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Verblendung, Volksglaube und Ethos. Bernhard Dieckmann
Читать онлайн.Название Verblendung, Volksglaube und Ethos
Год выпуска 0
isbn 9783429061814
Автор произведения Bernhard Dieckmann
Жанр Документальная литература
Серия Fuldaer Hochschulschriften
Издательство Bookwire
Betrachtet man neben diesen kritischen Beiträgen die weitere Literatur zum „Tännling“,6 so wird dieser Text oft in größeren Zusammenhängen nur nebenbei behandelt; eine Passage wird herausgegriffen und, ohne den „Tännling“ im Ganzen in den Blick zu nehmen, zum Teil einfühlsam und treffend interpretiert. Aber nicht selten sind diese Interpretationen auch unzureichend oder irreführend, weil die Passage isoliert, nicht im Kontext der ganzen Erzählung betrachtet wird. Die Deutungen spiegeln eher allgemeine Vorurteile oder freie Assoziationen der Autoren. Einige Arbeiten konzentrieren sich auf den „Tännling“ und legen eine Deutung vor, die betont ein Moment hervorhebt – etwa Adelskritik oder frühes ökologisches Bewusstsein. Das ist oft zutreffend, aber sie haben doch nur ein Nebenmotiv ausgewählt. Zwar weisen sie damit auf wichtige Aspekte hin, aber sie heben diese zu stark hervor. Nach dem eigentlichen Anliegen des „Tännling“ wird nicht gefragt, vermutlich deshalb, weil man das zentrale Handlungsmoment, das Drama der Beziehung von Hanna und Hanns, für banal hält und deshalb nach Aspekten der Erzählung sucht, die ihr doch noch künstlerisches Gewicht und aktuelle Bedeutung geben.
Wenn man die Handlung des „Tännling“ referiert, mag einem die Zunge stocken, weil sie positiv formuliert, so schlicht, negativ akzentuiert, so trivial ist. Doch achtet der Leser auf ihre erzählerischen Mittel, auf die vielfältigen Verweise und Akzentuierungen, die sparsamen, oft verdeckten Andeutungen, so zeigt sich ein komplexes Netz von Beziehungen, die die Figuren unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchten und die Handlung kommentieren. Die Art des Erzählens nimmt dem Inhalt seine Trivialität und gibt der so simplen Geschichte Bedeutsamkeit. Dann wird der Leser die Verblendung der Jagdgesellschaft durchschauen und Hanns auf seinem Weg zur „Erscheinung“7 am beschriebenen Tännling folgen. Walter Höllerer hat das „verschweigende Andeuten“ als ein Charakteristikum von Stifters Erzählen bezeichnet.8 Im „Tännling“ wird das in besonderer Weise zugespitzt. Wenn man die vielen Andeutungen des Textes aufspürt und ihnen nachgeht, wird sich zeigen, dass die enge Verbindung von Lebensführung, Ethik, Religion und Natur im Zentrum des „Tännling“ steht. Damit wird nicht behauptet, dass diese Studie eine erschöpfende Interpretation dieser Novelle leistet, kann doch jede Interpretation einen Text nur perspektivisch in den Blick nehmen. Zuerst soll nun das Geflecht der Andeutungen beachtet werden, in dem die einzelnen Figuren und Motive der Erzählung stehen, um so einen Zugang zu ihrer Intention zu finden.
Dieser Interpretationsansatz bestimmt den Aufbau der Studie: Als erster Zugang zur Intention der Erzählung werden in Teil 1 Schlüsselszenen von ihrem Ende und Anfang analysiert, die die beiden Protagonisten Hanna und Hanns charakterisieren. Auch werden die knappen Aussagen zu ihrer Herkunft und Umwelt zusammengestellt. Die Teile 2 bis 5 wenden sich Hanna und dem Jagdfest zu, also der Krise, die Hannas Untreue und ihren Aufstieg in die Welt der Herren auslöst. Um die Reaktion von Hanns geht es in Teil 6. Seine Entscheidung ist aus der Dreiecksbeziehung von menschlicher Freiheit, Volksglaube bzw. Religion und Wald bzw. Natur zu verstehen; das ist Gegenstand der Teile 7 bis 11. Der letzte Teil 12 reflektiert abschließend über den Zusammenhang von Inhalt und Form im „Tännling“.
Die vorliegende Studie konzentriert sich auf die zweite, die Buchfassung der Erzählung, die 1847/48 erarbeitet wurde und 1850 erschienen ist; die erste, die Journalfassung von 1845, wird nur ausnahmsweise herangezogen, wenn im Vergleich beider Fassungen aus Einfügungen und Änderungen spezifische Intentionen der Buchfassung zu erschließen sind.9 Auf andere Werke Stifters wird nur soweit Bezug genommen, als es für das Verständnis der Erzählung hilfreich ist.
