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kannten uns, seit wir etwa zehn Jahre alt waren, wir spielten in der Nähe ihres Hauses Verstecken oder Fangen, oder wetteiferten, wer die meisten von jenen kleinen Krabben sammeln würde, die sich am Ufer in den Algen verfingen. Oft spielten wir mit ihrer Puppe, die sie ein wenig mit einer Stecknadel malträtierte, unter dem Vorwand, sie zu behandeln. Eines Tages hatte sie beim Spielen zu mir gesagt: Wenn ich groß bin, will ich Ärztin werden. Dann kann ich nämlich meinen Papa heilen, wenn er alt und müde ist. Wie stolz musste ihr Vater Olivier nun sein, wenn er daran dachte, dass seine Tochter bald Ärztin werden könnte! Er hatte sich sein Leben lang abgerackert und nahm auch noch heute, denn er war erst 49 Jahre alt, seine gesamten Kräfte und seinen Mut zusammen und brachte reiche Fischfänge mit nach Hause, um seiner Familie ein angenehmes Leben und seiner Tochter Sylvie das Studium zu ermöglichen. Als sie ihm nach dem Abitur ihre Absicht verkündete, dass sie das Medizinstudium anstreben würde, hatten sich seine Augen vor Staunen und vor Glück geweitet, er hatte seine Tochter in die Arme genommen und herumgewirbelt, wobei er sie mit Küssen und Freudentränen bedeckte. Einige Tage später nahmen sie Onkel Jules' guten alten Bus, um sich zur Einschreibung an die medizinische Fakultät nach Montpellier zu begeben. Olivier hatte diese Fahrt zum ersten Mal anlässlich von Sylvies Eintritt ins Lycée Henri IV unternommen, aber dies war etwas anderes, vor allem, wenn man zur Besichtigung der Orte eingeladen wurde. Beim Anblick dieser großen Auditorien traute dieser schlichte Mann seinen Augen nicht; dort würde sein Kind bald studieren, in diesem ehrwürdigen, riesigen Hörsaal mit seiner beeindruckenden Höhe - dies, sagte er sich, musste das Wunderwerk sein, von dem sein alter Freund Honoré nach dem Besuch eines Vortrags über die Pyramiden berichtet hatte. Welch ein emotionales Erlebnis für den braven Olivier! Auch ich war sehr bewegt, als Syl - dies war die vertrauliche Koseform, die ich ihr vor allem auch aus Bewunderung verliehen hatte - mich in ihre Entscheidung einweihte, sobald die Abiturnoten bekannt waren. Ich wusste, dass sie nicht scherzte, denn sie war in der Lage, lange und intensiv zu lernen, ich kannte ihre Willensstärke, ihre Hartnäckigkeit, ihre Belastbarkeit, alle Fähigkeiten, die ihr Vater ihr vererbt hatte. Ich konnte nicht anders als ihr zu applaudieren und sie zu beglückwünschen, sie küsste mich lange auf beide Wangen und ich gab ihr diesen Moment der Zärtlichkeit sogleich zurück. Wir waren gute und wahre Freunde, darüber hinaus gingen wir nicht, wir pflegten und kultivierten diese Freundschaft ohne irgendeinen Hintergedanken. Als die Umstände uns trennten, füllten wir die Leere aus, überbrückten sie mit einigen Zeilen, deren Hauptthema darin bestand, dem anderen ein wenig Zeit zu schenken. Sicher schrieben wir uns nicht täglich, zumal sie sonntags jede Woche oder vierzehntägig nach Hause kam.

      Aber auch nach diesen Ferien, wie jedes Mal, bemerkten wir die Distanz, die zwischen uns entstanden war: die lange Zeit, die wir nicht miteinander verbracht hatten, hatte sich wie etwas Fremdes zwischen uns geschoben. Es gab eine so starke Affinität, die aus unserer kindlichen Beziehung entstanden war, in einer Zeit, als wir uns in einer ständigen Gemeinschaft befanden, und die durch einen Mangel an Austausch und Kommunikation gefährdet war, auseinanderzubrechen. Wir hatten eine Menge an Gesprächsthemen, und nicht immer waren wir gleicher Meinung. Aber wir erreichten immer nahezu eine Synthese, die uns erlaubte, das Thema abzuschließen. Wenn wir auf Politik zu sprechen kamen, für die sie sich nicht besonders interessierte, aber dennoch eine bestimmte Sicht einnahm, und ich versuchte, sie von der meinigen zu überzeugen, antwortete sie mir, indem sie sie mir ihren Zeigefinger auf den Mund legte, dass ich warten solle, bis sie ihre Lektionen in diesem Fach absolviert hätte. Schließlich gab sie mir einen leichten Klaps auf die Wange, gefolgt von einem schelmischen Lächeln. Wenn wir über Literatur sprachen, hatte sie etwas, woran sie sich freuen konnte, sie las sehr viel mehr als ich in dieser Zeit, vor allem die Klassiker oder auch moderne Autoren, ich ging eklektischer vor, von Agatha bis Zola, der mich begeisterte. Sie war immer guter Laune, freute sich über die kleinsten Alltagsdinge und ich liebte sie deswegen über alles. Wenn ich ihr eine Blume schenkte, die ich an einem Feldrand gepflückt hatte, fiel sie mir um den Hals, wobei ihr Kuss eine Spur auf meiner Wange hinterließ. Es war eine Art, sich in aller Freundschaft zu lieben. Es mochte wie ein Spiel erscheinen, aber das war es nicht: Schließlich ist die Freundschaft ein höchst ernsthaftes und kostbares Gut, das durch einen leichtsinnigen Fehler für immer zerstört werden kann. Es ging uns gut, das war das Wichtigste und unsere Freundschaft reichte uns vollkommen aus. Unsere Freunde hatten fatalerweise immer geglaubt, dass es da noch etwas anderes oder noch mehr zwischen uns gab oder geben musste, wir selbst haben untereinander niemals die Tatsache angesprochen, dass diese Situation dergleichen vermuten ließ, dass sie sogar ein anderes Gefühl als das der Freundschaft hervorrufen konnte; dass Liebe oder sogar Abneigung entstehen konnten. Ein Außenstehender hätte nichts anderes wahrgenommen als ein gewöhnliches Paar, das dafür geschaffen war, sich zu verstehen und zu lieben, und es war tatsächlich so, außer dass wir uns nicht liebten wie Liebespaare. Syl war großartig, auch in ihrer äußeren Erscheinung - sie besaß die Anmut und den Körper einer Elfe. So gab es einige Anlässe, die die Eifersucht um uns herum entfachten. Dies bedeutete etwas wahrhaft Unangenehmes und Frustrierendes, was unsere Kommunikation mit fremden Mädchen und Jungen erschwerte, manchmal sogar mit denjenigen, die wir kannten. Trotzdem blieb unser gegenseitiges Vertrauen davon unberührt, was bewirkte, dass sich unsere gegenseitige Wertschätzung noch steigerte.

