Hut von meinem Bruder bekommen. Als ich ihm diesen Wunsch mitteile, entscheidet er sich, allen vier Pilgern einen Hut zu schenken.
Wenige Tage vor dem endgültigen Abschied treffe ich Christoph nochmals. Er erwähnt beiläufig, dass er mit mir einen Code vereinbaren wolle für den Fall, dass ich in eine Notsituation gerate. Ich könnte ihm dann das Codewort schicken und er würde sich dafür einsetzen, mich zu retten. Ich denke zunächst, dass er einen Witz macht. Aber nein. Er meint es ernst. Unser Codewort heißt: Vergissmeinnicht. Ich bin sehr berührt von dieser Zuwendung, von diesem konkreten Zeichen der Verbundenheit. Tatsächlich schaltet sich Christoph über SMS und Mail intensiv ein, als es ein paar Monate später darum geht, ob wir durch Syrien weiterpilgern sollen oder nicht. Er versorgt uns mit Artikeln aus der NZZ, nimmt Kontakt mit Nahostkorrespondenten auf, um ihre Meinung zu hören, er drückt seine Sorge aus und zeigt mir durch alles hindurch, wie sehr er mich liebt.
Verbundenheit erleben wir mit unzähligen Menschen weit über Familie und Freundeskreis hinaus. Wir spüren, dass wir mit unserem Weg etwas wagen und tun, das viele motiviert, auf ihre Weise mitzugehen. Einige drücken das durch ihre spürbare Präsenz über den Blog aus. Andere nehmen sich ein eigenes Projekt vor für die Zeit unseres Pilgerns. Wieder andere stoßen zufällig auf unsere Geschichte und nehmen über den Blog Kontakt auf.
Meine Schwester Barbara hat ihre Verbundenheit in einem berührenden Text für viele andere auf den Punkt gebracht. (ha)
Ich gehe auch nach Jerusalem
Nicht richtig, nicht wirklich
Und trotzdem gehe ich mit
Lebe ich mit
Ich werde weinen, wenn ihr geht
Ich werde bei euch sein im Gebet
An euch denken jeden Tag
Ich werde mich fragen, wie es euch geht
… Euer Weg spannt ein Friedensnetz in der Welt
Alle, die an euch denken, verstärken das Netz
Geben Kraft und vertrauen darauf
Euer Weg macht Sinn im Zeitenlauf
Das Ziel, jetzt noch weit weg,
Ist heute nicht wichtig
Wichtig ist der Weg
… Ich werde weinen, wenn ihr wiederkommt
Vor Freude über das Wiedersehen
Mein Herz wird überlaufen
Das weiß ich jetzt schon
Ich gehe auch nach Jerusalem
Nicht richtig, nicht wirklich
Und doch gehe ich mit
Lebe ich mit
Barbara Jäger-Aepli
Familienbande
Sie spielen und ziehen, sie engen ein und geben Halt, die Familienbande. Sie sind ein Geflecht, das mich durch mein Leben trägt. Ja, das sind sie wirklich. Während des Pilgerns ist mir das immer wieder bewusst geworden, ich bin Tochter und Schwester und Erstgeborene. Immer war ich mehr oder weniger konform, tat, was man tut als Älteste. Jetzt aber breche ich aus, gehe weg, tue etwas Eigenes – und ich werde gelassen, mit Segen und Liebe. Die Familie Rüthemann ist sich vertraut, wir wissen voneinander, treffen uns regelmäßig und sind gesprächig. Aber noch nie habe ich mit meiner Familie so nahe, ehrliche, berührende Mails ausgetauscht wie während der Pilgerschaft. Wir nehmen uns wirklich Zeit, einander vom jeweiligen Leben zu erzählen, werfen Fragen auf, lassen Anteil nehmen, reden von früher und brauchen Rat. Immer erleben wir das sichere Aufscheinen der Liebe zwischen uns. So erinnere ich mich zum Beispiel ganz genau an den Ort, wo wir gerade waren, an die Menschen, die am gleichen Tisch saßen, an das Getränk vor mir, als eine so wunderbar berührende Mail meiner Schwester ankam.
Eine besonders große Überraschung erlebe ich in Istanbul. Auf meinem Nateldisplay erscheint die Nachricht meines Bruders: Was machst du heute Abend? Ich antworte, erzähle dies und das. Plötzlich lese ich mit großen Augen: Lust auf ein Glas Wein? Ich bin in zwei Stunden bei dir! Was?! Kilian besucht mich mitten auf dem Weg nach Jerusalem. Und mitten auf dem Weg werde ich hineingenommen in die tragenden Familienbande. Wie schön, für ein paar Stunden einfach Schwester zu sein, an gemeinsame Jahre anzuknüpfen, zu erkennen, wir sind beide „groß“ geworden, stehen auf demselben Boden, mit derselben Erziehung. Wir können kritisch zurückschauen, brauchen keine Angst zu haben vor Verlust, sehen, wie wir trotz der Unterschiedlichkeit in unseren Berufen mit Ähnlichem herausgefordert sind.
Für meine Eltern gehört mehrmals täglich der Klick auf den Blog zum Alltag. Sie leiden mit, freuen sich, beten intensiv für uns, interessieren sich, nehmen Anteil und ich weiß jetzt schon, sie werden es vermissen, dass sie später nicht mehr