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in meinem Fall, als Akteur, dienen solche Ereignisse dazu, den Charakter zu formen und eine mentale Stärke hervorzubringen. Dank meiner Jugend trauerte ich der Vergangenheit nicht nach, denn was ich bis dahin erlebt hatte, besaß keine wesentliche Bedeutung; es gab nichts zu bereuen. Vielmehr schien sich eine neue Zeit vor uns zu eröffnen, im Moment war es vor allem eine Erleichterung, die wir alle empfanden, da wir endlich von den deutschen Truppen befreit waren, die sich nun zum größten Teil an der russischen Front befanden und die letzten Kämpfe erwarteten. Es lag nun bei mir, mich auf die vor mir liegende Zeit vorzubereiten und eine bessere Zukunft zu erhoffen, ohne erahnen zu können, was sie mir bringen mochte. Es sind nicht allein die Katastrophen, welche die Zeiten beherrschen, es sind auch die Menschen, die ihr Schicksal gestalten, ihres Glückes Schmiede sind. Jedes Individuum muss ein Ziel verfolgen, und die Hoffnung beibehalten, sein Glück so lange wie möglich genießen zu können. Um nicht in diesem Sinne zu handeln, muss man Defätist sein - dies ist die beste Art und Weise, es zu verlieren; das Errungene zunichte zu machen.

      Wozu sollten wir zerstören, was wir sorgfältig aufgebaut haben, und zugleich die vergangene Zeit auslöschen? Es ergibt keinen Sinn, denn die Vergangenheit ist Teil unserer Erinnerung, die bewahrt werden muss. Es kann heilsam sein, auf die Vergangenheit zu rekurrieren, ohne dass daraus eine Psychose entstehen muss - vielmehr lassen sich daraus Ressourcen schöpfen, die uns helfen, mit der Lebenszeit und mit der Zeit des Genusses und der Lebensfreude sorgsam umzugehen.

      I

      Die Zeit, die ich gern noch einmal erleben würde, war also eine zunächst düstere Epoche, und man konnte nicht behaupten, dass Heiterkeit und gute Stimmung in der Stadt herrschten, in der es zahlreiche Frauen und Männer gab, von denen man wenig oder gar keine Kenntnis hatte, der Missmut hatte sich in zahlreichen verlassenen Haushalten ausgebreitet, überall, wo ein oder mehrere Familienmitglieder fehlten. Das gemeinsame Essen, das die Familien am Sonntagstisch vereint hatte, wurde immer seltener, einige hatten nicht einmal etwas, was sie auf den Tisch bringen konnten. Die Menschen begnügten sich mit einem kleinen Ausflug in die Stadt, wo ihnen oftmals die Eintönigkeit der Uniformen begegnete, und in einer so kleinen Stadt merkt man besonders die Enge, die Tuchfühlung, die nicht angenehm wirkt, wenn sie von einer Art ist, an die man sich nicht ohne Weiteres gewöhnen kann. Jung wie wir waren, Mädchen und Jungen, hatten wir keinerlei Skrupel, man ignorierte diese Fremden, behielt sie aber dennoch im Auge. Einige Male mussten wir nämlich eingreifen, um ein Mädchen von einer höchst unangenehmen Begleitung zu befreien, jedenfalls aus unserer Sicht. Ich muss bemerken, dass die jungen Mädchen unserer Stadt zum größten Teil keinen Gefallen an einer Kollaboration fanden. Wir waren stolz auf sie wie auch auf uns selbst, da wir uns verteidigt hatten. Tatsächlich war eine Gruppe von Jungen, die sich nicht ungeschickt anstellten, in der Lage, sogar einen bewaffneten Chleu abzuschrecken.4 Wir bildeten eine beachtliche Clique von etwa zehn Jungen zwischen 18 und 25 Jahren, wenn sich die Mädchen hinzugesellten, kamen wir leicht auf 20 Personen, die nicht unbemerkt blieben, sogar wenn wir gar nicht vollzählig waren. Der Geist dieser Gruppe war angenehm; unsere Devise lautete Solidarität, Zusammenhalt, Freundschaft. Allabendlich fand sich mindestens ein halbes Dutzend zusammen, zweifellos nicht immer dieselben, wir liefen auf dem schönen, mit großen Platanen umgebenen Vorplatz, auf der Esplanade, auf und ab, um Pläne zu schmieden und mehr oder weniger erlaubte Streiche auszuhecken. Unser Interesse an allem, was verboten war, bedeutete eine Art von Rebellion gegenüber der Besatzungsmacht. Wenn man einem Offizier oder Kommandanten nicht gehorchte, was wir nie taten, wurde dies mit einem Tag Arbeit geahndet. Aber es machte uns nichts aus, einige Stunden im feindlichen Lager zu verbringen; wir beobachteten alles, denn man konnte nie wissen, wofür dies einmal dienlich sein würde. Aber es gab auch andere Vergnügungen, wir mussten unsere Jugend genießen, wir fanden, dass wir das Recht dazu hatten, und wir hätten es nicht ertragen, daran gehindert zu werden. Wir alle fühlten uns frei, ungeachtet der Umstände.

