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silberne Klingeln des Fangzaunes. Ihre Lippen waren so schmal, dass sie fast aus dem Gesicht verschwanden. Es war nicht mehr sie selbst, die da lächelte. Sie war eine Figur, die dem, was war, gedankenverloren zuschaute. Das, was geschah, geschah ohne sie. Es waren Jungen, die auf der anderen Seite des Fangzaunes spielten. Sie machte sich zu dem, was sie meinte, für die, die sie nicht anblickten, sein zu müssen. Sie brauchte sich nicht zu zwingen. Es war einfach. Das Lächeln kam von selbst – von innen heraus. Das war sie – ein lächelndes Mädchen, das hinter dem Fangzaun stand, während Johannes mit anderen Jungen Fußball spielte, ein Mädchen, das zuschaute und auf den Boden schaute. Johannes. Durch ihn nahm sie teil. Auch an diesem Spiel. An diesem Fußballkonzert, das erklang, wenn der Ball ins Fangnetz einschlug. Der Bruder, in ihr, durch sie. Sie gehörte zu ihm, und er gehörte zu ihr. Er spielte. Er traf. Er schoss.

      Kuss und Kussi: immer noch. Die Namen verschwanden zuletzt.

      Johannes roch nach Gras und Erde. Sie atmete ihn ein.

      »Hey, Süße, knackiger Arsch.«

      Es lag nichts als Übermut in den Worten. Die Jungen lachten. Alle. Und im Mitlachen betrog Johannes sie. Er wurde ihr fremd. Er gehörte zu den anderen. Er spürte, wie er sich fremd wurde.

      Die Mutter sagte: »Steh aufrecht, Mädchen, sonst bekommst du einen Buckel.«

      Dass Miriam gebeugt sein wollte, damit ihr Rücken sie vor der Welt schützte, verstand er. Ihre Schultern drängten nach vorn. Wenn sie dann so gebeugt am Tisch saß, gab es zwischen den Schultern und den Knien einen Ort, der nur ihr gehörte. In den konnte sie sich, vom eigenen Körper umgeben, einschließen. Dorthin kam niemand außer ihr. Sie blickte nach unten. Immer schräg nach unten blickte sie. Sie traute dem Oben nicht.

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      Die Mutter betete weiterhin dafür, dass Miriam keine Hosen mehr anziehe.

      Wie konnte ihre Tochter solch eine Sünde begehen. Es gehörte sich nicht. Miriam sagte: »Soll ich die Einzige in der Klasse sein, die noch im Rock herumläuft?«

      Dass sie den Reißversschluss vorne auf- und zumachte, war das Allerschlimmste.

      Manchmal blickten die Bubenaugen hinüber auf die Mädchenseite. Spreitzest deine Beine für alle, die vorübergingen.

       Dein Schoß ist wie ein runder Becher, dem nimmer Getränk mangelt. Dein Leib ist wie ein Weizenhaufen, umsteckt mit Lilien.

      Das Dorf war ein Wunder der Schöpfung. Darin waren sich die Buben einig. GOtt wusste alles und kannte alles. Die Buben waren voll der Bewunderung für diesen SChöpfer, von dem alles, auch die Mädchen und das Hohe Lied, kam. Vor GOtt gab es keine Geheimnisse. Vor dem Pfarrer und dem Zahnarzt und dem Totengräber und den Eltern schon.

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      Manche Abende verbrachten sie zusammen. Da hörten sie Pachelbels Kanon, Albionis Adagio, Vivaldis Winterlargo, Händels Ankunft der Königin von Saba. Solo deo gloria. Johannes und Miriam saßen auf ihrem Bett und hörten Musik, die aus einer Welt kam, die nicht trennte. Er sog den Geruch nach Puder und Weichspüler, nach Apfeltee und Dispersionsfarbe ein in sich.

      Miriam fror. Sie war allein. Da war die Barockmusik mit ihrem sicheren Kontrapunkttakt, der alle Melodien möglich machte, das einzig Richtige. Es war eine gesegnete Welt. Brüderchen und Schwesterchen. Kuss und Kussi. Sie sangen: »Froh zu sein, bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König.« Sie sangen im Kanon. Sie berührten einander, wie es nur in Worten möglich war.

      Er sagte, wie so oft: »Du bist die schönste unter den Menschenkindern, voller Huld sind deine Lippen, wahrlich, GOtt hat dich gesegnet für ewig.«

      Sie war stark. Sie bereute nichts. Sie sagte: »Juden glauben nicht an das Leben nach dem Tod. Aber wie ist es bei Muslimen?«

      Die Zeit, die glaubte, wenn man alle Nebenflüsse des Neckars auswendig aufsagen könnte, bekäme man eine Eins, lag hinter ihnen. Sie waren für Neues bereit.

