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richten, was uns befähigt, unsere Füße zu spüren, während wir auf dem Pfad unseres Lebens wandern. Wir lassen uns auf uns selbst und andere ein und knüpfen eine authentischere Verbindung, mit mehr Reflektion und Rücksichtnahme. Das Leben wird umso stärker bereichert, je mehr wir uns der außerordentlichen Erfahrung des Seins, des Lebendigseins und des Lebens in diesem Moment bewusst werden.

      Über dieses reflektive Gewahrsein des Gewahrseins im gegenwärtigen Moment hinaus hat Achtsamkeit die folgenden Qualitäten, die ich meinen Patienten und Studenten so beschreibe: Wir nähern uns unserer Hier-und-Jetzt-Erfahrung mit Neugier, Offenheit, Akzeptanz und Liebe, kurz: mit COAL (curiosity, openness, acceptance, love; siehe Anhang II).

      Stellen Sie sich folgende Situation vor. Sagen wir, jemand stößt sich schlimm den Zeh an und spürt die Intensität des daraus resultierenden Schmerzes. Wenn man jetzt zu sich selbst sagt: „Was war ich für ein Idiot, dass ich mir den Zeh gestoßen habe!“, dann wird das erlebte mentale Leiden größer sein als der Schmerz, der von dem Zeh ausgeht. In jenem Fall ist man sich des Schmerzes bewusst, doch man ist nicht von der COAL-Denkweise erfüllt. In diesem Fall schafft das Gehirn de facto mehr Leiden, indem es die Intensität des Schmerzes durch die Selbstbeschuldigung verstärkt. Das ist der ganze Unterschied zwischen der Intensivierung des Elends einerseits und dem Spüren des Schmerzes, ohne zu leiden, andererseits.

      Die Essayistin, Naturforscherin und Dichterin Diane Ackerman hat auf unserem Mind and Moment-Treffen, auf dem sich Dichter, Praktizierende und Psychotherapeuten versammelt hatten, die Geschichte erzählt, wie sie in Japan einen Unfall hatte und fast gestorben wäre (siehe Anhang I zur Erklärung dieser und anderer Konferenzen und Organisationen zum Thema Achtsamkeit.) Sie war eine Klippe hinuntergeklettert, um einige seltene Vögel auf einer kleinen Insel zu untersuchen, und fiel hin, wobei sie sich mehrere Rippen brach, große Schmerzen erlitt und nach Atem rang. Ihre Beschreibung dieses Vorfalls (Ackerman, Kabat-Zinn, O’Donohue & Siegel 2006) zeigte, wie sie die Begegnung von Moment zu Moment mit Neugierde, Offenheit, Akzeptanz und Liebe anging. Diese geistige Haltung ermöglichte es ihr, aus diesem Ereignis zu lernen, die innere Stärke zu sammeln, die sie brauchte, um nicht nur den Unfall zu überleben, sondern durch denselben regelrecht aufzublühen.

      Diese Unterscheidung zwischen dem Gewahrsein mit COAL und dem einfachen Aufmerksamsein mit vorgefassten Ideen, die den Geist gefangen halten („Ich hätte mir den Fuß nicht stoßen sollen, ich bin so ungeschickt.“ –„Warum bin ich diese Klippe hinuntergefallen? Was ist mit mir los?“), ist der Unterschied, der unendlich viel ausmacht.

      Achtsames Gewahrsein zu kultivieren erfordert, dass wir uns des Gewahrseins gewahr werden und dass wir über dies hinaus in der Lage sind, zu bemerken, wann die vorgefassten Meinungen, die Ge- und Verbote „von oben herab“ uns ersticken und so davon abhalten, achtsam zu leben und gütig zu uns selbst zu sein. Der Begriff „von oben herab“ (top-down) bezieht sich auf die Art und Weise, in der unsere Erinnerungen, Glaubenssätze und Emotionen unser direktes Empfindung von Erfahrung „von unten herauf“ (bottom-up) prägen. Güte uns selbst gegenüber ist es, was uns die Stärke und Entschlossenheit verleiht, aus jenem Gefängnis „von oben herab“ auszubrechen und die Ereignisse des Lebens, seien sie nun geplant oder ungeplant, mit Neugierde, Offenheit, Akzeptanz und Liebe anzugehen.

      Forschungen im Bereich des achtsamen Gewahrseins zeigen, dass wir tatsächlich eine solche Liebe uns selbst gegenüber kultivieren können. Unsere Herangehensweise an die Achtsamkeit als Form gegenseitiger Einstimmung könnte ein Schlüssel dafür sein, wie das zu erreichen ist. Sieht man Achtsamkeit als eine Form gegenseitiger Einstimmung an, könnte es möglich sein, die Mechanismen zu enthüllen, durch die wir mithilfe der Achtsamkeitspraxis selbst unser bester Freund oder unsere beste Freundin werden könnten. Wir würden unseren besten Freund schließlich auch freundlich und gütig behandeln. Einstimmung steht im Zentrum liebevoller Beziehungen aller Art: derjenigen zwischen Eltern und Kind, zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Therapeut und Patient bzw. Klient, zwischen Geliebten, Freunden und nahen Berufskollegen.

