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gefunden, in dem wir jetzt leben.

      - Das ist ziemlich traurig, Barbara, was Sie erlebt haben. So jung seinen Vater zu verlieren, das ist grausam... Die Art, wie sie sich ausdrückte und der Klang ihrer Stimme bewirkten, dass ich stark berührt war.

      - Aber ich habe den Eindruck, sagte ich, dass Sie sehr mutig sind. Ich wünsche Ihnen, dass Sie Ihr Studium bald wieder aufnehmen können.

      - Wie freundlich von Ihnen, ich wollte so bald wie möglich weiterstudieren. Ja, ich gehe nach Montpellier, wenn der passende Moment gekommen ist. Wissen Sie, mir hat es an dem Tag, als wir einander vorgestellt wurden, sehr gefallen, wie Sie mich mit dem Prévert-Zitat begrüßt haben. Ich habe nicht reagiert, weil ich so schlechte Erinnerungen an Brest habe, die mich so erschreckt haben, diese furchtbaren Bombenangriffe, aber das ändert nichts daran, dass ich Prévert sehr mag – vor allem sein Gedicht Rappelle-toi, Barbara. Ich glaube, ich konnte auch deswegen nicht antworten, weil Sie mich so bewegt haben – ich war so verlegen! Aber von Ihnen, Raoul, wenn ich Ihren Namen richtig behalten habe, von Ihnen weiß ich noch gar nichts. Sie wirken auf mich wie jemand, der nicht viele Sorgen hat – aber vielleicht täusche ich mich?

      - Ein wenig ist es so, tatsächlich versuche ich, die Sorgen zu ignorieren und nicht zu sehr an die Zukunft zu denken. Ich lebe von Tag zu Tag, das scheint mir in dieser Zeit, unter diesen Umständen, eine gute Formel zu sein. Niemand weiß, was der morgige Tag bringt, daher begnüge ich mich mit dem Nötigsten. In meiner Situation ist es das Wichtigste, zu überleben, und um das zu erreichen, kann ich mich nur auf mich selbst verlassen. Ich bin sozusagen Halbwaise, seitdem meine Eltern mit meinem Bruder und meiner Schwester ins Ariège geflüchtet sind, woher meine Mutter stammt. Wir mussten unser Haus den deutschen Besatzern überlassen; sie haben aus strategischen Gründen alle Einwohner der Hafengegend evakuiert. Sie werden sicher bemerkt haben, dass die Häuser alle besetzt sind. In diesem Haus hat meine Wiege gestanden, ich bewache es, ohne mich ihm nähern zu können, aber ich mache gute Miene zum bösen Spiel. Man wird es uns eines Tages zurückgeben. Es ist wie ein Stich ins Herz, der uns aber nicht umbringt. Es gibt Schlimmeres, nicht wahr? Das Haus werden wir irgendwann zurückbekommen, aber Ihren Vater, den gibt Ihnen niemand wieder…

      - Sie sind wirklich ein „homme de coeur“, so sensibel, emotional und großherzig, ich glaube, da irre ich mich nicht. Ich will nicht indiskret sein, aber wie… wovon leben Sie?

      - Anfang 1944 habe ich eine provisorische Arbeit in einem Büro gefunden, seitdem habe ich immerhin ein Dach über dem Kopf und ausreichend zu essen. Mir geht es besser als einem Großteil der Menschen, die sich nicht erlauben können, auf dem Schwarzmarkt einzukaufen. Jeder hat seine großen und kleinen Sorgen zu tragen… Aber seien wir optimistisch, es wird alles besser werden. Nichts hindert uns daran zu träumen, oder?

      - Ja, träumen ist immer ein Glücksmoment, lassen wir ihn uns nicht nehmen!, stimmte Barbara zu. - Jetzt haben wir uns etwas besser kennengelernt, und wenn Sie erlauben, finde ich, dass wir uns duzen sollten, wie wir es in unserer Clique gewöhnt sind.

      - Natürlich, gerne möchte ich Anschluss finden, ich kenne ja hier sonst niemanden. Deine Freunde scheinen mir genauso sympathisch wie du zu sein. Bei euch werde ich mich bestimmt wohl fühlen!

      - Das Kompliment gebe ich dir gern zurück, Barbara, du bist ja zweifellos ein schickes, tolles Mädchen. Ich bin glücklich, dass du mir bei der richtigen Gelegenheit deinen Schirm angeboten hast, das war so romantisch, es hat mir einen sehr angenehmen Moment mir dir eingebracht! Ich hoffe, dass es davon weitere geben wird.

      Das hoffe ich auch, antwortete sie. Aber leider müssen wir uns jetzt verabschieden. – Du wirst zu spät zu deinem Seminar kommen, stellte ich fest, was mich betrifft, habe ich keine Eile. – Ich würde dich gern bei Gelegenheit wiedersehen, Raoul. – Ganz meinerseits, du brauchst nur gegen 18. 00 Uhr am Platz vorbeizukommen, da wirst du immer jemanden aus unserer Gruppe antreffen. Falls du irgendetwas brauchst, kannst du getrost den einen oder anderen fragen. Das ist Freundschaft! Hier hast du meine Adresse. Ich notierte sie auf ein Blatt aus meinem Kalender und reichte es ihr, mitsamt dem Datum unserer Begegnung: 6. Oktober 1944.