      Wir hatten uns die Frage noch nicht gestellt, ob diese Freundschaft der Zeit Widerstand leisten und sie überdauern würde. Sollte die Tatsache, dass wir Heteros, ein Mann und eine Frau waren, künftig ein Hindernis für die Fortsetzung dieser Art von Beziehung bedeuten? Man konnte nicht voraussehen, was geschehen würde. Letzteres war übrigens Gegenstand der Unterhaltungen zwischen Syl und mir, denn wir waren übereingekommen, nichts voreinander zu verheimlichen.

      Als Schülerin hatte Syl eine sehr enttäuschende Beziehung erlebt und bisher, soweit ich weiß, keinerlei intime Erfahrungen mit Jungen gehabt. Sie kannte meine früheren und jetzigen Abenteuer, die sie jedoch nicht zu stören schienen. Seit etwa zehn Jahren gedieh unsere Freundschaft, sie festigte sich schnell, besser ging es nicht. Es war nicht möglich, darüber hinauszugehen. Die Harmonie zwischen uns konnte eine gewisse Spannung nicht überschreiten, ohne Gefahr zu laufen, dass eine der Saiten, die sie hielt, zerbrach. Wir hatten mit unserem Gewissen vereinbart, dass wir uns an unsere Gewohnheit hielten. Man muss den Dingen ihren natürlichen Lauf lassen. Es gab keinerlei Grund, das Verhalten des anderen nicht zu respektieren, denn dies hätte bedeutet, dass sich der Schatten des Zweifels über unsere Aufrichtigkeit legte. Von Aufrichtigkeit zu sprechen, scheint mir unpassend, da man an der meinigen durchaus zweifeln konnte, und vor allem Sylvie, zumal ich es war, der unsere Freundschaft missachtet und verraten hatte für ein Liebesabenteuer mit einem Mädchen, das sogar einige Jahre älter war als ich. Ich muss sagen, dass keine von beiden den Eindruck machte, als würden sie mir diese Geschichte übelnehmen. Thérèse, meine damalige Freundin, hat Syl anlässlich eines Alarms kennengelernt, der einen Luftangriff ankündigte und der uns zwang, uns aus der Stadt zurückzuziehen. Dies war einer jener Momente, die dem Zufall geschuldet sind, dass die beiden einander sympathisch fanden. In der folgenden Zeit begegneten sie sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Beschäftigungen nur selten. Thérèse, 24 Jahre alt, war Kontrolleurin bei der Leitung der Post in Nîmes, was erklärt, weswegen unsere Begegnungen nur sporadisch erfolgten. An ihren freien Tagen, an drei oder vier Tagen im Monat, kehrte sie in ihre Geburtsstadt Mèze zurück. Auf diese Weise gelang es mir, meine Zeit der einen wie der anderen zu widmen, ohne Ärger heraufzubeschwören. Es geschah, dass Syl und ich manchmal zum Mittagessen bei Thérèses Eltern eingeladen wurden, umgekehrt ließen Letztere und ich uns zu den Astres einladen, was mir die Freude bereitete, einige Themen aus der Vergangenheit aufzugreifen. Dazu zählte unter anderem die Geschichte meines kleinen Cousins Raoul, der während des Ersten Weltkrieges 14/18 verschwunden war, und von dessen kurzem Leben ich in einer meiner früheren Schriften berichtet habe.

      Alles verhielt sich bestens, denn diese Situation änderte weder etwas an der Freundschaft, die mich mit Syl verband, noch beeinträchtigte sie meine Beziehung zu Thérèse. In Thérèses schönen Augen verlor ich mich wie in einem Meeresgrund. Für einen Moment schien ich wie entrückt, eingehüllt in eine Intimität, in der ich völlig aufging. Ich kam erst wieder zu mir, als ich den Druck ihrer Lippen auf den meinigen spürte. Wir verbrachten einen Teil der Nacht damit, uns zu lieben, jedes Mal, wenn sie mir einen ihrer freien Tage schenkte. Es war die Liebe, die diese unsere Beziehung bestimmte und welche die Freundschaft überstieg, die wir füreinander empfanden. Sie war vor allem

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