      Mit dem achtsamen Gewahrsein, so können wir annehmen, tritt der Geist in einen Seinszustand ein, in dem die eigenen Hier-und-Jetzt-Erfahrungen unmittelbar gespürt werden, sie als das akzeptiert werden, was sie sind, und mit Güte und Respekt anerkannt werden. Das ist die Art von gegenseitiger Einstimmung, die Liebe fördert. Und diese gegenseitige Einstimmung, so glaube ich, ist es auch, die uns sehen hilft, wie achtsames Gewahrsein die Liebe uns selbst gegenüber fördern kann.

      Es ist nachgewiesen worden, dass zwischenmenschliche Beziehungen emotionale Langlebigkeit fördern und uns dabei helfen, Wohlbefinden und körperliche Gesundheit zu erlangen (Anderson & Anderson 2003). Ich gehe hier davon aus, dass das achtsame Gewahrsein eine Form der Beziehung zu einem selbst ist, eine innere Form der Einstimmung, die in ähnlicher Weise gesundheitsfördernd ist. Dies könnte der bisher noch unidentifizierte Mechanismus sein, durch den Achtsamkeit das Wohlbefinden fördert.

      Weil er die tiefe Bedeutung der Kraft der Achtsamkeit spürte, initiierte Jon Kabat-Zinn gegen Ende der siebziger Jahre ein Projekt zur Anwendung dieser uralten Ideen in einem modernen medizinischen Umfeld. Was als Inspiration während eines stillen Retreats begann, führte dazu, dass Kabat-Zinn an die medizinische Fakultät der Universität von Massachusetts herantrat, an der er lehrte. Er bat darum, Patienten aufnehmen zu dürfen, deren Situation sich durch konventionelle medizinische Interventionen nicht mehr verbessern ließ. Und er fragte sich auch, ob er irgendetwas zur Genesung derjenigen Patienten beitragen könne, die mit konventionellen Mitteln behandelt wurden. Die medizinische Fakultät, die froh war, einen Platz zu haben, an dem die Betroffenen hoffentlich etwas Erleichterung finden könnten, stimmte zu, und so wurde die Stress Reduction Clinic aus der Taufe gehoben und die „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ (Mindfulness-Based Stress Reduction, kurz MBSR) entwickelt (Kabat-Zinn 1990).

      Das MBSR-Programm brachte Menschen mit den unterschiedlichsten chronischen Krankheiten, von Rückenschmerzen bis hin zu Schuppenflechte, die uralte Praxis der Achtsamkeit nahe. Kabat-Zinn und seine Kollegen, einschließlich Richard Davidson von der Universität Wisconsin in Madison, waren letztlich in der Lage, nachzuweisen, dass das MBSR-Training dazu beitragen konnte, subjektives Leiden zu verringern, die Immunfunktionen zu verbessern und die Heilung zu beschleunigen sowie zwischenmenschliche Beziehungen und ein allgemeines Gefühl von Wohlbefinden zu fördern (Davidson et al. 2003).

      MBSR ist jetzt von Hunderten von Programmen auf der ganzen Welt übernommen worden, und die Forschung hat nachgewiesen, dass seine Anwendung physiologische, psychologische und zwischenmenschliche Verbesserungen bei einer Vielzahl von Patientenpopulationen herbeigeführt hat (Grossman et al. 2004).

      Angesichts der Tatsache, dass diese übereinstimmenden Ergebnisse so stabil sind, und angesichts des wachsenden Interesses an Praktiken des achtsamen Gewahrseins war es nicht weiter überraschend, dass sich auch meine eigene Disziplin der geistigen Gesundheit der Essenz der Achtsamkeit zuwandte und sie als Grundlage verwendete, um Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen anzusprechen.

      Achtsamkeitspraktiken haben zahlreiche psychotherapeutische Ansätze beeinflusst, wobei die neueren Forschungen signifikante Verbesserungen bei verschiedenen Erkrankungen zeigen, die sich in einer Verringerung der Symptome und der Verhinderung von Rückfällen äußern (Hayes, Follette & Linehan 1993; Hayes, Strosahl & Wilson, 1999; Linehan 1993; Marlatt & Gordon 1985; Parks, Anderson & Marlatt 2001). Achtsamkeit kann darüber hinaus mittels kognitiver Therapie Rückfälle bei chronischen Depressionen verhindern (Segal, Williams & Teasdale 2002). In ähnlicher Weise ist Achtsamkeit als essenzieller Bestandteil der Behandlung von Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen im Rahmen der dialektischen Verhaltenstherapie (Dialogical Behavior Therapy, kurz DBT) verwendet worden (Linehan 1993). Von Marlatt und seinen Kollegen (2001) ist Achtsamkeit eingesetzt worden, um Rückfälle bei Drogenabhängigen zu verhindern. Die Prinzipien der Achtsamkeit sind außerdem ein ganz wesentlicher Bestandteil bei der Anwendung der zeitgenössischen Verhaltensanalyse in der ACT-Therapie, die auf Akzeptanz und

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