1. Der Rahmen: Hanna und Hanns – Ehrgeiz und Dienen
Zusammen mit Guido sind Hanna und Hanns die einzigen Personen, die im Text namentlich genannt werden.10 Dazu werden je einmal Namen von Hannas Gefährtinnen (393,33–394,8) und von Jagdgenossen Guidos bzw. ihrer Diener (422,8–22) angeführt und die beiden so in soziale Zusammenhänge gestellt. Hanns hat zwar auch Gefährten, seine Arbeitskameraden, aber ihre Namen werden nicht genannt. Die Namensgleichheit Hanna/Hanns11 ist Hinweis, dass sie die Hauptfiguren der Erzählung sind. Um zu verstehen, wie sich im Scheitern ihrer Beziehung die Problematik ihrer Lebenseinstellung zeigt und entscheidet, ist es geraten, sich zuerst des Rahmens der Erzählung zu vergewissern, ihres Ausgangspunktes wie ihres Ergebnisses.
Für das Ergebnis hat Stifter am Ende der Erzählung ein einfaches Bild gefunden: Das Zusammentreffen Hannas mit Hanns, als sie „wieder einmal“ (431,33) ihre Heimat besucht. Sie wird in einer Kutsche gefahren und trifft unterwegs auf Hanns mit seinen (Pflege-)Kindern. In der Journalfassung wird bei diesem Zusammentreffen Hannas Reichtum und Unglück der Armut und dem kräftigen Leben – wenn nicht dem Glück – von Hanns gegenübergestellt: Hanna sitzt bleich und blass, „ein erloschenes Lichtlein“ in ihrer Kutsche (J 279,28). Hanns steht mit den sechs Kindern, für die allein er sorgt, am Weg; zwei Kinder zog er in einem „Wägelchen mit einem Dächlein darüber“ (J 279,31). Die Gesichter der Kinder sind „wie blühende Rosen“ (J 280,3). Die Buchfassung formuliert zurückhaltender. Es heißt nur noch, dass Hanna „bleich“ in ihrem Wagen sitzt (432,4–5).12 Hanns sorgt nur noch für drei Kinder – die seiner Schwester.13 „Er hatte sich an ein mit Leinwand überspanntes Wägelchen gespannt, in dem er die drei Kinder eben in seinen Holzschlag führte.“ (432,7–9) Dass er sie durch eine Leinwand vor Sonne und Regen schützt, macht augenfällig, wie liebevoll sich Hanns um sie sorgt. Hanna erkennt ihn nicht – wohl nicht allein aus Desinteresse: Sein Angesicht hat Furchen (432,7). Hanna schafft es nur, aus ihrem Reichtum ein belangloses, erniedrigendes Almosen abzugeben;14 sie will „dem armen Manne eine Wohlthat erweisen“ (432,11–12) und schenkt ihm einen Taler. Da der Weg in die Wälder, wo Hanns arbeitet, von Pichlern über Pernek ging (397,14–16), Hanna „auf dem Wege zwischen Pichlern und Pernek“ fuhr (432,1–2) und Hanns mit dem Wagen „auf dem Wege“ stand (432,7), kann man davon ausgehen, dass Hannas Kutsche Hanns mit seinem Wägelchen überholen wollte und er zur Seite treten musste. Das würde das Almosen Hannas weiter motivieren: Sie dankt dem armen Mann, dass er ihr Platz gemacht hat.
Aber Hanna wirft ihm das Geldstück nicht zu, sondern „aus ihrem Wagen auf die Erde“ (432,11). Hanns dagegen erkennt sie, er geht schon gebückt, weil er den Wagen mit den Kindern zieht; nun muss er sich noch tiefer bücken, um das Geld aufzuheben15 – ein Bild dafür, wie demütig und gelassen er inzwischen seine soziale Rolle akzeptiert. Es wird noch erzählt, dass er das Geldstück fassen ließ und als Votivgabe in der Wallfahrtskirche aufhing – vermutlich aus Dankbarkeit, dass ihn die schmerzhafte Jungfrau vor einem Mord bewahrt hat. Die Gegenüberstellung der beiden Wagen ist zu beachten: hier die Kutsche Hannas, dort das ärmliche „Wägelchen“ von Hanns. Hanna wird herrschaftlich gefahren; Hanns hat sich wie ein Zugpferd eingespannt, um seine Kinder zu ziehen. Hanna wird als Herrin bedient, Hanns dagegen dient, lebt in der Fürsorge für andere.16
Wenden wir uns dem Ausgangspunkt der Erzählung zu, so zeigt er zwei junge Leute, die beide ehrgeizig sind. Das erste Ereignis, das von Hanna erzählt wird, ist ihr Erstbeichttag. Ihre Gefährtinnen waren in feinen Kleidern erschienen, und ihre Haare waren gepudert, „damit sie schön wären, und in der festlich weißen Farbe da stünden. Nur Hanna’s Haare waren dunkel geblieben, weil ihre Mutter keinen Puder zu kaufen vermochte“ (392,25–27). Die anderen Mädchen trugen Kleider mit Reifröcken, Hannas Kleid dagegen war „grob“ (392,22), und die Mutter hatte „Puffchen“ (392,29) an das Unterkleid genäht, „daß das darüber angelegte Rökchen doch ein wenig