      Diese Freiheit erhielt übrigens ihre volle Bedeutung an einem sonnigen Tag im Spätsommer des Jahres 1944. Gegen meine Gewohnheiten überquerte ich eines Morgens den Kai, um mich zu meiner Arbeit in die Stadt zu begeben. Ich war überrascht, diesen Ort, der gewöhnlich belebt war, menschenleer vorzufinden. Einige Boote lagen noch am Ufer, aber der größte Teil der Flotte, mitsamt Fischern und Netzen, hatte bereits den Teich erreicht, während nur noch zwei oder drei Männer ein Floß mit Fässern beluden. Ich bemerkte plötzlich, dass alle Häuser, die bisher von der Truppe jenseits des Rheins bewohnt wurden, ihre Läden geschlossen hatten. Als ich einen der Arbeiter fragte, erhielt ich die Antwort, dass die „Mieter“ am frühen Morgen mitsamt Waffen und Gepäck aufgebrochen seien. Wenig später wurde mir ihre Abfahrt bestätigt, die sicherlich im Rahmen des offiziellen Abzugs der deutschen Armee geschehen war, die sich nun auf dem Weg in den Osten befand.5

      Es ist überflüssig zu betonen, dass den gesamten Tag lang und vor allem nachts in der Stadt eine einzige Euphorie herrschte. Die Einwohner trauten ihren Augen so wenig, dass einige von ihnen die gesamte Nacht schlaflos blieben, um sicher zu gehen, dass keine anderen fridolins an ihre Stelle rückten: Tatsächlich hatten wir derartige Manöver seit dem Beginn der Besatzung erlebt. Aber dies war nicht der Fall - die Befreiung war vollständig, sie war endgültig! Wir hatten das Glück wiedergefunden! Endlich ein kleines Stück Glück! Bei der Arbeit sprachen wir beinahe den ganzen Morgen über nichts anderes, danach gingen wir aus, denn ein solches Ereignis musste begossen werden! Wir waren nicht die einzigen im Café an der Esplanade, draußen auf dem Platz standen kleine Gruppen hier und dort, deren Gesprächsthema leicht zu erraten war. Gegen 18.00 Uhr traf ich mich wie gewohnt mit den Freunden zu unseren allabendlichen Gesprächen, und in dem Moment begriffen wir, dass dieses Außergewöhnliche, schier Unglaubliche wirklich geschehen war: die Befreiung. Wir wanderten schließlich wie Schlafwandler, geradeaus, vor uns lagen große, geöffnete Tore und Türen, sie waren tatsächlich geöffnet, wir traten ein und unterhielten uns mit den Menschen, die wir Jugendlichen kaum kannten und zu denen wir gewöhnlich keinen Kontakt hatten, da sie aus einer anderen Generation stammten als wir, wir lachten und weinten gemeinsam, überwältigt von einer Freude, die uns alle mitriss, denn wir erlebten gerade, so schien es, den Übergang von einem Zeitalter in ein anderes.

      Dennoch blitzte, beim Anblick des alten Kiosks, das unseren Platz in Mèze belebte, in uns das Bild dieser ausländischen uniformierten Musiker auf, die einem sehr spärlichen Publikum Lieder ihres Landes präsentierten. Ebenso erinnerten wir uns allzu gut an diesen schwerfälligen Volkscharakter, den sie repräsentierten, ebenso wie uns das Geräusch eines Flugzeugmotors fieberhaft den Himmel absuchen ließ, in Erinnerung an das schrille Kreischen und Donnern der feindlichen oder alliierten Bombenflugzeuge. Man kann nicht behaupten, dass wir nicht durch die Kriegsjahre geprägt wurden. Auch die freche Unbekümmertheit der Jugend bietet keinen Schutz dagegen; selbst wenn sie es nicht zeigen will, so zieht sie daraus doch Lehren der Demut. Zweifellos fügt sie sich schneller in das Ganze ein, denn der Durst nach Leben ist glücklicherweise immer gegenwärtig. Obwohl wir noch nicht unserem Hunger entsprechend essen konnten, hatten wir nicht den Appetit auf die Annehmlichkeiten des Lebens verloren, das wir alle - die Mädchen ebenso wie die Jungen - bis zur Neige ausschöpfen wollten.

      Wir organisierten Ausflüge zu Fuß oder mit dem Fahrrad in die ländliche Umgebung, jetzt fanden wir sie noch schöner, da wir uns in Frieden bewegen und wie junge Wilde in den ungemähten Wiesen herumtollen konnten. Wir hatten unsere geschützte Stelle am Strand wiedergefunden, am Rande des Étang de Thau, wo das Wasser nicht mehr von den Schmarotzerfischen, die wir vielsagend Fritz nannten, beschmutzt war, die aus der Ostsee stammten. Der Sommer ging zu Ende und damit auch für einige von uns die Ferien. Die meisten von uns blieben am Ort, ich fuhr nach Saint-Girons ins Ariège, um meine Eltern wiederzusehen, die sich vor einigen Monaten mit meinem Bruder Marcel und meiner Schwester Simone dorthin geflüchtet hatten. Wir waren sehr glücklich, wieder vereint zu sein, sicherlich, aber - leider! - nur für eine kurze Zeit. Ich musste meine Arbeit wieder aufnehmen und hatte auch das Bedürfnis, meine Kameraden wieder zu treffen. Die Clique, wie wir unsere Gruppe nannten, war gezwungen, sich aufgrund der Beschäftigungen einiger von uns ein wenig aufzulösen. Die einen begannen ihr Studium, andere unterrichteten an Grundschulen, andere blieben vor Ort und darunter noch genügend Mädchen, mit denen wir eine glückliche Zeit verbrachten.

      II

      Trotz allem fühlte

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