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      »Das Engelein aus Himmelreich«, nannten sie sie. Und »Kussi«. Kam sie von der Schule nach Hause, setzte sie sich ans Klavier. Sie spielte schottische Tänze, spielte White Sunday, spielte Jazziges, das aus den USA kam, dann Mendelssohn und Schumann und vielleicht noch Mozart und Beethoven. Es war eine Weltreise, die sie unternahm, wenn sie aus dem Gefängnis, das die Schule war, kam. »Kussi, das Engelein aus Himmelreich.« Das war sie. Sie wurde sich fremd in ihren Namen.

      Nachdem sie sich durch die Welt gespielt hatte, war sie bereit für Bach. Da, wo vorher ein Kampf war, war jetzt ein Heimkommen. Alles ging in einem großen Zuhause auf. In Pulsschlägen. In Enden und Anfängen. Es hätte keine größere Überwindung geben können als die, die Miriam zwischen Schule und Bach geschehen ließ. Von Osmose, Photosynthese, Weltraum und Cape Canaveral, die gelernt werden mussten, von Kussi und Engelein aus Himmelreich hin zu weichen Herzschlägen und Schöpfungen, die ihr geschahen.

      Manchmal, abends, spielte sie ein paar Takte und fragte ihn: »Weißt du, wer das ist?« Liszt, riet er, und Moreau Gottschalk. Es gab eine Nähe, wenn er einen Namen erriet. Bei Liszt die B-Moll Sonate – das zögerliche Anklopfen, das diese Musik war.

      Manchmal improvisierte sie. Dann konnte er ihr stundenlang zuhören. Es gab dann kein Moll oder Dur mehr. Es gab Herzschläge. Es gab Töne, die eine eigene Sprache waren. Es berührte ihn, wenn sie so spielte. Der Taumel. Der Schwindel. Das Hinaufgehobenwerden. Das Atemholen. Der Junge und das Mädchen. Im Atmen, im Hören. Alles war ein Jetzt. Ein Jetzt der Harmonien, die sich suchten und fanden. In Körpern. Im Atmen. Im Schweben. Hier war der Rhythmus, hier war das Schweben. Hier war der Herzschlag ein grenzenloses Dürfen. Sie spürten es. Jeder für sich. Und gemeinsam. Sie gehörten dazu. Sie gehörten zueinander. Sie gehörten zum großen Atmen im großen Rhythmus. Es war ein Hören, ein Schweben, ein Vorwärtstreiben. In der Musik gab es keine Mutter und keinen Vater; es gab keinen Bruder und keine Schwester; es gab nur ein Fühlen, ein Schweben und ein Zusammensein. Etwas Tiefes verband den Jungen und das Mädchen. Es verband sie miteinander und mit den anderen Menschen der Welt. Das spürten sie. Etwas Tiefes, das von allen Menschen kam, war in ihrem Spielen – in ihrem Atmen, in ihrem Hören, in ihren Herzschlägen. Sie war Teil von allem. Allein und mit den anderen. Getragen. Gehoben. Im Suchen. Im Finden. Im Fallen. Das Spielen, der Atem, das Jetzt – augenlos, mundlos, ohrenlos, sinnlos. Sie war Bruder und Schwester. Mit allen anderen. Vereint. Im Großen. Es war Liebe, in der Freude lag. Er spürte sie. In sich. Die Liebe. Sie war Junge. Sie war Mädchen. Die Seele war eins. Die Seele war groß. In den Tönen. Im Segen. Johannes und Miriam. Sie waren allein und mit den anderen. Sie waren Kinder. Sie waren Atem, zahlloser Atem. Es war ein eigenes Leben. In den Tönen, die durch sie gingen. Und sie aufhoben. In sich. In ihr. In ihm.

      Wenn sie spielte, fielen ihr die Haare über die Schulter. Dort lebten sie – in den Phantasien, in den Tokkaten, in den Liedern. Da spielten sie gemeinsam, wenn sie spielte. Sie im Spielen, er im Hören. Es waren die Bewegungen zweier Körper. Gebend und nehmend. Schenkend und empfangend. Tief atmend, tief schlagend, nahe und doch fern. Der heilige Hals der treibenden Töne.

      Sie spielte Brahms. Es-Dur. Es begann dunkel zu werden. Es gab einen Ländlerrhythmus. Es gab Dezimensprünge. Es gab ein Schluchzen. Und dann leuchtete alles doch noch einmal neu und traurig auf. Die Haare. Es war der Tanz der Kindheit, die am Vergehen war.

      Sie lächelte. Es war ein Lächeln, das sagte, ich wäre lieber Nacht. Sie stand auf. Es war Sommer, als sie so dastand, das Fenster hinter ihr offen, der Vorhang wehte. Gehen Alche. Arlorn.

       34

      Es war Frühling und roch nach Erde. Es war der erste Tag des Jahres, an dem es so roch – nach verletzter Erde. Würmer lagen nackt und wanden sich. Würmer lagen durchtrennt, und die zwei Enden bewegten sich. Der Spaten traf sie. Die Hacke flüsterte, wenn sie Erdklumpen zerschlug. Johannes schubste Miriam, nur weil er etwas tun musste und weil er der Mutter nichts

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