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in den Kerl verguckt, was?»

      Gisela Wittenbeck wandte sich ab. Frau Groß hatte recht, aber sie wollte sich das nicht recht eingestehen. «Immer habe ich Pech mit den Männern. Uwe ist ein Betrüger, und mein Mann hat mich auch betrogen – mit unserer neuen Putzfrau, der Anita.» Sie hatte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. «Immer muss alles kaputtgehen!»

      Gerda Groß setzte sich neben sie, umarmte sie und begann mit ihrer Marlene-Dietrich-Stimme zu singen: «Wer wird denn weinen, wenn man auseinander geht, /Wenn an der nächsten Ecke schon ein Anderer steht …» Das schien erst einmal zu helfen. Die Pensionsinhaberin stand wieder auf und wandte sich zur Tür. «Ich muss jetzt noch schnell zu meiner Mutter ins Krankenhaus, und wenn ich wieder zurück bin, gehen wir zusammen ins Kino. In Ordnung?»

      «Ja.»

      «In der Küche steht noch etwas Schokoladenpudding, davon können Sie gerne essen.»

      Gisela Wittenbeck wartete noch, bis Gerda Groß die Pension verlassen hatte, dann ging sie in die Küche, um nach dem Pudding zu sehen. Der stand noch auf dem Gasherd, der vier Kochfelder hatte. Wenn sie jetzt alle Hähne aufdrehte und kein Streichholz an die Brenner hielte, dann … Sie brauchte sich nur bequem auf den Stuhl setzen und warten, bis der Tod sie von allen Qualen erlöste.

      Das Wintersemester 1964 / 65 hatte noch nicht begonnen, warf aber schon seine Schatten voraus. Peter Kappe hatte sich zu einem Vortrag über die Geschichte und Praxis der Gerichtsmedizin angemeldet, obwohl ihn der Zusatz mit Besuchen in der Pathologie eher abschreckte als anzog.

      Es mussten die Gene seines Vaters und vielleicht auch die seines Großonkels Hermann sein, aber die Rechtspsychologie faszinierte ihn immer mehr. Sie zerfiel in zwei Bereiche: die forensische Psychologie, die sich beispielsweise mit Gutachten bei Gerichtsverfahren beschäftigte, und die eigentliche Kriminalpsychologie, bei der es um die Entstehung von Kriminalität, um deren Aufdeckung und die Prävention dagegen ging, aber auch um die Behandlung von Straftätern.

      Um sein Wissen etwas zu erweitern, wollte sich Peter Kappe nun diesen Vortrag der Nachbardisziplin zur Geschichte und Praxis der Gerichtsmedizin anhören. Wer daran teilnehmen wollte, musste sich auf eine kleine innerstädtische Reise einstellen. Der theoretische Teil begann in der Hittorfstraße 18 in Dahlem, in einer Villa, die man dem Lehrstuhl für gerichtliche und soziale Medizin der Freien Universität Berlin überlassen hatte.

      Ein Doktor Klein begrüßte die rund zwanzig Zuhörer. «Ich heiße Sie in unseren heiligen Hallen herzlich willkommen! Die Gerichtsmedizin hat in Berlin eine lange Tradition. Gerichtsärztliche Tätigkeiten können wir bereits für das 17. Jahrhundert nachweisen. Später wurde das sogenannte Stadtphysicat gegründet. Die ersten forensisch-medizinischen Vorlesungen fanden ab 1724 am Collegium medico-chirurgicum statt. Besonderes Interesse fanden damals Schusswunden. Für die Charité wurde 1811 das erste Berliner Leichenschauhaus errichtet. Ein Neubau an der Hannoverschen Straße 6 wurde dann 1886 fertiggestellt. Hier befanden sich nicht nur das Institut für Staatsarzneikunde, sondern auch das polizeiliche Leichenschauhaus und das Leichenkommissariat. Da die Hannoversche Straße heute in Ost-Berlin liegt, führen wir West-Berliner Gerichtsmediziner gerichtlich angeordnete Leichenöffnungen vorzugsweise in der Pathologie des Krankenhauses Moabit durch. Im nächsten Jahr bekommen wir aber ein neues Polizeiliches Leichenschauhaus in der Invalidenstraße. Ich bitte Sie also, mit dem eigenen Ableben noch ein wenig zu warten, damit Sie es bei der Obduktion auch wirklich feudal haben. Ehe wir uns nun an den Obduktionstisch in Moabit begeben, schnell noch etwas über den Unterschied zwischen einem Pathologen und einem Gerichtsmediziner. Verwechseln Sie die beiden bloß nicht! Ein Gerichtsmediziner wird Ihnen das nie verzeihen. Der Pathologe arbeitet in einem Teilgebiet der Medizin, die sich mit krankhaften und abnormen Vorgängen und Zuständen im Körper sowie mit deren Ursachen beschäftigt, der Gerichtsmediziner beurteilt, auf welche Weise der Tod eines Menschen eingetreten ist, und untersucht hierfür den Körper auf äußere Anzeichen von Gewalteinwirkungen, prüft Organe oder Gefäße auf Veränderungen und analysiert auch Blut-, Haar-, Speichel- und Organproben.»

