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Ati und Angie und Evi und Uli und Lulu. Dass Miriam Kussi hieß, war seine schuld. Es blieben die Namen hängen, die die größte Peinlichkeit verursachten.

      Kuss und Kussi.

      Die Klassenlehrerin lachte. Und die Klassenlehrerin sang mit. Lange, rote Haare hatte sie. »Fettarsch«, war einer der Namen für sie, der im ersten Stock, nachdem die Mädchen und sie in den zweiten hinaufgestiegen waren, gesagt wurde. »Feuerwehr.« »Fettarsch.« »Ferkelfiedla.«

      In den Liedern, die sie sangen, bevor die Mädchen und die Lehrerin hinaufstiegen, »Licht aus jetzt!«, schliefen Mädchen. Sie schliefen so gut, dass sie, nachdem sie geschlafen hatten, schwanger waren.

      Die Jungen sangen: »Einst ging ich am Ufer der Donau entlang.« Alle Jungen waren ein Ich. »Ein schlafendes Mädchen im Grase ich fand.«

      Es kam der Refrain, den Mädchen und Jungen gemeinsam sangen: »O-oh, oh, oh-la-la-la.«

      Dann kamen die Mädchen an die Reihe: »Du schamloser Jüngling, was hast du gemacht? Du hast mich im Schlafe zur Mutter gemacht.« Die Mädchen waren auch alle zusammen ein Ich. Dass dieses Ich wach sein könnte, wenn es ums Mutterwerden ging, war unvorstellbar. Johannes blickte nicht hinüber zu Miriam. Sie saß auf der anderen Seite.

      »Du schamloser Jüngling, was hast du gemacht?«

      »O-oh, oh, oh-la-la-la.«

      Die Mädchen waren gar kein Ich. Sie waren ein Mich. Im Schlafe wurde das Mich zur Mutter gemacht. Am Wasser wurde das Mich zur Mutter gemacht.

      Er spürte ein Kitzeln, als er die Lieder sang. Es kitzelte, weil er jetzt zur Welt gehörte. Da sang er noch lauter. Solange er sang, passierte nichts. Solange er sang, konnte ihm die Sünde nichts anhaben. Solange er sang, kam er der großen Welt, der Welt, die außerhalb des Dorfes existierte, näher.

      Vor dem Haus wurde geraucht. Den Zigarettenrauch saugte Johannes in sich ein wie ein Stück Männlichkeit, von dem er ein Leben lang zehren wollte.

      »Kennst du den schon? ›Frau, ich kann dir nicht zusehen, wie schwer du arbeitest. Mach bitte die Küchentür zu.‹«

      »Der ist gut. Aber der auch: ›Was ist los, wenn die Frau in der Stube sitzt?‹ ›Dann ist die Leine zu lang.‹«

      »Und hör dir den an: ›Was ist los, wenn die Frau die Fernbedienung in der Hand hat?‹ ›Dann ist sie fehl am Platz.‹«

      Das Lachen und den Rauch saugte Johannes ein in sich.

      O Susanna, du hast am Arsch ’nen Leberfleck. Der Leberfleck muss weg.

      Sie sangen vom Lieschen, Lieschen, Lieschen, das ein bisschen, bisschen, bisschen kommen sollte – in den Keller, da ging es schneller, in die Scheuer, da war’s nicht teuer, in den Garten, da gab’s kein Warten, auf die Leiter, da ging es leichter, in das Gartenhaus, da zog man sich aus.

      Alles reimte sich. Alles konnte gegrölt werden. So wie früher, früher, früher. Auch da war die Melodie einfach. Ohne Hemd und ohne Höschen, ohne Gummiüberzieher.

      Es war das große ES. Alles war, wie es sein sollte. Und Kuss und Kussi gehörten dazu, weil sie dazugehören wollten. Die Welt war nicht nur ein Dorf. Die Welt war viel größer. Das erlebten sie jetzt.

      Und einmal war da nach dem Singen, bevor man dann, »Licht aus jetzt!«, hinaufging, das Mondnachtspiel, bei dem die anderen bestimmen durften, was das durchs Los bestimmte Liebespärchen auf der Parkbank im Mondschein tun sollte. »Ihr den Arm um die Schulter legen.« »Den Kopf von unten an seinen Nacken legen.« »Ihn von unten herauf mit Glubschaugen angucken.« »Er streicht ihr die Haare aus dem Gesicht und küsst sie auf die Stirn.«

      Miriam traf es zum Glück nie. Aber Johannes saß neben der lispelnden Angela, der Tochter des Briefträgers. Angela schaute ihn an. »Angela, sag mal süße Sahne«, dachte er. Aber das sagte er nicht. Er küsste sie auf die Stirn. Er spürte sie. Er spürte, wie ihr Herz klopfte. Er spürte, wie sie sich gern heranziehen ließ. Am nächsten Tag machten sie sogar einen Spaziergang zusammen. Ohne die anderen. In der Abendluft in den Bergen. Sie hielten sogar die Hände. Silbern waren die Härchen an ihrer Stirn. Das gefiel ihm. Und groß waren ihre Augen. Sie schauten sich lang an. Und sie spürten einander. Wie weich sie beide waren. Gern. Miteinander.