      - Danke dir, Raoul, ich werde diesen Moment nicht vergessen. Als ich den zarten Kuss endlich realisierte, den sie auf meiner Wange hinterlassen hatte, war sie bereits um die Straßenecke verschwunden. Die Sonne kam gerade zum Vorschein, der Tag fing gut an.

      IV

      Schon war eine Woche verflossen. Den Sonntag nutzte ich, um einen Freund in der Nähe von Montpellier zu besuchen. Er studierte im zweiten Jahr Jura und gab mir die Materialien zu einigen Seminaren, was mich bei meinen autodidaktischen Vorbereitungen unterstützte. Es war mir nicht möglich, eine sichere Beschäftigung zu bekommen und an den Vorlesungen der rechtswissenschaftlichen Fakultät teilzunehmen.

      Das Wetter war schön, ich fuhr mit dem Fahrrad, um das Geld für den Bus zu sparen und zugleich, um mich ein wenig zu trainieren, zumal ich weniger Fußball spielte. Ich musste mich überwinden, da mir das Fahrradfahren allein nicht allzu sehr gefiel. Viel lieber fuhr ich mit der Clique durch die uns umgebende Landschaft. Das bereitete uns allen Vergnügen, zumal der kleine romantische Ort einiges an Charme zu bieten hatte und den Mädchen viel Anlass zum Lachen und fröhlichem Gekreische gab. Ganze Tage verbrachten wir dort, denn manchmal picknickten wir auch. Zuweilen kam es vor, dass wir während der Badesaison gut dreißig Kilometer am Strand von Sète entlang radelten, oder vom Étang de Thau bis Agde oder Marseillan. Das Fahrrad hatte seine Bezeichnung Petite Reine, kleine Königin, durchaus verdient. In dieser Zeit kannte ich noch keinen Autobesitzer, Autos waren prinzipiell denjenigen vorbehalten, die von Berufs wegen darauf angewiesen waren. Sie mussten ihre Fahrten aufgrund der Rationierung der Benzinvorräte sehr begrenzen. Viele Fahrzeuge besaßen einen Gasmotor, einen Apparat, der also festen Brennstoff in Gas umwandelte. Daher verbrachten wir unsere freien Tage auf gesunde Weise, auf dem Fahrrad, mit Schwimmen und anderen „Disziplinen“ wie Fußball und Tischtennis, was mich betraf.

      Bei meiner Rückkehr fand ich zwei Briefe vor, einer war von Syl, einer von Thérèse. Erstere berichtete mir von ihrem Zeitplan, der aufgrund des Semesterbeginns überfüllt war, sowie von allem, was sie erledigen musste, Bücher und anderes Material, das es zu besorgen gab, was mich stutzig machte. Sie würde am kommenden Wochenende nach Mèze zurückkehren. Sie konnte es kaum erwarten, mich wiederzusehen, um mir ihre ersten Eindrücke vom Studium zu berichten. Thérèse kündigte mir an, dass sie sich zwei Tage frei nehmen würde, konnte mir aber noch kein genaues Datum nennen. Und einige intimere Kleinigkeiten hatte sie mir geschrieben, die ich für mich behalte. Das Vertrauen und die Geduld wurden auf die Probe gestellt, aber daran war ich gewöhnt mit meinen engsten Freundinnen, obwohl ich zugeben musste, dass ich sie nach einer gewissen Zeit vermisste. Andererseits verhinderte dies den Gewöhnungseffekt und ließ mir Raum, um zu Hause zu lernen – schließlich musste ich meine Studien ernst nehmen. Es ist umso notwendiger, an die Zukunft zu denken, wenn man weiß, wie unwägbar die Gegenwart ist. So war es in meinem Fall; ich konnte auf keine Erbschaft hoffen, ich musste selbst das Werkzeug schmieden, das mir später erlauben würde, mir mein Leben so gut wie möglich einzurichten. Das vergaß ich manchmal zu bedenken. Zum Glück rief Syl mich von Zeit zu Zeit zur Räson und ermahnte mich, Thérèse ebenso, indem sie mir vorhielten: Glaub‘ nicht, dass du die Aufnahmeprüfung schaffst, wenn du weiter so faul bist wie in den letzten Wochen! Recht hatten sie, jedoch war ich nicht tatenlos, sondern setzte nur die falschen Prioritäten.

      Seit einigen Wochen wusste ich von meiner erfolgreichen Aufnahmeprüfung für die Finanzverwaltung und dass ich fatalerweise an einem beliebigen Ort in Frankreich eingestellt würde. Diese Nachricht warf einige Probleme auf, an die ich jetzt noch nicht denken wollte. Meine Freundinnen waren erschrocken, als ich hinzufügte, dass mich diese Aufnahmeprüfung nicht interessierte, indem ich ihnen eine Übungsarbeit zeigte. Sie glaubten, dass ich scherzte. Nachdem ich einige Tage allein verbracht hatte, um mich vorzubereiten, nahm ich wieder an dem abendlichen Ritual des gemeinsamen Hin-und Herlaufens auf der Esplanade teil. Die offenherzige Laure sprach mich vorwurfsvoll an:

      - Also mein Lieber, du hast dich ja ganz schön rar gemacht in der letzten Zeit, hast du zufällig andere Beschäftigungen?

      - Was weiß ich, erwiderte ich, niemand ist verpflichtet, jeden Tag hierher

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