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wie sie redete. Es machte ihm Angst.

      Sie sagte: »Jauchzet, ihr lieben Gemeindeglieder, die ihr eure Nächstenliebe mit Löffeln gefressen habt, die ihr uns mit keinem Blick würdigt. Unser Anblick macht euch unwohl. Wir könnten euch anstecken mit unseren Augen, die ganz andere Dinge sehen als die, die ihr uns vorgaukeln wollt. Habt ihr die Angst gesehen? Habt ihr die Angst gesehen, die eurem Körper mit anderen Körpern nahekommt?«

      Danach vermied Johannes es, in Miriams Augen zu blicken. Sie hatten etwas Wildes an sich. Sie kümmerte sich nicht um die Gedanken des Dorfes. Er sagte: »Soll ich mich auch ein bisschen ritzen? Nur für dich?« Sie zuckte die Schulter. »Was du tust, ist deine Sache.«

      Am See gab es keine Häuser. Es gab es nur den Wind und die vom Wind ins Wasser gezeichneten Schemen. Seerosenblätter schaukelten, und Schilfrohre murmelten.

      Zuhause malte Miriam auf einmal eine grelle Landschaft – ein blutrotes Haus, feurige Wälder, Monsterrehe und ein von Schlangen umwachsenes Schloss. Sie sagte: »Ist das nicht toll, was der Papa heute wieder verzapft hat.«

      Johannes sagte: »›Der Mann ist nicht vom Weib, sondern das Weib vom Manne.‹«

      »Ja, genau so.«

      Johannes sagte: »›Der Mann ist nicht geschaffen um des Weibes willen, sondern das Weib um des Mannes willen.‹«

      Sie sagte: »Du triffst den Ton. Der passt zu dir.«

      Johannes sagte: »›Lasset eure Weiber schweigen in der Gemeinde. Es steht dem Weibe übel an, in der Gemeinde zu reden.‹«

      Johannes sagte: »›Die Weiber seien untertan ihren Männern.‹«

      Johannes sagte: »›Das Weib aber fürchte den Mann.‹«

      Der Vater hatte zugeschlagen. Ins Gesicht der Schwester. Das war jetzt rot. Auf der linken Seite. Denn der Vater war Rechtshänder.

      Miriam war in ihr Zimmer gerannt. Als Johannes anklopfte, malte sie. Das blutrote Haus. Zwei Monsterrehe. Es war, wie es war. Es war, wie es sein musste. So oder so. Dachte er. Was sie dachte, konnte er nicht ahnen. Nicht mehr. Alles war durcheinandergeraten. Rahel, Miriam, der Vater, der Schlag ins Gesicht.

       29

      In ihr war eine Tiefe. Das spürte er. Sie zwang sie, Dinge zu tun.

      Der Vater sprach mit GOtt. GOtt war der Vater. GOtt war die Liebe. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als MIch. Der Vater hätte sie auf den Altar gebunden. Der ist MEiner nicht wert. Das wussten sie. Wer Sohn und Tochter mehr liebt als MIch. So wie Abraham es mit Jakob tat. Der ist MEiner nicht wert. Daran dachten sie immer wieder. Alles hätte blutig ausgehen können. Der Vater war bereit, Johannes und Miriam auf den Altar zu fesseln und ihnen das Messer in die Kehle zu rammen. Der Vater hätte seine Prüfung bestanden. Er verstand es zu opfern.

      Miriam ging auf den Steg. Die Haare fielen ihr auf einmal über die Schultern. Sie summte Phantasien von Schumann. Da waren Mächte in ihr. Eine Macht gehörte ihr; das war sie; eine andere gehörte etwas Mächtigerem, das von außen kam und das ihr nicht gehörte, das aber trotzdem eine Macht in ihr war. Die andere Macht bestand aus Musik, bestand aus einem Gehen und Wiegen, bestand aus Wasser und Größe, bestand aus blutroten Häusern und Monsterrehen. Er liebte sie. Er liebte diese Miriam, wie er sie noch nie geliebt hatte. Er liebte ihren Körper, liebte ihren Hals und die Größe ihrer Bilder.

      Sie zog eine Zigarettenschachtel aus der Hosentasche. »Willst du auch eine?« Der heilige Mund, die heiligen Töne, die heiligen Worte.

      »Dummkopf«, hatte sie den Vater genannt. Also musste sie fühlen. Sie nannte ihn »beschränkt«. Also musste sie fühlen. Denn mit diesem Sie-Fühlen-Lassen zeigte der Vater ihr, wie sehr er sie liebte. Er konnte sie nicht verkommen lassen. Das Schlechtsein musste ihr ausgetrieben werden. In Liebe. »Ich treibe dir das schon noch aus.« Den falschen Willen. Das Böse. Um ihrer Rettung willen.