       27

      »Einmal und nie wieder«, sagte die Mutter. Sie betete dafür, dass Miriam keine Hosen mehr anziehe. Zuerst zog Miriam Hosen an, die auf der Seite auf und zu gemacht wurden. Elegant zog sie die Reißverschlüsse hoch. Aber dann zog sie sogar eine Hose an, die sich vorne öffnen ließ.

      Miriam spürte die Kälte der Gemeinde – die Gesichter mit den schrägen Mündern und den querliegenden Zähnen. Wo begann die Gemeinde? Begann sie in ihr? Begann sie da, wo alle auf IHn schauten, wie er schlafend unter seiner Dornenkrone über dem Altar hing? Begann sie im Leiden? Das Leiden war ein Segen. Das Leiden war die Gegenwart GOttes.

      Miriam wusste, dass Schmerzen empfinden zu dürfen, ein Liebesbeweis GOttes war. Es war eine gesegnete Welt, in der sie leben durften.

      Johannes spielte Fußball. Hier gab es Worte wie »geil«, »mega«, »Hammer« und »brutal«. Und im Spiel durfte Johannes andere schlagen wollen. Im Spiel spielte es keine Rolle, ob er aus Himmelreich oder aus dem Nachbardorf kam, das eine richtige Fußballmannschaft hatte. Johannes spielte fürs Nachbardorf. Zusammen wollten sie gewinnen. Zusammen wollten sie die Mannschaften schlagen, die von weiter weg kamen. Wenn Erdan an Ramadan nicht essen und trinken durfte, so durfte der Rössler Helmut während der Heuernte nicht spielen. Johannes wusste nicht einmal, ob Alpay Muslim oder Christ war. Das war egal. Wichtig war, dass man gewann.

      Und jedes Mal war es ein Aufatmen für Johannes, wenn er zu einem Auswärtsspiel noch weiter weg vom Dorf fahren durfte. Hinaus, dachte er. Hinauf, dachte er. Es riss ihn förmlich in die Höhe. Da war eine andere Welt, wenn sie aus dem Tal hinausfuhren. Die Welt war groß. Man konnte sie einatmen.

       28

      Am Moorsee auf dem Steg zog Rahel an der Zigarette, hielt den Rauch in ihren Lungen und ließ den Rauch in sich zu Stärke werden. Sie verstand, warum Indianer Friedenspfeifen rauchten. »Das ist eine ganz andere Intensität, so tief in dir«, sagte sie. Und sie sagte: »Soll er doch toben, der Alte.«

      Sie lebte an einem Abgrund. Sie musste an einem Abgrund leben, damit sie sich spürte. Ernte 23, Chanel und Jeans, die sie nicht wusch. Auf einmal waren ihre Haare hellrot gefärbt, und die Fingernägel waren schwarz. Sie legte sich lang auf den Steg. Nur das Atmen war noch da – und er, der sie beobachtete.

      In der Schule sagte ein Junge, der zwei Klassen über ihnen war: »Entweder du bringst sie heute Mittag ins Wäldchen oder es gibt morgen Klassenprügel.«

      Johannes wusste, was das Wäldchen hieß, wusste, was Klassenprügel hieß. Der Junge sagte nicht: »Du kommst heute Mittag ins Wäldchen und bringst sie mit.« Er sagte: »Du bringst sie heute Mittag ins Wäldchen.«

      Danach wich Johannes diesem Jungen und allen in dessen Klasse wochenlang aus. Zwei Tage lang ging er nicht in die Schule. Er war krank. Zahnpasta essen ging immer.

      Lauerten sie auch der Schwester auf, so wie sie Rahel auflauerten? Miriam erzählte nie etwas. Aber sie wurde ruhig. Sie lachte nicht mehr. Etwas war los mit ihr. Er spürte es.

      »Was ist los mit dir auf einmal?«

      »Nichts ist los mit mir. Was soll mit mir schon los sein?«

      Johannes ging mit Miriam an den See. Sie hörten den Wind, der mit den Schilfrohren spielte. Das Dorf lag hinter ihnen. Und hinter dem Dorf lag das Wäldchen. Der Steg war langweilig ohne den Zigarettenrauch. Miriams Gesicht war rundlich geworden. Sie hatte zugenommen.

      Sie lachte: »Meine Lippen, mein Bruder, lechzen nach dir. Ich suche das Rot in deinen Lippen.« Aber das Lachen passte nicht. Er war schockiert von ihrem Aussehen. Es war Frühling. Sie sagte: »Liebe, mein Bruder, ist eine Zeit, die außer sich ist.« Sie sagte: »Lass uns

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