      Als Peter Kappe später den Sektionssaal im Krankenhaus Moabit betrat, wäre er um ein Haar umgekippt. Der Leichnam, der hier auf die Teilnehmer des Seminars wartete, war der eines Mannes von etwa sechzig Jahren. Der hatte schon einige Zeit in seiner Wohnung gelegen, bevor er gefunden worden war. Den Anblick des Toten hätte Peter Kappe noch ertragen können, so etwas kannte er ja aus Filmen – nicht aber den Geruch. Der war geradezu unerträglich. Peter Kappe lief zur Toilette, um sich zu übergeben. Als er sich wieder in die Nähe des Obduktionstisches wagte, war dem Gerichtsmediziner der Leichnam einer jüngeren Frau zur Untersuchung gebracht worden.

      «Ich richte mein Augenmerk zuerst nach Befunden an der Leiche, die auf Unfall, Suizid, eine strafbare Handlung oder sonstige Gewalteinwirkung hindeuten», begann der Gerichtsmediziner. «Dazu gehören Verletzungszeichen, ungewöhnliche Injektionsmale, Erstickungszeichen, zum Beispiel punktförmige Blutungen in den Bindehäuten, Strommarken, Zeichen von Vergiftungen und die besondere Farbe, Form oder Lage der Totenflecke oder der Hautdruckstellen. Von alledem kann ich hier nichts finden. In unserem Fall haben wir es ganz offenbar mit einer selbst herbeigeführten Vergiftung durch Kohlenmonoxid zu tun. Kohlenmonoxid besetzt im Körper die Bindungsstellen für den lebenswichtigen Sauerstoff. Die Symptome der Kohlenstoffmonoxid-Vergiftung entstehen also im weiteren Sinne durch einen Sauerstoffmangel. Bei schwersten Vergiftungen kommt es zum Schock, zur Bewusstlosigkeit und zum Tod durch Überhitzung und Lähmung des Gehirns. Nur selten tritt eine kirschrote Verfärbung der Haut auf. Hellrote Totenflecke können aber auch vom Kältetod herrühren. Um das zu klären, mache ich einen Schnitt in den Oberschenkel der Toten. Ist die Muskulatur hellrot, handelt es sich um eine Kohlenstoffmonoxid-Vergiftung, ist sie dunkelrot, um einen Kältetod. Um ganz sicher zu sein, ob eine tödliche Gasvergiftung vorliegt, lassen wir im Labor die Konzentration des Kohlenmonoxid-Hämoglobins im Leichenblut bestimmen. Bei einer Kohlenmonoxid-Intoxikation ist der Anteil des Carboxyhämoglobins am gesamten Hämoglobin stark erhöht …»

      Ludwig Wittenbeck sollte aus dem Krankenhaus entlassen werden. «Ruhen Sie sich aus, und genießen Sie die Natur!», hatte der Chefarzt bei der Verabschiedung gesagt, nachdem er in der Krankenakte gelesen hatte, dass sein Patient in Kladow wohnte.

      «Aber ich werde Kladow in Kürze verlassen und in die Kaubstraße ziehen, sozusagen in die West-Berliner Innenstadt. Gekauft ist das Haus schon, es muss aber noch renoviert und neu eingerichtet werden. Bisher habe ich da nicht viel mehr als ein Sofa, einen Tisch und ein paar Stühle stehen, aber in die Selbitzer Straße will ich nicht mehr zurück.»

      Eben noch hatte er den lebhaften Krankenhausalltag genossen, nun war er wieder mit einem monotonen Tagesablauf und dem Alleinsein konfrontiert. Er war müde. Plötzlich verspürte er unwillkürlich eine starke Sehnsucht nach seiner Ehefrau Gisela. Von seinem Neffen Siegfried hatte er inzwischen erfahren, dass sie in der Pension Groß in der Konstanzer Straße untergekommen war. Die Nummer fand er schnell im Telefonbuch. Ohne lange über das Für und Wider eines Anrufs nachzudenken, wählte er sie. Besetzt. Auch beim zweiten Mal hörte er nur das schnelle Tuten in der Leitung. Er fluchte. Der Drang, mit jemandem zu sprechen, war zu stark, als dass er den Hörer jetzt wieder aufgelegt hätte. So rief er bei seiner Firma an, denn die Nummer kannte er auswendig.

      «Pulmo Sanitatem Berlin, Hövelhoff. Guten Tag! Was kann ich für Sie tun?»

      «Guten Tag, Frau Hövelhoff. Wittenbeck hier. Bitte verbinden Sie mich mit Herrn Suthfeld.»

      «Schön, wieder von Ihnen zu hören, Chef. Haben Sie alles gut überstanden? Sind Sie wieder zu Hause?”

      «Ja, danke, es geht mir gut, und ich werde auch bald wieder ins Büro kommen. Sie können mich jetzt in der Kaubstraße erreichen. Moment mal …» Die neue Nummer hatte er noch nicht im Kopf, und es dauerte ein Weilchen, bis er sie ihr durchgegeben hatte. «Wenn Sie mich dann bitte durchstellen könnten …» Wittenbeck hatte keine Lust zu einer längeren Plauderei mit einer Angestellten, die eine graue Maus war und so gar nicht seinem Beuteschema entsprach.

      Endlich war sein Kompagnon in der Leitung, und auch der fragte ihn enervierenderweise nach seiner Gesundheit.

      «Du hast dich zu früh gefreut, Thomas, ich bin schon

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