      Alles ging ineinander über – in ihr und in ihm. Sie zog an der Zigarette und ließ den Rauch in sich hineinsinken. Sie sagte: »Ich habe das Gefühl, dass ich auf einmal allein bin.«

      Der Vater war in ihr Zimmer gegangen, ohne anzuklopfen. »Lass uns gemeinsam beten.« Sie brüllte. »Ich bin keine Magd, nicht deine und auch keine Magd GOttes. Du willst, dass ich werde wie du. Sanftmütig, fromm und gehorsam. Mit dem Prügel in der Hand. Ich werde nicht wie du.« Sie rannte an die Zimmertür. Die war abgeschlossen. Der Schlüssel fehlte. Den hatte der Vater zu sich genommen. Aus Liebe. Vorsorglich. Fürsorglich. Der Vater litt, ihr zuliebe, IHm zuliebe. Sanftmütig wollte er sein. Aber er musste GOtt gehorchen. Selbst wenn es ihn schmerzte.

      Sie sagte: »Das Lamm Gottes.«

      Sie waren Fremde – vor sich und in sich. Miriam war Schneewittchen ohne Kuss. Johannes war das Reh ohne Wald. Johannes und Miriam.

      Sie träumte, sie sei eine Riesenschildkröte, so alt, dass sie Moos auf dem Rücken hatte. Sie versteckte sich unter einem Stein. Den Stein rollte der Vater weg. Der Vater schlug sie mit einem Stock auf die Nase. Sie sagte: »Warum bekomme ich immer eins auf die Schnauze?« Sie wurde immer dahin geschlagen, wo es ihr am meisten wehtat. Sie wollte in den nächsten Sumpf kriechen. Sich unter Wasser verstecken. Aber sie musste atmen. Sie wurde wieder auf die Nase geschlagen. Sie sagte: »Ist das nicht ein komischer Traum?«

      Die Mutter litt aus der Ferne mit. Sie ließ alles geschehen. Aus Gehorsam. Weil es richtig war. Sie sagte: »Wisst ihr, ein behindertes Kind habe ich nicht gewollt. Aber das Nächstschlimmste für mich wäre ein Kind mit roten Haaren gewesen. Und jetzt färbst du sie dir rot!«

      Die Seele war ein heißer Nebel. Sie gehörte IHm. Sie war Mensch und GOtt. Sie war unvorstellbare Nähe.

      »Sie ist eigentlich noch zu jung, um so etwas zu tun«, sagte der Psychologe in der Stadt. Sie ging jetzt einmal in der Woche zu ihm. Beim ersten Mal wartete Johannes im Wartezimmer. Der Psychologe sagte: »Das nächste Mal ohne ihn.« Er meinte Johannes. Rainer Manschitz-Eisele hieß der Psychologe in der Stadt. Ab jetzt durfte Miriam einmal in der Woche mit dem Bus in die Stadt fahren. Allein. Sie kam mit leeren Augen zurück.

      Sie trug ihre Haare achtlos, ließ sie sich zu Knoten verwachsen. Das war die Zeit der Herzschläge, die Bilder waren. Die Bilder akzeptierten das Schreckliche. Achtlos, bleich und immer wieder neu.

      Miriam blieb in ihrem Zimmer. Sie träumte. Johannes blieb in seinem Zimmer. Er machte Fußballtabellen. Miriams Zimmer war das kleine Zimmer, das früher der Abstellraum gewesen war. Ihr Zimmer hatte ein kleines Fenster, das nach Norden blickte. Sein Zimmer war das größere Zimmer, dessen Fenster nach Osten und Süden blickten. Dafür hatte ihr Zimmer ein eigenes kleines Waschbecken. Es war der Mutter wichtig, dass Miriam ein eigenes Waschbecken hatte. Mehr Waschbecken und weniger Licht.

       30

      Sie wusste, sie brauchte erst gar nicht zu fragen, ob sie mitspielen dürfe. Ein Mädchen durfte nicht mitspielen. Ein Mädchen hätte alles verdorben. Ein Mädchen hätte nicht kapiert, um was es ging.

      Sie stand hinter dem Fangzaun und schaute zu. Der Draht war zwischen ihr und ihnen. Da hatte sie sich hingestellt. Sie wollte nicht stören. Mit neugierigen Augen stand sie da und schaute, den Kopf gesenkt, zu. Sie bettelte nicht. Sie schaute ihnen zu, wie eine Besucherin in einem Museum der Führung einer anderen Gruppe zuschaut. Es war eine andere Welt, die sie vor sich sah. Sie würde nie zu dieser Welt gehören. Vielleicht war da eine Sehnsucht nach dieser anderen Welt. Sie wusste es selbst nicht. Sie schaute nur zu.

      »Verzieh dich.« »Verpiss dich.« Das hätte Johannes ihr zugerufen, wenn sie gefragt hätte, ob sie mitspielen dürfe. Sie war hübsch mit ihren kastanienbraunen Haaren, die sie zu Zöpfen geflochten hatte, mit ihren lebendigen Lippen, die gern lachten, mit ihren Augen, die eine Mischung aus hellbraun und hellgrün waren, mit ihrer Haut voller Sommersprossen. Make-up trug sie keines. Dem HErrn gefiel es nicht, wenn ein Mädchen eitel war. Hübsch war sie. Aber mitspielen durfte sie nicht.

      Sie schauten nicht zu ihr hin. Ablenken

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